„Mein Vater soll mich in die Kirche führen“

„Mein Vater soll mich in die Kirche führen“
Pastoralpsychologische Erwägungen zum Wunsch des Brautvater-Geleits
zur kirchlichen Trauung
Abschlussarbeit zur pastoralpsychologischen Weiterbildung
von
Pastorin Annemarie Pultke
Frankenberger Plan 4a
38640 Goslar
im Oktober 2007
Inhalt
1
Hinführung zum Wunsch
3
2
Wovon träumt die Braut?
3
3
Was denkt wohl die Pastorin?
4
4
Soziologische Aspekte
7
5
Historische Aspekte
8
6
Ritualtheoretische Aspekte
9
7
Praktisch-Theologische Aspekte
8
Ambivalenzen oder: Die Tränen der Braut
9
Tiefenpsychologische Aspekte
11
13
14
10
Meine pastorale Identität als Frau
17
11
Ambivalenztoleranz oder: Das Ja-Wort der Braut
18
12
Wie steht der Bräutigam dazu?
19
13
Was wünscht sich der Brautvater?
19
14
Und was empfindet die Mutter?
19
15
Das Finale: der Einzug
20
16
Fazit
21
Endnoten
22
2
Exposé:
Anhand eines Fallbeispiels (reflektierte Protokoll-Auszüge aus den Traugesprächen und
Begegnungen) soll folgenden Punkten nachgegangen werden:
Fragestellung:
 Ausgangspunkt ist der vermehrt geäußerte Wunsch nach dem Einzug Braut mit Vater und die Kritik daran seitens der Pastorinnen und Pastoren.
 Meine Frage ist: Was steckt hinter diesem Wunsch? Trifft die Kritik das Anliegen?
 Mein Anliegen ist eine pastoralpsychologische, verstehende Würdigung dieses
Wunsches (und Überlegungen für die Konsequenzen / rituelle Gestaltung /
Pastorinnenrolle)
Thesen:
Hinter dem auf den ersten Blick oberflächlich erscheinenden Anliegen („weil’s so schön ist“)
steckt mehr:




unbewusste Ambivalenzen (Autonomie vs. Abhängigkeit), Ängste bzw. Angstabwehr
der Wunsch nach einem Übergangsritual bzw. der Inszenierung der eigenen Lebensgeschichte
(Geleit) sowie eines verheißungsvollen Anfangs (Übergabe)
Inszenierung verdeckter Wünsche:
- Vater möge begehrenswerte Tochter/Braut bewundern und
ihr den väterlichen / elterlichen Segen mitgeben sowie
als triangulierender Dritter die Lösung von der Mutter erleichtern;
- Bräutigam möge Braut in der Ehe ebenso väterlich gut führen
Gottesbilder vom Vatergott und der Wunsch nach einem erfahrbaren „Segensraum“
Fazit / Ziel:
Als Pastoralpsychologin sich mit dieser Fragestellung zu befassen, macht Sinn im Hinblick
auf:





wahrnehmen, welche Ambivalenzen in das Ritual Brautvatergeleit eingetragen werden
besser wahrnehmen und verstehen, was der bewusste Wunsch an unbewussten Konflikten /
Ängsten / Wünschen birgt
wahrnehmen, welche Wünsche an das Ritual und an mich in der spezifischen Rolle als Pastorin
und damit an „die Kirche“ gehen
die eigene Rolle und das eigene Handeln reflektieren; zur Sprache bringen, was nur gefühlt wird
die Trauung bewusst gestalten als Antwort auf die Ängste und Wünsche
Aus pastoral-psychologischer Perspektive möchte ich mit dem Brautvatergeleit einen Aspekt
der Kasualpraxis betrachten, auch im Diskurs mit derzeitiger Praktischer Theologie und ihrer
Fragestellung:
„Gefragt ist eine Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, und zwar gerade der
Wahrnehmung vermeintlich trivialer Erscheinungen. In der genauen Wahrnehmung und in
ihrer Interpretation lösen sich Verlegenheiten nicht auf, aber sie geben ihren Sinn (oder
Hintersinn) zu erkennen.“1
Christian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh
2003, 124
1
3
1 - Hinführung zum Wunsch
Frühsommer in der Gemeinde, die Rosen am Kirchweg blühen, die alte Kirche auf dem Berg
steht offen für alle, die Glocken läuten, laden ein zur Hochzeit.
„Die kirchliche ist für uns erst die richtige Hochzeit“, sagt die Braut.
„Und mein Vater soll mich in die Kirche führen!“
Was ist das für ein Wunsch? Und was ist mein Wunsch mit der Arbeit?
Hohe Erwartungen und klare Vorstellungen sind mit dem Wunsch nach der persönlichen
Traumhochzeit verbunden. Vieles davon deckt sich nicht unbedingt mit den Vorstellungen der
Kirchenleute, weshalb die kirchliche Trauung von nicht wenigen als ein Kasus voller
Spannungen wahrgenommen wird.2
Ich vermute, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Inszenierung des Vater-TochterGeleits, der Hoffnung auf Rückhalt durch elterlichen Segen und den biblischen Bildern vom
Vatergott, der wie ein guter Hirte auf rechter Straße zum frischen Wasser führt.
Der Wunsch nach dem Brautvatergeleit bei der kirchlichen Trauung zeigt das Bedürfnis nach
einem Ritual für den Übergang in die Ehe. Dabei geht es, vor allem aus der Perspektive der
Frau, um Identitätsfragen in Bezug auf die Heirat und Loslösung von den Eltern.
Warum bevorzuge ich die Bezeichnung ‚Brautvatergeleit’ statt ‚Brautübergabe’?
Meist wird nur auf die Brautübergabe gesehen, mit dem kritischen Hinweis auf die
unverkennbare Analogie zur Aushändigung eines Gegenstands. Die Übergabe ist in meinem
Erleben jedoch nur ein Teilaspekt. Den jungen Frauen geht es nicht nur um die
Brautübergabe, sondern offensichtlich auch um die Begleitung durch ihren Vater in der
Kirche.
Die Entscheidung für einen Fall
Im Blick auf meine Trauungen stelle ich immer wieder fest, dass jeder Fall anders ist, dass die
verschiedenen Lebensgeschichten und Familienkonstellationen zur individuellen Behandlung
herausfordern, dass es aber auch ähnliche Muster gibt und eben denselben Wunsch nach einer
kirchlichen Trauung und nach dem Brautvatereinzug. Allerdings ist es unterschiedlich, von
wem eigentlich dieser Wunsch ursprünglich ausgeht; ich erlebe auch hier eine große Vielfalt
(Braut, Vater, Mutter, Bräutigam).
Und wie will ich vorgehen?
Ich werde im Ablauf der Begegnung folgen: ich nehme wahr und reflektiere, begegne und
phantasiere, denke nach und gestalte schließlich, was meine Aufgabe ist. Das heißt konkret:
Zuerst beschreibe ich meine Beziehungsaufnahme mit der Braut (2), daran schließt sich die
Reflexion meiner Reaktionen (3) und ein Orientierungslauf durch verschiedene theoretische
Aspekte: soziologische (4), historische (5), ritualtheoretische (6), theologische (7) an. Es folgt
ein ausführliches Wahrnehmen der Braut und ihrer ambivalenten Gefühle (8). Das führt zu
einer skizzenhaften Erörterung der Entwicklungslinien beim Mädchen aus
tiefenpsychologischer Perspektive um den Themenkomplex Loslösung und Individuation (9).
Daraus ergibt die Frage nach meiner pastoralen Identität als Frau (10). Wieder in Begegnung
nehme ich die Entscheidung der Braut in den Blick (11), ebenso die Positionen des
Bräutigams (12), des Vaters (13) und der Mutter (14). Den Abschluss, das Finale setze ich mit
der Gestaltung des Einzugs (15). 2 - Wovon träumt die Braut?
Der Fall: Seit drei Jahren wohnen sie zusammen, ein Jahr nun schon in ihrem
gemeinsamen, neuen Haus. Beide sind berufstätig, in sicheren Stellen. Jetzt nach
5 Jahren gemeinsamer Beziehung ist alles fertig zum Heiraten.
Fechtner spricht von „pastoralen Verlegenheiten“ bei der heutigen kirchlichen Trauung: Christian Fechtner,
Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh 2003, 122 ff.
2
4
Jetzt also sind sie bei mir im Amtszimmer zum Traugespräch.
Ich lasse sie ihre Geschichte erzählen. Und dann ihre Wünsche an die Hochzeit.
Es soll ihr ganz besonderer Tag werden, sagt sie, „davon habe ich schon als kleines
Mädchen geträumt: so ganz in Weiß; und die Glocken läuten, und mein Vater führt mich
zum Altar – und da erwartet mich dann mein Mann. Und dann das große Fest – eben der
schönste Tag meines Lebens: eine richtige Traumhochzeit.“ Wie die Prinzessin im
Märchen!, denke ich und erinnere mich an meine eigenen Mädchenträume. Auch darin ist
sie mir sympathisch nahe. Und sie will unbedingt auch kirchlich heiraten. Die
standesamtliche Hochzeit ist noch nicht die „richtige“ Hochzeit. Da fehlt was, „wenn man
nur so dahin geht und unterschreibt“. „Was fehlt?“ - „Naja – der Segen; und so das Ganze
drumherum eben: die Kirche“ – mit ihrer Hand beschreibt sie unwillkürlich einen Raum als
Bogen über ihrem Kopf.
Wir kommen im Gespräch zur Gestaltung der Trauung. Nach meiner Darstellung des
Ablaufs und Skizzierung der zu besprechenden liturgischen Teile wie Trauspruch,
Trauversprechen, Lieder, bringt sie sogleich ihren Wunsch zum Einzug ein: „Mein Vater
soll mich in die Kirche führen. Er freut sich natürlich schon.“ (Ihre Augen füllen sich mit
Tränen.)
Ich fasse zusammen:
Das Paar will heiraten, weil es für sie nun ‚an der Zeit ist’, eine Familie zu gründen. Wenn
schon heiraten, dann auch kirchlich, betont vor allem die Frau. Damit verbunden ist der
Wunsch nach einer persönlich gestalteten Traumhochzeit und dem Einzug der Braut mit
ihrem Vater. Ohne dass dieser näher begründet oder gerechtfertigt würde. Es scheint
selbstverständlich, dass die Pastorin auf diesen Wunsch eingeht. Fechtner spricht von CoInszenierungen, mit denen die Beteiligten an der ‚Aufführung’ mitwirken. Sie zielen darauf
ab, „das Ereignis zu einem spürbaren Erlebnis werden zu lassen: Es soll erinnerungsfähig
etwas geschehen und festlich zu sehen sein, weil in der täglichen Beziehung durch den
Trauakt nichts Greifbares passiert, insofern sich in ihr nichts verändert.“3
Im Traugespräch kommt von Seiten des Brautpaars zum einen der starke Wunsch nach Segen
zum Ausdruck: das ist dann die „richtige“ Trauung, bedeutungsvoller als der Akt auf dem
Standesamt4. Daneben kommen aber gleich auch die besonderen Gestaltungswünsche als
zentrale Anliegen zur Sprache. Erst an dritter Stelle – und häufig von der Pfarrerin selbst
eingebracht, stehen die Themen Trauspruch, Trauversprechen, Gemeindelieder und ähnliches,
das heißt die eigentliche Gottesdienstgestaltung.
3 - Was denkt wohl die Pastorin?
Brautleute sind vor dem ersten Traugespräch unsicher, was die Pastorin / der Pastor denkt und
erwartet, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten wird.5
Die Vehemenz, mit der Brautleute an dem Wunsch nach dem Brautvatergeleit festhalten,
sorgt immer wieder für Irritationen und Unverständnis unter uns Pfarrerinnen und Pfarrern6
und bewirkt entsprechend heftige Abwehrreaktionen.
3
Fechtner 2003, 139f.
siehe hierzu die Untersuchung von Rosemarie Nave-Herz, Die Hochzeit. Ihre heutige Sinnzuschreibung seitens
der Eheschließenden: eine empirisch-soziologische Studie. Würzburg, 1997; 69ff.
5
Nave-Herz stößt in ihren Interviews auf „Furcht einflößende“ Phantasien im Vorfeld; Überraschung darüber,
dass religiöser Dogmatismus fehlte, dass keine „Glaubenbekenntnis-Nachfragen“ gestellt wurden, dass sie
persönlich angesprochen und ihre Wünsche ernst genommen wurden (Nave-Herz, 1997, 61f).
6
Konrad Fischer, Brautübergabe. Ein Deutungsversuch, in: Pastoraltheologie 93/2004, 334-351. Fischer, 334,
346f, nimmt dieses Phänomen der „Energie“ und „Wucht“ zum Anlass seiner Überlegungen. Fechtner 2003, 135
geht humorvoll darauf ein und beschreibt die Verlegenheiten: „Wir sind theologisch darauf geeicht, im Blick auf
den Gottesdienst zu unterscheiden zwischen sog. Äußerlichkeiten und dem, worum es eigentlich geht. Allerdings
gehen die Unterscheidungen, die der kirchlich und theologisch instruierte Blick vornimmt, nicht immer überein
mit der Sicht der Beteiligten. Nach deren Lesart zählen zu den wichtigen Elementen des traugottesdienstlichen
Geschehens Dinge, die nach geltender praktisch-theologischer Lesart bestenfalls randständig erscheinen,
4
5
Im Folgenden skizziere ich zunächst die vielfältigen kritischen Reaktionen meiner
Kolleginnen und Kollegen auf dieses Thema, die mir nicht gänzlich fremd sind, um
anschließend einen eigenen Zugang zu beschreiben.
Kollegiale Reaktionen
„Was? Darüber willst du schreiben?!“ Und schon wird heftig diskutiert. Empört werden
Geschichten ausgetauscht von eigenen Erfahrungen mit längst zusammenlebenden
Elternpaaren, die als Brautleute den Wunsch vortragen. Gekränkt reagieren Kolleginnen,
wenn vorbildlich selbstbewusste Frauen den Vater bitten. Männliche Kollegen identifizieren
sich mit dem „armen“ Bräutigam da vorne. Die meisten machen ihre Bedenken im
Traugespräch deutlich, versuchen das Paar umzustimmen, manche verbitten sich den Wunsch.
Viele „erlauben“ das Vatergeleit nur bis zur Kirchentür, wo der Bräutigam sie erwartet.
Einige Kolleginnen beziehen die Mütter mit ein, die Brautmutter zusammen mit Vater und
Tochter, oder die Mutter des Bräutigams auf der anderen Seite. Von einem Kollegen hörte
ich, dass er selbst die Braut zum Altar führe7. Andere Kollegen gliedern den Einzug innerlich
aus dem Gottesdienst aus, und beginnen liturgisch erst, wenn das Brautpaar seinen Platz hat.
Die meisten lassen sich inzwischen darauf ein, resigniert, innerlich empört oder ironisierend.
Nave-Herz beschreibt die Reaktion des Pfarrers aus der Sicht einer Braut:
„Er (der Pfarrer) wollte an und für sich nicht, dass mein Vater mich zum Altar bringt, das war
nämlich so’n Streitpunkt zwischen uns. Er meinte … ich würde praktisch von der
Abhängigkeit meines Vaters in die Abhängigkeit meines Mannes kommen. Ich sagte: ich hab
mir das schon immer gewünscht, und ich möchte das gerne. Ja, aber ich sollte doch da noch
mal drüber nachdenken und ihn dann noch mal anrufen. Er würde das zwar durchziehen,
aber er fände das merkwürdig. … Naja, und dann habe ich ihn Mitte der Woche angerufen.
Ich habe gesagt, ich möchte das trotzdem, egal wie er das findet, …Er hat es `n bisschen ins
Lächerliche gezogen: Mensch Leute, die wohnen schon fast zwei Jahre zusammen; und
trotzdem soll Papa dich noch in die Kirche – reinführen! Das kann ja wohl nicht (wahr) sein!
Aber, sagte er, ich mach allen Scheiß mit, warum den nicht?“8
Was sind die Gründe für diese heftigen Reaktionen?
Ich kann das aus eigener Erfahrung beschreiben.
Zunächst ist da eine narzisstische Kränkung: Das Paar bringt zaghaft, aber bestimmt, eine
Forderung ein, die so nicht in das kirchliche Konzept passt. Sie werden zu den ‚Bestimmern’
eines Drehbuchs, bei dem ich mich als Pastorin nur noch als ‚Zeremonienmeister’ oder
‚Partydeko’ empfinde. Das kränkt – schließlich geht es doch um ‚das Heilige’ und den Segen.
Der Eindruck ist: Sie wollen das nur, weil sie es in anglo-amerikanischen Filmen und in
Shows wie ‚Traumhochzeit’ so gesehen haben! Und das ist ein fremdes, importiertes,
aufgesetztes Ritual, das nicht unserer Kultur entspricht.
Dann gibt es andere kritische Einwände: Die Brautübergabe entstammt einer patriarchalischen
Tradition, in der die Frau einerseits unmündig und andererseits nur als Vertragsgegenstand,
als Besitz eines Mannes zählte, der für eine materiale Gegenleistung von einem an einen
anderen Mann übergeben wurde. Im Traugespräch habe auch ich immer dafür plädiert: die
Frau solle doch überlegen, welches Selbstwertgefühl sie mit dem Wunsch einer solchen
Handlung zum Ausdruck bringe. Mit ihrem Ja-Wort, ihrer Einwilligung zur Ehe bekundet sie
doch, dass sie sich als Partnerin, also als gleichberechtigt und ebenbürtig dem Ehemann
gegenüber empfindet und dass sie ihre Entscheidung in eigener Verantwortung getroffen hat.
Die gleichberechtigte Partnerschaft und die freiwillige Selbstbindung sind es, die dem
schlimmerenfalls Ärgernisse darstellen. Traugottesdienste sind – und daraus resultieren nicht wenige der
Verlegenheiten – immer Inszenierungen und Co-Inszenierungen, d.h. die Beteiligten wirken an der
„Aufführung“ mit.“
7
Ich komme nicht umhin, hier die Assoziation des „Ius primae noctis“ zu haben. Das stößt mich ab, was mir
wieder zeigt, wie hoch die emotionale Besetzung dieses Themas ist.
8
Nave-Herz 1997, 62.
6
biblischen Menschenbild und dem evangelischen Eheverständnis im 21. Jh. entsprechen9.
Auch die reformatorische Tradition sieht das so. Luthers Traubüchlein geht sogar
ausdrücklich von der Eheschließung im gegenseitigen Konsens vor der Kirchentür aus,
woraufhin das Paar und Angehörige gemeinsam einziehen.
Man kann den Wunsch auch als biographischen Rückschritt ansehen: das Paar lebt doch
schon längst zusammen, und ist finanziell unabhängig von den Eltern. Im Übrigen gibt es
noch den praktischen Einwand: Was ist dann mit dem Bräutigam? So allein, wartend und
hilflos. Manche Erfahrungen waren herzerweichend! Vielleicht ist die Sympathie mit dem
Bräutigam, ja die Identifikation mit der Machtlosigkeit10 gefühlsmäßig, besonders für
Theologen, das stärkste Argument gegen den gloriosen Brautvatereinzug. Für mich galt das
sicher unbewusst lange Zeit so, stärker tatsächlich als die feministische Kritik.
Schließlich benennen einzelne, dass sie „keine Lust auf so ödipale Geschichten“ haben (auch
eigene?). Dass man tatsächlich in ein komplexes Feld gerät, will ich mit dieser Arbeit zeigen.
Fazit: Es gibt so betrachtet genügend Einwände, die gegen das Brautvatergeleit sprechen.
Manche Paare lassen sich auch darauf ein und überlegen es sich anders. Vielleicht auch der
Pastorin / dem Pastor zuliebe. Andere beharren darauf. Und geben damit gelegentlich Anlass
zu kopfschüttelnden Diskussionen in der befremdeten Pfarrerschaft. Fischer bemerkt kritisch:
„Wenn …wie in der zitierten Belegstelle bei Nave-Herz (62) dem einen der Vorgang ein
„Scheiß“ ist und der anderen wiederum „egal“ ist, was der erste davon hält, so befinden wir
uns an dieser Stelle in einem Kommunikations- und Verständnisabbruch, den beide Seiten
sich auf Dauer kaum werden leisten können.11“
Was hat dazu geführt, mich differenzierter mit diesem Thema zu beschäftigen?
Einerseits sind da die feministisch-emanzipatorischen Ideale von Frausein und die
theologische Überzeugung von einem partnerschaftlichen Menschenbild sowie der Versuch,
in der eigenen Partnerschaft als Stellenteilerpaar mit Familie entsprechend zu leben.
Andererseits besteht der Wunsch und der eigene Anspruch des pastoralen Ideals, ein
Brautpaar seelsorgerlich verstehend zu begleiten.
Die tiefenpsychologische Perspektive in der Seelsorgefortbildung und in den Balintgruppen
über Jahre hat das Verstehen vertieft und den Blick auf die Ambivalenzen geschärft. Diese
eröffnen einen Zugang zu den verdeckten oder unbewussten Sehnsüchten und Ängsten, den
eigenen wie des Brautpaares. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Filme letztlich nicht der
Grund sind, weshalb junge Frauen den Brautvatereinzug wollen.
Was bewegt mich zu diesem Thema?
Brautpaare sind meist junge Leute. Adoleszente Fragen und Phänomene sind mir in gewissem
Maße vertraut. Ich habe selbst drei Kinder, Tochter und Sohn in der Pubertät. Ein
Schwerpunkt meiner pfarramtlichen Tätigkeit ist intensive Konfirmanden- und Jugendarbeit.
Hier arbeite ich auch viel mit jungen Erwachsenen zusammen. Immer wieder geht es um die
Themenfelder Liebe und Eltern, Loslösung und Individuation, Autonomie und Ambivalenzen.
Die eigene Hochzeit war auch für mich ein bedeutendes Ereignis. Sie sollte vor allem
unkonventionell und „anders“ sein: kein weißes Kleid, kein Ringwechsel; ein selbstbewusster
Einzug als Paar. Und jeder behielt seinen Namen. Es war mein Name, mit dem ich meine
gewordene Identität verband (und noch verbinde). Aber möglicherweise stand hinter der
Entscheidung unbewusst auch der Wunsch, etwas „von Zuhause“ mitzunehmen: der
9
Gen 1,27f und Gal 3,28 sowie Leitlinien kirchlichen Lebens, Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD.
Handreichung für eine kirchliche Lebensordnung, Gütersloh 2003, 73: „Nach evangelischem Verständnis lässt
sich Ehe als im Vertrauen auf Gottes Hilfe eingegangene freiwillige Selbstbindung beschreiben. Menschen
binden sich aus geschenkter Freiheit heraus aneinander.“
10
Die Abwehr gegen diese Identifikation mit der Ohnmacht findet sich wohl in vielen Witzen über den
Bräutigam, z.B. in Filmen.
11
Fischer 2004, 347.
7
elterliche, der väterliche Name sollte mir bleiben, in gewisser Weise mitgehen. Vielleicht ist
das etwas Ähnliches wie das Vatergeleit bei den heutigen Bräuten, von denen die meisten
inzwischen den eigenen (Vater-)Namen aufgeben. – Hätte ich mich gern von meinem Vater
reinführen lassen? Es kam mir damals gar nicht in den Sinn und ich war viel zu sehr mit
meinem Selbständigwerden beschäftigt; aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich es auch
für mich stimmig gefunden hätte, wenn ich es bei andern ebenso erlebt hätte.
Was ist meine Funktion?
Zur Realität gehört auch meine Rolle: Erwartet wird von mir, dass ich die Pastorin bin, eine
Hirtin, die – stark genug – leitet, begleitet, die, mit Bildern aus dem 23. Psalm gesprochen,
„zum frischen Wasser und auf grüne Auen führt“, aber auch gesichert durch finstere Täler
hindurch12. Die Pastorin, die als Anwältin des Höchsten, als Priesterin den Segen spricht. Die
das Ritual gestaltet und vollzieht, nicht als etwas Starres, sondern als eine Form, mit dem das
Paar seinem Lebensgefühl Ausdruck gibt.
Mein Ziel ist es, die Balance zu finden zwischen Erfüllung der Wünsche und Berührung durch
das fremde, große Göttliche in den tradierten Worten und Gesten, im „Segensraum“13.
Es ist nur ein Moment in der Lebensgeschichte, aber ein bedeutender, in dem ich mich
gleichsam als Übergangsobjekt zur Verfügung stelle, damit das Paar dann hinausgeht und nun
allein seine Ehe gestaltet – unter dem Segen.
Was will ich mit dem Thema ‚Brautvatergeleit’?
Ich will verschiedenen Fragen nachgehen: Was hat dieser Ritus im 21.Jh für eine Relevanz
und Bedeutung? Wo kommt er eigentlich historisch her? Wie ist das noch mal mit der
Kasualie Trauung praktisch-theologisch? Und hat es eine Bedeutung, dass das
Brautvatergeleit gerade bei der kirchlichen Trauung stattfinden soll? Warum will eine junge,
emanzipierte Frau heute so einen Anfang? Was empfindet sie bei dem Wunsch? Und woher
kommen ihre Ambivalenzen? Wie steht der Bräutigam dazu? Was wünscht sich der Vater?
Und was empfindet eigentlich die Brautmutter dabei? Was ist mit meiner pastoralen Identität
als Frau in diesem Zusammenhang?
4 - Soziologische Aspekte
Wozu heute noch Heirat?
Geheiratet wird heute später als noch vor 20 Jahren und etwas seltener, wenn auch noch über
80% bis zu ihrem 40. Lebensjahr zumindest einmal eine Ehe eingegangen sind14. Die Ehe
kann somit nicht als ‚Auslaufmodell’ bezeichnet werden. Dennoch stellt sich die Frage nach
den Gründen für eine Eheschließung. „Gesamtgesellschaftliche Veränderungen (sowohl
ökonomische als auch normative) haben dazu geführt, dass die emotionalen sexuellen
Beziehungen keiner öffentlich bekundeten Legitimation durch eine Eheschließung mehr
bedürfen, dass die materiellen und wohnungsmäßigen Bedingungen ein Zusammenleben,
ohne verheiratet zu sein, ermöglichen und dass die Ehe auch als Versorgungsinstitution –
jedenfalls an zwingender – Notwendigkeit immer mehr verliert.“15 Das Zusammenziehen ist
kein eigens gewürdigter Akt, sondern nur eine Konsequenz der bisherigen Beziehung;
Absprachen über zukünftige Gestaltung der Partnerschaft werden nur vage getroffen. Die
Gründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft wird auch meist nicht öffentlich gemacht
oder zeremoniell begangen. Daraus ergibt sich auch eine Unsicherheit in der Rollen- und
Statusdefinition, erkennbar an der unterschiedlichen Bezeichnung der Partner
12
Hirtin war in biblischer Zeit ein üblicher Frauenberuf, siehe z.B. Rebekka, Gen 24 oder Rahel, Gen 29.
So der Titel des Buches von Ulrike Wagner-Rau. Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft.
Stuttgart 2000.
14
Nave-Herz in ihrer empirisch-soziologischen Studie, 1997, 43.
15
ebd.
13
8
(Freund/Freundin, Partner/Partnerin, Lebensgefährte/Lebensgefährtin), und an einer gewissen
Unklarheit der Beziehung zu den Herkunftsfamilien.16 Zum einen ist mit diesen
Entwicklungen eine Erweiterung von Freiheit verbunden, die vor allem die Frauen aus
traditionellen Festlegungen und Beschränkungen freisetzt. Zugleich aber wird
Individualisierung zum Auftrag, dem man sich nicht entziehen kann, weder in der Gestaltung
des Alltags, der Biographie, und auch nicht der Gestaltung lebensgeschichtlicher Höhepunkte
wie der Hochzeit. Alles muss individuell besonders sein, was andererseits das Ansteigen des
persönlichen Risikos des Scheiterns mit sich bringt.17
Viele Paare stehen im Spannungsfeld von zeitgemäßen Individualisierungswünschen und
romantischen Träumen von Tradition und Beheimatung. Einerseits ist der Wunsch nach
Familie und Kindern, Geborgenheit und Sicherheit hoch. Zugleich aber ist auch der je eigene
Weg und berufliche Werdegang für Frauen wie Männer ein wesentlicher Faktor der
Identitätssicherung.
Was bedeutet die Heirat für Frauen?
Nave-Herz weist in ihrer Studie nach, dass Anlass der Entscheidung zur Ehe überwiegend der
Kinderwunsch oder die Schwangerschaft ist. Sie spricht von der „kindorientierten
Ehegründung“ nach dem Motto: „nur wenn Kinder, dann Ehe“. Das betrifft vor allem die
Frauen. „Der Versorgungsanspruch der Frau als Grund der Eheschließung – zwar nunmehr
nur noch im Hinblick auf die Geburt von Kindern – hat somit an Aktualität nicht verloren.“18
Denn noch immer bedeutet die Kinderphase für die meisten Frauen eine Einschränkung
hinsichtlich ihres Berufslebens und zeitweise ein Verzicht auf Erwerbsarbeit, weichenstellend
für das gesamte, auch spätere Leben. „Diese Forderungen nach Erfüllung traditioneller
Rollenerwartungen sind realitätsgerechte Antworten auf die noch immer in unserer
Gesellschaft gegebene strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, vor allem für
Mütter. Schließlich ist es allgemein bekannt, dass ganz besonders dann, wenn die Frau ihre
Erwerbstätigkeit vollständig aufgibt oder sie diese stark einschränkt, sich ihre Chancen in
bezug auf den beruflichen Aufstieg verringern und sich ihre eigenen Rentenbezüge
schmälern, dass sie das Risiko der beruflichen Nicht-Wiedereingliederung eingeht u.v.m. Hält
sie an ihrer Erwerbstätigkeit fest, wählt sie damit die – vielbetonte, aber bisher nicht
veränderte – „Doppelbelastung“.“19 Das bedeutet, dass die Familiengründung für viele Frauen
nach wie vor ein „riskantes Unternehmen“ darstellt, zumal auch die steigenden
Ehescheidungszahlen auf eine unsichere Zukunft verweisen.
Ich folgere daraus:
Die Eheschließung bedeutet für junge Frauen bei aller Liebe auch nach längerem
Zusammenleben mit ihrem Partner einen großen Schritt, verbunden mit ambivalenten
Gefühlen. Die zumindest in den Blick genommene Mutterschaft verändert die Identität. Sie
hat eine neue Abhängigkeit vom Partner und vom Kind zur Folge. Das verstärkt sich noch
durch die Aussicht auf eine Unterbrechung der Berufstätigkeit und beruflichen Qualifikation,
die in besonderer Weise die Autonomie festigt.
Eine, anlässlich des ‚schönsten Tags des Lebens’ neben aller Freude kaum eingestandene
Zukunftsangst und Angst vor Identitäts-Verlust, zumindest Infragestellung oder
Verunsicherung verlangt geradezu nach etwas Haltgebendem und nach Begleitung. Nach
etwas, das Vergewisserung bietet und worauf Verlass ist: aus der Herkunftsfamilie, aus der
Tradition, aus der Religion. Dazu zählt insbesondere der Segen: Vaters Segen, Mutters Segen,
Gottes Segen. Die kirchliche Trauung und darin der (wieder-)neuentdeckte Ritus des
Brautvatergeleits scheinen sich hier geradezu aufzudrängen.
16
Dies., 36.
Wagner-Rau 2000, 40ff zum Zusammenhang Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen.
18
Wagner-Rau 2000, 45.
19
Nave-Herz 1997, 45.
17
9
5 - Historische Aspekte
Woher kommt eigentlich der Ritus ‚Brautübergabe’? Ein kurzer Blick in die Geschichte
Die Heirat war seit alters her bis zum Beginn der Neuzeit ein Vertrag zwischen zwei Familien
und damit ein privater, weltlicher Akt. Ein schönes Beispiel für das Ja-Wort gibt es schon in
biblischer Zeit: Rebekka, die von ihren Brüdern befragt wird, sagt: Ja, ich will es. (Gen 24,
58) Aus der römischen Rechtstradition ist der Konsens überliefert: die Ehe wird durch den
Willensentschluss der Eheleute begründet. Mit dem Einfluss der Germanenvölker auf die
europäische Kultur- und Rechtsgeschichte trat vom frühen Mittelalter bis zum 13. Jh. neben
das Konsensprinzip die sogenannte Munt-Ehe. „Die Muntehe wird so bezeichnet, weil die
Frau von einem Schutzverhältnis in das andere überwechselte.“20 Der Eheschließung ging ein
Vertragsschluss zwischen Freier und Familie voraus. „Aus diesem altgermanischen
Rechtszusammenhang ist die Brautübergabe, die traditio puellae und damit die Übergabe der
Munt an den Bräutigam durch den Brautvater im Kreis der Verwandten belegt, an welche sich
„die feierliche Heimführung der Braut in das Haus des Mannes“ anschloss. Dabei hatte die
Brautübergabe21, die sogenannte Kopulation als sichtbare Zusammenführung der Eheleute
durch Dritte ehekonstitutive Bedeutung. Auch in der Munt-Ehe befanden sich Gabe und
Gegengabe in einem ausbalancierten Verhältnis, wobei allerdings, anders als bei der in
freiwilligem Konsens eingegangenen Ehe hier „das Austauschprinzip nicht personal, sondern
material definiert“22 war.
Wie verhält sich die kirchliche Trauung dazu?
Die kirchliche Trauung setzte sich erst allmählich durch. Anhand kirchlicher Äußerungen aus
dem 13. Jahrhundert stellt Fischer fest: „Wesentlich ist dem kirchlichen Handeln die
Herstellung der Reziprozität der personalen Beziehungen, und insofern ist es m.E. nicht zu
weit gegriffen, trotz der fraglos patriarchalisch bestimmten Gesamtsituation dem kirchlichen
Anliegen in Sachen Ehe ein emanzipatives Potential zuzusprechen.“23 Noch zu Luthers Zeit
war die Regelung der Eheschließung relativ offen, wobei Veröffentlichung des Konsens und
Kopulation unter zunehmender Beteiligung der Kirche die Ehe begründeten. Aber nicht mehr
der Brautvater ist für die Eheschließung erforderlich, sondern nur ein Bevollmächtigter, der
die Konsenserklärung abnimmt und das Paar ‚zusammenspricht’. Auch in seinem
‚Traubüchlein’ von 1529 hält sich Luther aus dem „welltlich geschefft“ der Hochzeit heraus,
gibt aber Empfehlungen für die kirchliche Trauung. Danach werden die Brautleute vor der
Kirchentür vom Pfarrer nach ihrem Ja-Wort gefragt, tauschen die Ringe, legen die Hände
ineinander und werden zusammengesprochen. Das Paar betritt danach bereits als Ehepaar mit
den Angehörigen die Kirche, in der sich der zweite und eigentlich kirchliche Akt, die
Segnung (Benediktion) und Fürbitte anschließt. Bis heute orientiert sich die Agende der
evangelischen Trauung an Luthers Traubüchlein. Nach der Reformation wurde die
Eheschließung bald in den Kirchraum verlagert. 1875 wurde allgemein die obligate
Ziviltrauung eingeführt, nach der erst anschließend eine kirchliche Trauung möglich wurde.
Ein förmlicher Akt der Brautübergabe jedoch, das Kennzeichen der Munt-Ehe, findet sich in
der nachreformatorischen Zeit im mittel-, west- und kontinentaleuropäischen Bereich kaum
noch. Das Konsensprinzip hat hier, anders als in England, die aktive, verbindende Rolle des
Vaters bei der Trauung seiner Tochter zunehmend verdrängt.24
Die Zusammenführung der Familien
Über lange Zeit war es Brauch, dass zur kirchlichen Trauung sich beide Primärfamilien vor
der Kirchentür versammelten, um dann gemeinsam mit dem Pfarrer und dem Brautpaar unter
20
Fischer zitiert Schott; DWB; Munt / Mund = Schutz, Schirm, Gewalt (Fischer 2004, 339).
Fischer 2004, 339.
22
Fischer, 340.
23
Fischer, 340.
24
Fischer, 343.
21
10
Glockengeläut und Orgelklang in die Kirche einzuziehen. Damit war die Angliederung zweier
bis dahin getrennter Familien zu einem gemeinsamen Familienverband vollzogen. Fischer
bemerkt, dass diese Sitte in den zurückliegenden 20 Jahren weithin erloschen ist. Stattdessen
ist es üblich geworden, dass Bräutigam und Braut allein, begleitet lediglich durch den Pfarrer
oder die Pfarrerin, in die Kirche einziehen, wo sie von Verwandten und Freunden feierlich
erwartet werden. Hieran knüpft Fischer seine These vom rituellen Defizit: das
letztverbliebene Element eines manifesten Übergabe- und Trennungsrituals sei damit
abhanden gekommen. Infolgedessen „hat sich das Hochzeitsgeschehen zu einem defizienten
Ritus entwickelt, für welchen nach der Seite der Ablösung eine Neukonstruktion erforderlich
geworden ist.“ Darin sieht er einen Grund für den heutigen Wunsch junger Frauen nach der
Brautübergabe25.
Die soziologischen und historischen Aspekte ergeben zusammengefasst:
1. Individualisierung ist angesagt; das heißt die meisten Brautpaare fügen sich nicht einfach in
vorgegebene Strukturen wie die Trauagende, sondern erheben den Anspruch, alles persönlich
und individuell zu gestalten. Sie beharren darauf, die kirchliche Trauung möge nach ihren
persönlichen Wünschen gestaltet werden, also auch mit Elementen, die dem eigentlichen
Gottesdienst fremd sind.
2. Für Frauen bedeutet die Eheschließung auch heute noch ein großer Schritt, der zumindest
im Vollzug, bzw. im Übergang zu Verunsicherung führt. Hilfestellung wird in einem
haltenden Ritual gesucht; ein deutlicher Hinweis auf die Funktion der Hochzeit als
Übergangsritual.
3. Die Brautübergabe war Teil der mittelalterlichen Kultur, ist aber in Mitteleuropa, anders als
im anglo-amerikanischen Raum seit Jahrhunderten nicht mehr üblich. Stattdessen hat sich die
Eheschließung im Konsensprinzip durchgesetzt. Die Berufung von Brautpaaren auf eine alte
germanische Tradition ist zumindest fragwürdig; der Bezug zu zahlreichen amerikanischen
Filmen scheint da fast einleuchtender. Damit ist allerdings lediglich der Anlass für den
Wunsch nach dem Brautvatergeleit gegeben. Die These bleibt: Hinter dem Wunsch verbergen
sich weniger bewusste Ängste und Sehnsüchte nach einem hilfreichen Übergangsritual.
4. Zur evangelischen Trauung gehörte implizit auch immer die Zusammenführung der
Herkunftsfamilien durch den gemeinsamen Einzug in die Kirche. Die Zusammenführung
bedeutet Entstehung eines neuen Familienbundes und Abschied von dem alten. Da dieser
Brauch in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist, scheint es Bedarf nach einer
Rekonstruktion zu geben. Das ist möglicherweise mit ein Grund für den Wunsch nach dem
Brautvatergeleit.
6 - Ritualtheoretische Aspekte
Was ist die Trauung für ein Ritual?
In der Literatur wird darüber immer wieder diskutiert, doch die meisten sind sich schließlich
einig: die Trauung ist auch heute noch ein Übergangsritual, mit oder ohne deutlichen
Übergang26.
Übergangsriten laden ein, im „Spielraum der Möglichkeiten“ einen Moment zu verweilen
Fechtner folgert für die kirchliche Ausformung: „Rituell gestaltete Kasualpraxis erscheint als
expressiver Raum, in dem das Ich sich in unvertrauter Weise begegnet.“27
H. Luther wendet sich dagegen, die Übergangsriten nur in ihrer Stabilisierungsfunktion zu
sehen und betont die Chance, die sich in der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Mittelphase
25
Fischer, 350f.
Nave-Herz spricht von der Hochzeit als „rite sans passage“, und unterscheidet zwischen „rite de confirmation“
im Hinblick auf den Partner und „rite de passage“ im Hinblick auf die Familiengründung. (Nave-Herz 1997,
42ff).
27
Fechtner 2003, 49.
26
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der Übergänge als „Spielraum an Möglichkeiten“ 28 auftut. Relevant ist „nicht das schnelle,
zielstrebige Durchschreiten der Passagen, sondern das Verweilen (oder Flanieren) in den
Passagen“29.
So verstanden geht es darum, in der Trauung die Unterbrechung des Alltäglichen
auszugestalten, die auftauchenden Ambivalenzen von Freude und Lust, aber auch von
Enttäuschung, Traurigkeit und Angst auszuhalten; Fragen, Erinnerungen an die bisherige
Geschichte und Wünschen für die Zukunft Raum zukommen zu lassen, das heißt der
Nachdenklichkeit Form und Inhalt zu geben, um darin die Identität neu zu finden.
Darin liegt auch die Stärke der Kasualhandlung, denn es entspricht der Erfahrung, „dass es
Kraft braucht, lebensgeschichtliche Übergänge zu begehen, und dass gleichzeitig in diesen
Übergängen Kräfte frei werden und zuwachsen“30.
Der verheißungsvolle Anfang
Der Sinn der kirchlichen Trauung erschließt sich nun vor allem daraus, dass sie einen
verheißungsvollen Anfang symbolisiert und inszeniert, gerade weil die Eheschließung heute
faktisch kaum mehr einen identifizierbaren Anfangspunkt bildet. „Sie ist Feier eines
gemeinschaftlichen Lebens, das, bewusst ‚anfänglich’ begangen, verbindlich wird…Der
Drang, die kirchliche Trauung in dieser Weise zu einem ‚Event’ zu gestalten, lässt sich als
Versuch begreifen, in ihr ‚eindrücklich’ zu symbolisieren und zu bestätigen, dass der
gemeinsame Lebensweg Erfahrungen geglückter Übergänge in sich trägt, die in einem
verheißungsvollen Anfang gründen“.31 Dem Bedürfnis, den Anfang der persönlichen
Geschichte als Paar zu feiern und öffentlich zu inszenieren entspricht nun auch der Wunsch,
den Beginn der Trauung, den Auftakt des Anfangs, in besonders eindrücklicher Weise zu
gestalten. Hier hat der Traum vom feierlichen Einzug der Braut mit ihrem Vater seinen
Platz32.
Die Zusammenführung der Familien als Ritual der Partizipation und Loslösung
Ebenso an den Anfang der evangelischen Trauung gehörte seit jeher die Versammlung der
beiden bis dahin getrennten Herkunftsfamilien zu einem zusammengehörigen
Familienverband. Das geschieht beim früher üblichen gemeinsamen Einzug der Familien oder
heute ähnlich beim einträchtig versammelten Erwarten des Brautpaars in der Kirche33. Dies
kann als ein Element der Angliederungsphase angesehen werden. Die Zusammenführung der
beiden Familien wird im gewünschten Ritus der Brautübergabe vom Vater an den Ehemann
besonders augenfällig, und manchmal wird das auch ausgesprochen34. Damit wird rituell
etwas nachgeholt, was in der sozialen Realität oft längst geschehen ist. Das gilt umso mehr für
den Aspekt der Lösung von der Herkunftsfamilie. Wenn die Braut von ihrem Vater in die
Kirche geführt und dann dem Bräutigam übergeben wird, wird sowohl der Lebensweg der
jungen Frau von ihrer Kindheit an als auch der Prozess des Abschieds von ihnen
veranschaulicht und damit wirksam und verbindlich gemacht. Als Tochter mit ihrer
Geschichte und mit ihrer Entscheidung ist sie nun nicht mehr nur Tochter ihrer Eltern,
28
Henning Luther, Schwellen und Passage. Alltägliche Transzendenzen, in: Ders., Religion und Alltag.
Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjektes, Stuttgart 1992, 212-223; 220. Dieses Bild erinnert an
Winnicotts ‚potential space’, der für Phantasie und Identitätsfindung lebenslang unabdingbar ist. Luther bezieht
sich aber nicht explizit auf ihn.
29
Luther 1992, 254
30
Fechtner 2003, 46.
31
Fechtner 2003, 139f
32
Dass der Einzug bedeutsam ist, steht außer Frage. Wie speziell er bei einer Hochzeit sein kann, beschreibt in
wunderbarer Weise Thomas Mann in: Joseph u. seine Brüder, Teil 3, bei Josephs Hochzeit.
33
Anders als Fischer erlebe ich die Zusammenführung der Familien vor dem Gottesdienst in der Kirche, oft in
der aufgeregten Begegnung besonders der Mütter.
34
Im Traubuch wird das mit Textbeispielen empfohlen: Maibaum, Frank / Schmidt, Verena, Das Traubuch. Der
praktische Ratgeber für die kirchliche Hochzeit, 3. Auflage, Kiel 2004, 23.
12
sondern eben auch und vor allem eine dem Elternhaus entwachsene Ehefrau eines Mannes.
Die Adressaten dieser Darstellung sind, wie wohl bei jedem Ritual, die Darstellenden
(Tochter und Eltern) wie die Zuschauenden (Bräutigam und Gemeinde). Es gilt, der Realität
zuzustimmen. Bedeutsam ist, dass dieser Ritus nur in der Kirche seinen Platz hat.
Offensichtlich ist hier der entsprechende ‚Raum’ und der haltende Rahmen gegeben für die
Inszenierung einer so hochambivalenten Geschichte wie der Vater-Tochter (Eltern-Tochter)
Beziehung im Übergang zur verheirateten Frau.
Ich fasse zusammen:
Es geht bei der Hochzeit um die Gestaltung eines lebensgeschichtlichen und sozialen
Übergangs. Das Ritual der kirchlichen Trauung kann als Zwischenraum, als ‚Spielraum an
Möglichkeiten’ verstanden werden, in dem ein verheißungsvoller Anfang symbolisiert und
inszeniert werden kann.
Die Bedeutsamkeit des Anfangs spiegelt sich in der Akzentuierung des feierlichen Beginns,
der mit dem Brautvatergeleit und der Brautübergabe die Lebensgeschichte der jungen Frau
von Familienbindung bis Loslösung nachvollzieht und zelebriert.
7 - Praktisch-Theologische Aspekte
Kirchliche Trauung bedeutet Wunsch nach Segen
Der Hauptgrund für die kirchliche Trauung, den meist beide Partner vorbringen, ist der
Wunsch nach dem ‚kirchlichen Segen’, nach Gottes Segen. Der Segen ist für viele, auch
kirchlich distanzierte Paare, das signifikante christliche Symbol. Zu Recht, denn die
Beziehung Gottes zum Menschen wird schon bei der Schöpfung im Segen konstituiert. In Gen
1,27f, einem der Texte, die auch die Trauagende vorsieht, heißt es: „Gott schuf den Menschen
zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott
segnete sie.“
Der Wunsch nach dem Segen in der Trauung ist getragen von der Hoffnung, darin für die Ehe
zu bekommen, was man weder aus individuellen noch familiären Kräften erlangen kann, über
alle guten Wünsche hinaus. Das trifft auch die eigentliche Relevanz der Trauung. In Martin
Luthers Traubüchlein von 1529 heißt es entsprechend: „Wer von dem Pfarrherrn oder Bischof
Gebet und Segen begehrt, der zeigt damit wohl an (ob er’s gleich mit dem Munde nicht
redet), in was Fahr und Not er sich begibt und wie hoch er des göttlichen Segens und
gemeinen Gebets bedarf zu dem Stande, den er anfähet; wie sich’s denn auch wohl täglich
findet, was Unglücks der Teufel anricht in dem Ehestande mit Ehebruch, Untreu, Uneinigkeit
und allerlei Jammer.“
In der Segensbedürftigkeit äußert sich das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit und des
Angewiesenseins. Das wird im Traugespräch, neben aller Zuversicht und Freude an der
gemeinsamen Entscheidung und Liebe auch zumindest indirekt angesprochen.
Die eigene Lebensgeschichte steht auf einmal in einem andern Licht: sie zeigt sich als eine
Geschichte mit Gott. Die Trauung ist ein Moment, der diese Wahrnehmung der eigenen
religiösen Bedürftigkeit zulässt und aushält, sogar zugesteht, dies öffentlich zu zeigen.
Dennoch bleibt diese Öffnung ein sehr verletzlicher Moment und beinhaltet ein großes
Vertrauen an diejenige, die damit gestaltend umgeht. 35
Die Lebensgeschichte wird in den ‚Segensraum’ gestellt
Im Segen selbst wird ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch dargestellt.
Wagner-Rau setzt hier an mit ihrer Metapher des Segensraums, ausgehend von Winnicott’s
Theorie vom intermediären Raum: „Zwischen der Zuwendung Gottes und der im Glauben
realisierten Wahrnehmung der Zuwendung entsteht der Segensraum. …In der Metapher des
Segensraumes sind also einerseits die lebensermöglichende Bezogenheit des Menschen auf
Vgl. Fechtner 2003, 41, der generell feststellt: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Biographie des
einzelnen derjenige Erfahrungs- und Deutungshorizont, innerhalb dessen Religion sich artikuliert.“
35
13
Gott und die gnädige Zuwendung Gottes zum Menschen aufgehoben. Andererseits aber eint
sie auch den Spielraum der Freiheit, in dem das je eigene Leben sich entfalten kann.“36
Gleichwie Winnicott’s „potential space“37 der Findung bzw. Sicherung der Identität dient,
bildet auch der Segensraum der Trauung eine neue Fundierung der Identität des Paares als
gesegnetes.
Das heißt: Die Trauung mit dem Segen ist als ‚Segensraum’ ein guter Übergangsraum für die
Identitätsfindung des Paares. In die Trauung soll nun auch das Brautvatergeleit integriert
werden.
Der väterliche / elterliche Segen als Teil der Trauung
Der Trausegen gilt dem Paar als ganzem. Im Brautvatergeleit bzw. dem Abschied und der
Übergabe ereignet sich, so wage ich zu behaupten, schon ein Segensgeschehen für die Braut:
der Vater gibt der Tochter seinen Segen – im besten Fall stellvertretend: den elterlichen Segen
– mit in die Ehe, indem er sie begleitet und ‚im Guten’ dem Bräutigam übergibt38. Auch dies
ist m.E. ein Segensgeschehen, das mehr ist als ein guter Wunsch, das über sich hinausweist
auf die geglaubte göttliche, väterlich-mütterliche Zuwendung und Begleitung.
Loslösung biblisch
In diesem Raum werden auch diese Worte Jesu gehört: „Gott, der im Anfang den Menschen
geschaffen hat, schuf sie als Mann und Frau und sprach: Darum wird ein Mann Vater und
Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden eins sein. So sind sie nun
nicht mehr zwei, sondern eins.“ (Mt 19, 4f) Von der Einigkeit eines Paares ist hier die Rede,
aber eben auch vom Verlassen der Eltern. Das ist jedenfalls für den Mann – und für seine
Eltern eine klare Ansage. Wie stellt sich das aber für die Frau dar?
In den letzten Jahren habe ich bei Trauungen den Text erweitert, und in einem zweiten Satz
auch das Verlassen der Frau von ihren Eltern ausgesprochen. Auch die Eltern der Frau sollen
wissen, dass ihre Tochter sie bewusst verlässt und jetzt eins ist mit einem Mann, in
partnerschaftlichem Konsens. Das war mir wichtig, auch in Anlehnung an Gal 3, 28b: „Hier
ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Aber im Zuge der Beschäftigung mit dem vorliegenden Fall und ähnlichen, sowie mit der
Entwicklungspsychologie von Mädchen und den Thesen von Chodorow und anderen, frage
ich mich, ob nicht tatsächlich nur der Mann so klar Vater und Mutter verlässt? Muss ich nicht
viel mehr von einer bleibenden Mutterbindung der Frau ausgehen? Und hat das Folgen für das
Verständnis des Brautvatergeleits? Ich denke inzwischen: ja, und werde dem im
tiefenpsychologischen Teil nach-denken.
Was ‚erlaubt’ die evangelisch-lutherische Trauagende?
Die Agende versteht sich als Ordnung, die dem Gottesdienst sinnvolle Gestalt geben will. Der
Einzug mit dem Vater ist nicht vorgesehen, widerspricht aber auch nicht dem Formular. Dort
heißt es: „Wie der Gottesdienst begonnen wird (Abholen des Hochzeitszuges, Begrüßung,
Einzug, Glockengeläut, Orgelspiel und so weiter), richtet sich nach örtlichem Herkommen
und den Erfordernissen des Einzelfalles.“39 Der Gruß bei Beginn an der Kirchentür steht
parallel zum Beginn am Altar. Allerdings beziehen sich die Texte deutlich auf die
Wagner-Rau, Segensraum, 2000, 10f: „Der Intermediäre Raum repräsentiert gleichermaßen
Zusammengehörigkeit und Einheit der Beziehungspartner wie auch erste Unterscheidung und Zwischenraum.
Insofern ist er in paradoxer Weise beides. Er gibt Sicherheit in der Gewissheit, getragen und gehalten zu sein.
Und er setzt frei zum Spiel, zur Kreativität, zur Selbstwerdung. In dieser doppelten Bestimmung ist der
intermediäre Raum bzw. die Beziehung, die ihn entstehen lässt, eine wesentliche Basis für die Ausbildung von
Identität. Diese psychoanalytische Modell verwende ich als hermeneutischen Zugang zum Segen: im Segen wird
ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch dargestellt.“
37
Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 9. Auflage, Stuttgart, 1997, 52 und 124f.
38
siehe die hohe Bedeutung des Vatersegens in der Bibel: Isaaks Segen Gen 27f, Joseph Gen 49,25
39
Trauagende der VELKD, Ordnung der Trauung, 24 ff.
36
14
gemeinsame Ankunft bzw. auf die Weggemeinschaft des Paares: „Ihr seid gekommen, um
euch trauen zu lassen.“ Beim Brauteinzug mit Vatergeleit ist diese Formulierung zumindest
zu überdenken. Ich nehme inzwischen bewusst Bezug auf die verschiedenen Wege, auf denen
die Brautleute in der Kirche angekommen sind. Damit spreche ich auch die individuellen
lebensgeschichtlichen Herkunfts-Wege der Partner an.
Wie bedeutsam der Einzug bei der Hochzeit und die Erwartung der Gemeinde ist, schildert
eindrücklich Jesu Gleichnis von den zehn Brautjungfern, die allerdings umgekehrt den Einzug
des Bräutigams erwarten (Mt 25).
Die eigene Geschichte als begleitetes Unterwegssein erfahren
Das Brautvatergeleit lässt sich auch verstehen als ein Unterwegssein in Beziehung, das Geleit
und Führung braucht. Dieses behütete Unterwegssein ist ein biblisches Bild für den Glauben,
besonders in Übergangszeiten wie zum Beispiel der Wüstenzeit. Gott als der gute Hirte,
versorgend, leitend, beschützend – die Bilder vom 23. Psalm sind vielen vom Religions- oder
Konfirmandenunterricht bekannt.
Der Wunsch nach göttlicher Begleitung in der Ehe wird von den Frauen häufig angesprochen.
Im Wunsch nach dem Brautvatergeleit wird umso mehr das Angewiesensein auf Begleitung
erkennbar, m.E. eine über die väterliche/mütterliche hinausgehende. Und zugleich ist sie
Ausdruck der Hoffnung auf zukünftige Begleitung, sowohl durch Menschen als auch durch
göttliche Begleitung.
8 - Ambivalenzen oder: Die Tränen der Braut
Aus dem Protokoll:
Und Ihr Vater soll Sie reinführen? Das möchten Sie gerne?
Sie: (ihre Augen füllen sich mit Tränen) Ja. – Er freut sich schon. Aber das wird schwer…
Im ersten Moment bin ich überrascht, erschrocken. Mit dem Wunsch hatte ich schon
gerechnet, aber nicht mit den Tränen. Die berühren mich auf Anhieb. Ich bemerke die
Gegenübertragung: einen starken Sog, mich ihr mütterlich zuzuwenden, entziehe mich dem
aber, indem ich den Bräutigam, den mir gegenübersitzenden Dritten dazu befragend ins Spiel
bringe. Dann komme ich auf die Konkretionen, eine Möglichkeit, in der professionellen Rolle
die Distanz zu wahren. Mir ist es grundsätzlich wichtig, dass der Wunsch nach dem
Brautvatergeleit durchdacht wird, und auch die Übergabe gestaltet wird und nicht „einfach so
passiert“. Wenn hier ein Stück Lebensgeschichte in Szene gesetzt wird, dann soll sie bewusst
wahrgenommen und jeweils der individuellen Geschichte angemessen zum Ausdruck
gebracht werden.
Ich: Ok. Stellen Sie es sich vor: Ihr Vater führt Sie nach vorne zum Altar. Dort wartet Ihr
Mann. Und dann? Wie geht der Wechsel? Wie „verabschieden“ Sie sich von Ihrem Vater?
Sie (weint): Das ist es ja! …
Er: Aber ich bin doch da! Und du musst dich doch gar nicht verabschieden. Wir bleiben
doch in der Nähe, alles bleibt, wie es war. Wir werden auch in Zukunft so viel Kontakt zu
deinen Eltern haben wie bisher. Da ändert sich doch nichts! Das ist es, was ich nicht
verstehe!
Sie: Das ist es ja nicht. Ich will dich ja heiraten. (sie weint und braucht Taschentücher).
Er: Du weißt doch, wie es ist. Wir sind doch schon Jahre zusammen.
Jetzt hat sie meine volle Sympathie. Ihre Regression überträgt sich und darauf antwortend
verspüre ich den Impuls, sie behütend in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ich sehe das
kleine weinende Mädchen vor mir, das verzweifelt den Weg alleine laufen will und
gleichzeitig nach der helfenden Mutter ruft; ein Teil des Ambivalenzkonfliktes aus der
Wiederannäherungsphase des Kleinkindes, zwischen dem Wunsch nach Loslösung und
15
Individuation einerseits und Trennungsangst und Depression andererseits40. So klar erkenne
ich das allerdings erst im Nachhinein.
Im Hineinspüren in ihre Gefühle als Tochter in ihren Ambivalenzen im inneren
Abhängigkeits- und Autonomiekonflikt kann ich mich andererseits leicht mit ihr
identifizieren.
…
Er: Aber an dem Tag ändert sich doch gar nichts. Es ist unsere Hochzeit – ein
Freudenfest! (sie nickt, lächelt ihn unter Tränen an). Erstens bleibt alles beim Alten. Und
zweitens: WENN sich etwas geändert hat, dann doch schon längst vorher: als du zu mir
gezogen bist, ausgezogen von deinen Eltern. Und als wir beschlossen haben, uns ein
Haus zu bauen. Das wolltest du doch?!
Sie: Ja. JA! Ich verstehe es ja auch nicht. - Aber das ist eben trotzdem ein besonderer
Tag… Ich weiß ja, es ist richtig und gut, jetzt zu heiraten. Aber…
Ich: … aber …?
Sie: Es ist eben jetzt so ein Schritt. Ja…Und ich weiß ja, … aber dann bin ich eben
verheiratet. Und dann gibt es kein Zurück. Und ich weiß ja nicht, was mal wird. Und
natürlich hoffe ich, dass es gut geht mit uns… (In Gedanken ergänzt sie wohl ihre Ängste,
spricht sie aber nicht aus. – Er sagt auch nichts dazu oder dagegen. Recht hat sie, denke
ich. Heiraten birgt auch immer ein Risiko. –)
…
Ich habe verschiedene Optionen aufgezeigt und überlasse nun die Entscheidung dem Paar. Im
Rahmen des Traugesprächs, bei dem es noch um etliche inhaltliche Punkte und auch
Entscheidungen geht, ist das meines Erachtens ‚gut genug’. Trotzdem bewegt mich nachhaltig
die Traurigkeit der Braut: offensichtlich empfindet sie sehr den Schmerz der Loslösung schon
bei der Vorstellung vom Einzug in die Kirche, und versucht noch ihn zu vermeiden. Sie will
auch nicht nur den Abschied, zum Beispiel an der Tür, sie will den gemeinsamen Weg mit
dem Vater. Die Begleitung in der Kirche. Und was kann ich dabei tun? Ihre Tränen empfinde
ich als einen Appell, ihr dabei zu helfen und sie zu verstehen.
Ich biete ihr ein weiteres Gespräch an. Sie willigt ohne Zögern sofort ein.
Das zweite Gespräch:
(Sie weint gleich wieder, benennt es auch.)
Sie erzählt lange und ausführlich ihre Familiengeschichte.
Sie sagt: sie würde so gerne beide glücklich machen: die Eltern, Mutter und Vater – und
ihren Bräutigam. Aber jetzt sei es ihr doch schwerer als sie gedacht hätte. Das sei eben
bei dem Traugespräch neulich besonders rausgekommen, da hätte sie so deutlich den
Schmerz gespürt. Die Erinnerungen an früher und das Thema Abschied und Trennung
würde ihr eben zu schaffen machen, und da sei es so deutlich geworden.
Obwohl es ja eigentlich kein Abschied sei, aber eben doch ein endgültiger Entschluss.
Der Mutter gegenüber habe sie ein bisschen schlechtes Gewissen. Eigentlich ist sie ihr ja
genauso nah. Aber der Einzug, der geht nun mal nur mit dem Vater. Naja, dann soll die
Mutter aber bei der Feier neben ihr sitzen.
Was die Tränen bedeuten? Beim Einzug: ein Überwältigtsein. „Es geht ja um einen!“ Ja,
sie ist dann die Braut, völlig im Mittelpunkt. Und das sind auch Freudentränen, und weil es
so schön ist. So sei sie eben. Und natürlich: auch ein endgültiger Schritt. Und der macht
auch irgendwie Angst.
9 - Tiefenpsychologische Aspekte
Adoleszenz als Wiederaufleben der ödipalen Konflikte, aber anders
Vgl. Mahler et al, 101ff; die Wiederannäherungsphase und –krise im 2./3. Lebensjahr; Margaret S. Mahler /
Fred Pine / Anni Bergmann, Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt a.M.
1975.
40
16
Auch wenn diese Braut, wie die meisten, das Erwachsenenalter erreicht hat, bietet doch der
Schritt in die Ehe einen Auslöser der Regression in die Phase der Adoleszenz. Intrapsychische
Konflikte zwischen Autonomie- und Abhängigkeitswünschen werden wieder aktuell und
reinszeniert, letztlich mit dem Ziel der Weiterentwicklung der Identität41. Für eine junge Frau
ist der Prozess wohl noch schmerzhafter und konfliktträchtiger als für einen Mann,
insbesondere was die Lösung von der Mutter angeht42. Der Vater kann hierbei ein hilfreicher
Dritter sein.
Die präödipalen Konflikte
Das zentrale Thema der frühkindlichen Entwicklung ist die Mutter-Kind-Beziehung. Für das
Mädchen stellt sich die Aufgabe, sich mit der Mutter zu identifizieren bzw. identifiziert zu
bleiben und gleichzeitig sich von ihr zu lösen, um eine getrennte Identität aufzubauen. Hier ist
die Triangulierung mit dem präödipalen Vater entscheidend43. Wie für den Jungen ist es auch
für das Mädchen wichtig, sich mit ihrem Vater von klein auf identifizieren zu können, denn er
verkörpert Unabhängigkeit von der Mutter und erotisches Begehren. Da die identifikatorische
Liebe der Tochter zum Vater mit der Sehnsucht nach Anerkennung als begehrendes Subjekt
von Vater und Mutter z.T. missverstanden und nicht zugelassen wird, hält sie an der ‚Treue’
zur Mutter fest und bewahrt sich die idealisierende Bewunderung der väterlichen Macht und
Herrlichkeit44.
Aber: „Auch wenn die Tochter den Segen des Vaters hat, auch wenn er sie anerkennt, bleibt
die Vereinbarung der Identifikation mit beiden Elternteilen eine schwierige Aufgabe. Die
Tochter muss versuchen zu tun, was der Mutter misslungen ist: sie muss ihre Subjektivität
und ihre Weiblichkeit miteinander versöhnen.“45
Spuren präödipaler Beziehungsmuster im Brautvatergeleit
Im Wunsch nach dem Brautvatergeleit bei der Hochzeit findet sich unbewusst etwas von dem
wieder, was sich in der präödipalen Entwicklung der Geschlechtsidentität während der
Wiederannäherungsphase abzeichnet. Hinter der deutlichen Willensbekundung der Frau, auf
diese Weise ihre Hochzeit zu beginnen, spüre ich zum einen den Abwehraspekt: der vehement
geäußerte Wunsch nach der Übergabe kann der Versuch der Leugnung der Abhängigkeit sein,
sowohl vom Vater als auch von der Mutter.
Überdies lautet der Wunsch nicht in erster Linie: „Mein Vater soll mich abgeben“, sondern:
„Mein Vater soll mich in die Kirche führen“. Sicher steht hinter diesem Wunsch auch das
narzisstische Bedürfnis, an diesem Tag beim feierlichen Einzug – auf dem Höhepunkt der
Spannung – im Mittelpunkt der Bewunderung aller und auch des Vaters zu stehen.
Die Wegbegleitung in die Kirche durch den Vater ermöglicht aber auch eine Regression in die
Entwicklung und Individuation der Tochter. Dazu gehört die idealisierende Bewunderung der
Tochter für den Vater als dem Subjekt des Handelns. Er ist es, der sie an die Hand nimmt und
führt, der so frei ist, sie gefahrlos aus der Bindung des elterlichen / mütterlichen Zuhauses zu
führen, und der damit auch zeigt, dass es ein Zurück gibt, so wie er selbst immer von zuhause,
von der Mutter gegangen und wiedergekommen ist. In der Identifizierung mit ihm erfährt sie
seinen Segen für ihren Schritt aus dem Nest, und nun auch für ihr Subjektsein als Begehrende.
41
Vgl. Mertens, II, 170ff Postadoleszenz, und 179ff zum frühen Erwachsenenalter; Wolfgang Mertens,
Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität, Bd II: Kindheit und Adoleszenz, 2. Auflage,
Stgt/Berlin/Köln 1996.
42
siehe auch Nancy Chodorow, Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter, 2.
Auflage, München 1986,175.
43
Mertens 1996, 97.
44
Hieran knüpfen auch die kindlichen Gottesbilder, die sich ungebrochen bis ins Erwachsenenalter halten
können, und bei einer Hochzeit wiederbelebt werden.
45
Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. 5. Auflage,
Basel/Frankfurt, 1999, 121.
17
Die Zustimmung der Mutter zum Brautvatergeleit, ja manchmal sogar ihr ausdrücklicher
Wunsch, erleichtert der jungen Frau die Versöhnung der inneren Schuldgefühle und Konflikte
um diesen Schritt aus dem Elternhaus und besänftigt ihre Angst vor dem Verlust der Liebe
ihrer Eltern.46
Wenn man den Blick nun auf die Zusammenführung des Paares richtet, dann kann man aus
der Szene auch die Erwartung der Braut an den Bräutigam aus der präödipalen Beziehung der
Tochter zu ihrem Vater deuten: Der Vater als der idealisierte, bewunderte Held wird nun
abgelöst vom jungen Ehemann. In der Übergabe bekommt der Bräutigam den Auftrag von der
Frau (und von ihrem Vater), sich nun genauso väterlich heldenhaft, behütend und wegweisend
um sie zu kümmern. Auf diese Weise trägt sie die „töchterliche Existenz“47 in die als
Partnerschaft gewollte Ehe ein.
Ödipale Aspekte
Die zärtlich-sinnlichen und erotisch-begehrenden Strebungen des Mädchens richten sich
zunächst auf die Mutter (negativ ödipale Phase), dann auf den Vater (positiv ödipale Phase).
Sie möchte nun ‚Papas Prinzessin’ sein. Damit verbunden sind zugleich heftige
Rivalitätsgefühle gegen die Mutter mit aggressiven, feindseligen Impulsen. Der Gedanke an
eine nur ansatzweise Realisierung verursacht dem Mädchen wiederum erheblich Angst- und
Schuldgefühle gegenüber der geliebten Mutter. Wiedergutmachungsimpulse bei gleichzeitiger
Identifikation können zu einer starken aggressionsgehemmten, lebenslänglichen Loyalität
gegenüber der Mutter führen.48
Im Normalfall behält das Mädchen beide Eltern als Liebesobjekte und als Rivalen49.
Adoleszenz und das Ziel der Loslösung von den Eltern
Adoleszenz ist schön und schrecklich und anstrengend, für alle. Physische und psychische
Entwicklungssprünge rütteln die Identität durcheinander, präödipale und ödipale Konflikte
brechen wieder und in neuer Heftigkeit auf. Es geht um Abhängigkeit und Freiheit,
Phantasien und Ideale, Liebe und Frust, Mann- und Frausein, Erwachsensein und Kindsein,
Trauer und Schuldgefühle – und immer geht es dabei auch um die Beziehung zu den Eltern.
Die Identität geht durch eine Zeit der Erschütterung und Verwirrung, schwankt zwischen
Autonomiewünschen und der Sehnsucht nach Geborgenheit.
Das Mädchen hat es dabei besonders schwer, den „Hafen des Ödipuskomplexes“ wieder
verlassen zu dürfen50, das heißt eine sexuell begehrende, emanzipierte erwachsene Frau zu
werden. Das Mädchen will mit der Mutter rivalisieren und sich von ihr lautstark distanzieren
und trotzdem zugleich mit ihr in naher Verbindung sein und sich mit ihr identifizieren. Erneut
erschweren Schuldgefühle die Loslösung von der Mutter. Die Tochter sucht die mütterliche
Nähe als Beraterin oft in lebensentscheidenden Fragen wie – dann etwas später – rund um
Partnerschaft und Hochzeit.
Auch die Beziehung zum Vater wechselt während der Adoleszenz zwischen zärtlicher
Zuneigung und wütender Empörung, zwischen ödipalem Werben und deutlicher Abgrenzung
gegen seine Liebesbindung.
46
Zu der Identifizierung mit dem Vater gehört auch das Beibehalten des väterlichen Namens, erst recht wenn es
der Familienname wird.
47
Christa Rohde-Dachser, Expeditionen in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse,
Berlin Heidelberg 1991, 81ff.
48
Blank-Knaut, 315: „Diese gleichzeitige Erfahrung von Liebe, Herrschaft und Konkurrenz in ein und
demselben Objekt erschwert die libidinöse und narzisstische Entwicklung des Mädchens, das zudem für sich in
der Gleichheit eine Differenz finden muss, um zu eigener Subjekthaftigkeit zu gelangen.“; s. Beate Blank-Knaut,
Zwischen Selbstverwirklichung und tradierter Weiblichkeit. Über die Aktualität des weiblichen
Ödipuskonfliktes, in: Franz Wellendorf / Hannelore Werner (Hg.), Das Ende des Ödipus. Entwertung und
Idealisierung ödipaler Konzepte in der Psychoanalyse heute, Tübingen 2005, 307-319.
49
Chodorow 1986,166.
50
Mertens 1996, 137, zitiert Rohde-Dachser.
18
Ödipale Reminiszenzen bei der Hochzeit
Noch in der Phase der Postadoleszenz erfolgt ein weiterer kräftiger Schub an Loslösung auch
von elterlichen Objektrepräsentanzen. Bei der Hochzeit entstehen erneut Schuldgefühle,
einerseits weil die Tochter sich nun löst und eine eigene Familie gründet. Andererseits aber
auch, weil sie damit denselben Weg geht wie die Mutter, in Identifikation mit ihr. Da sie nun
aber als junge, potente Frau auftritt, geht sie in Rivalität zur älteren Mutter. Das kann bei ihr
erneut zu Angst vor Liebesverlust führen und zu einem starken Wunsch nach
Wiedergutmachung. Wohl auch deshalb hat die Brautmutter besondere Aufgaben und
Privilegien: zum Beispiel wählt sie das Brautkleid mit aus, das die Männer nicht sehen dürfen,
darf damit die Farbe oder mehr der Kleidung des Bräutigams mitbestimmen, darf neben der
Braut bei der Feier sitzen etc. Auch die Dankbarkeit gegenüber der Mutter im Zusammenhang
mit der Hochzeit wird von den Bräuten häufig betont, manchmal mit schuldbewusstem Blick
auf die konfliktreichen Jahre davor.
Aber auch der Vater wird mit Wiedergutmachungsimpulsen bedacht: er darf mit ihr beim
Einzug in die Kirche seinen großen Auftritt haben. Der ödipale Traum davon, ‚Papas
Prinzessin’ sein zu dürfen, mündet in den Wunsch nach dem Einzug an seiner Seite. Bei der
Hochzeit wird dieser kindlich-ödipale Traum noch einmal kurz durchlebt und glücklich
beendet – wieder unter Anerkenntnis der Grenzen: der Vater darf nur bis zum Altar, und eben
nicht bei ihr sitzen (ihr ‚beiwohnen’), er geht zu seiner Frau –, bevor die Tochter dann dem
‚wahren Traumprinzen’ real begegnet.
Der Blick auf das Brautvatergeleit und die „töchterliche Existenz“
Ich fasse zusammen: Das Brautvatergeleit kann als Symbol für die bisherige und in Abstufung
auch bleibende Begleitung und Bindung an Mutter und Vater gedeutet werden. Die
Brautübergabe versteht sich dann als Symbol für die Loslösung von den Eltern als ein
weiterer Schritt der Individuation auf dem Weg der eigenen Identitätsentwicklung.
Das Vatergeleit beschreibt den Weg vom kleinen Mädchen an Papas Hand bis zur
erwachsenen – begehrenswerten und begehrenden – Frau, die künftig an der Seite eines
(anderen) Mannes weitergeht. Damit die Loslösung gelingen kann, ist Vaters Segen wichtig.
Aber warum dann dieser Wunsch heutzutage?
Damit stellt sich noch einmal die Frage, warum es für eine junge Frau heute eine solche
Bedeutung hat, bei der Hochzeit die töchterliche Nähe zu ihrem Vater derart zu betonen,
obwohl sie in ihrem alltäglichen und beruflichen Leben sich durchaus als erwachsene Frau
behauptet und in der Partnerschaft die Gleichberechtigung einfordert.
„In ihrem Ich-Ideal hat sie längst die Emanzipationsangebote der umgebenen Gesellschaft
internalisiert und verurteilt sich zugleich wegen dieser Wünsche, was zu den beschriebenen
Schuldgefühlen führt.“51 In dem Moment, da sie heiratet und dann eine Familie gründet, zeigt
sie ihre Identifikation mit dem Weg ihrer Mutter und folgt dem Wunsch nach Bindung und
Abhängigkeit. Damit gerät sie innerpsychisch in Ambivalenzen und in die Konflikte der
Wiederannäherungsphase mit den Fragen nach Loslösung und Individuation und der
bleibenden Bindung an die Mutter. Der Wunsch nach dem Brautvatergeleit ist ein
Eingeständnis bzw. eine Bejahung dieser Regression. Er beinhaltet zugleich die Hoffnung, der
Vater möge als triangulierender, hilfreicher Dritter die Abhängigkeit lockern.
Brautvatergeleit und weibliche Identität
Fischer fragt in seinem Aufsatz zur Brautübergabe: „Ist die Neukonstruktion des Brauchs zum
Nachweis weiblicher Autonomie wirklich gelungen?“52 Er deutet es so, ausgehend von der
Beobachtung, dass die Frauen eben mit erheblicher Vehemenz auf diesen Brauch bestehen.
Ich finde es durchaus reizvoll, das so zu sehen: die Frau als selbstbestimmtes Subjekt
51
52
Blank-Knaut 2005, 317
Fischer 2004, 351.
19
zwischen den beiden Männern. Aber nach den vorhergehenden Überlegungen und ausgehend
von den mir unverkennbar beobachteten Ambivalenzen, deute ich den Wunsch doch etwas
anders, weniger eindeutig. Die Hochzeit ist ja als solche ein ambivalentes Geschehen:
Einerseits betont sie die Loslösung und Autonomie in dem Ja-Wort zur reifen Partnerschaft.
Andererseits stellt sie deutlich die Bindung an die Familie und die Identifikation mit der
Mutter dar und damit auch mit den mütterlichen Wertvorstellungen und Rollenerwartungen.
Dieselbe Ambivalenz spiegelt sich im Brautvatergeleit (Symbol der bleibenden Bindung) mit
der Übergabe (Symbol der Loslösung). Die Hochzeit macht diese Spannung deutlich, ist also
für eine Frau kein eindeutiger Schritt der Emanzipation von den Eltern; ein klarer Moment der
Loslösung wäre zum Beispiel viel mehr die Feier eines erfolgreichen (Berufs-)Abschlusses.
Ich möchte aber behaupten, die Ambivalenz ist Kennzeichen der erwachsenen weiblichen
Identität. Sowohl die frühen bedürftigen Anteile mit dem Wunsch nach Beziehung und
Verbundenheit53 als auch das libidinöse Begehren und die Bestrebungen nach Unabhängigkeit
und Emanzipation von der Mutter und mütterlichen Repräsentanzen54 bestimmen ihr Frausein.
Die kirchliche Trauung bietet als Ritual einen (intermediären) Raum, in dem diese
Ambivalenzspannung deutlich wahrgenommen und ausgehalten werden kann, gerade indem
sie inszeniert wird mit Brautvatergeleit und Übergabe. Dann besteht der Reifungsschritt nicht
in erster Linie in der Emanzipation und Loslösung vom Elternhaus, sondern in der Erfahrung
einer gelingenden Ambivalenztoleranz.55
10 - Meine pastorale Identität als Frau
Ich begegne dem Brautpaar als Pastorin. Meine Aufgaben und die Erwartungen an mich
seitens des Paares habe ich oben beschrieben. Jetzt möchte ich ein paar tiefenpsychologische
Aspekte meiner pastoralen Identität in diesem Kasus streifen. Die Übertragungen und
Identifikationen, die im Traugespräch erkennbar wurden, sind ein Zugang dazu.
Die Mutterübertragungen
Von Anfang an werde ich in der Rolle als Pastorin mit Mutterübertragungen konfrontiert, in
denen sich vor allem große Erwartungen an liebevolle Fürsorge, Zuwendung und Verständnis
spiegeln, wie es dem Ideal der ‚guten Mutter’ entspricht. Allerdings sind damit ambivalente,
das heißt auch ängstliche und latent aggressive Gefühle verbunden, die auf Erfahrungen von
Enttäuschung, Verlassenheit, Kränkung durch die ‚böse Mutter’ beruhen56.
Bei der Trauung und nun beim Brautvatereinzug biete ich mich in meiner Rolle der
„mütterlichen“ Pfarrerin zudem als Identifikationsmodell an, insbesondere für die Braut57.
Die Identifikation mit der Tochter
Schon im Traugespräch hat mich die Identifikation mit der Tochter an mein eigenes
Tochtersein erinnert. In der Gestaltung der Trauung wird die Identifikation noch ersichtlicher:
sowohl als Tochter von Eltern – mit meinen Erfahrungen von Lösung und bestehender
Bindung – als auch in beruflicher Hinsicht „zwischen Vaterwelt und Feminismus“: als
Tochter von ‚Mutter Kirche’, die es gut meint mit ihren Kindern und ihnen eine Heimat bieten
will – und mit der ich mich als Tochter mehr oder weniger gerne identifiziere –, wie auch als
Tochter von ‚Gottvater’. In dem Einzug in die Kirche bringe ich meine eigenen Projektionen
Chodorow 1986, 220: „Das grundlegende weibliche Selbstgefühl ist Weltverbundenheit“, und die weibliche
Persönlichkeit definiert ihr Selbst grundlegend „in Beziehung zu anderen“.
54
Mertens 1996, 170: „Bei der Bewältigung ödipaler Konflikte ist sicherlich auch zu berücksichtigen, dass
heutzutage viele weibliche Identifizierungsfiguren existieren, die, ohne an ihrem Erfolg scheitern zu müssen,
schuldfrei weibliche Kreativität im beruflichen Raum vorleben.“
55
siehe den Artikel Ambivalenz von Bruno Waldvogel , in: W. Mertens, B. Waldvogel (Hg.), Handbuch
psychoanalytischer Grundbegriffe, 2.Aufl., Stgt/ Bln/Köln 2002, 55-59.
56
Blank-Knaut 2005, benennt es kritisch ein „immer aufzuspürendes und ubiquitäres Bemutterungsdefizit“.
57
Ich beziehe mich auf Ulrike Wagner-Rau, Zwischen Vaterwelt und Feminismus. Eine Studie zur pastoralen
Identität von Frauen, Gütersloh 1992, z.B. 95 ff.
53
20
der Eltern-, insbesondere der Vaterrepräsentanzen auf Gott mit: als eine Tochter des
Höchsten, die in seinem Auftrag handelt und segnet. Bilder vom idealisierten: liebenden,
beschützenden, leitenden, segnenden, autonomen und befreienden Vater prägen die
Gottesvorstellung, zumindest im gottesdienstlichen Reden und Handeln bei der Trauung58.
Indem ich vor dem Altar stehe, verweise ich auf den, der ‚hinter mir steht’. Darin lassen sich
durchaus Muster der (prä)ödipal geprägten ‚töchterlichen Existenz’ erkennen.59
Ambivalenzen und Gottesbeziehung
Als Frau lebe ich auch in meiner pastoralen Identität in der ambivalenten Spannung zwischen
Bindung und Unabhängigkeit. Das betrifft meine Beziehung zu elterlichen Repräsentanzen
wie Tradition, biblische Texte, theologische Lehre und Institution Kirche genauso wie meine
Gottesbeziehung. Es ist ein bleibendes In-Beziehung-sich-Befinden. Wagner-Rau schreibt: Es
geht in der feministisch-theologischen Gottessuche darum, „so etwas wie eine
beziehungsvolle Autonomie oder eine einverstandene und freisetzende Bezogenheit denken
und leben zu lernen und diese auch in die Gottesrede zu übersetzen. Ein solches Gottesbild
aber, das Abhängigkeit und Unabhängigkeit als polare Spannung in sich bewahrt, gibt es in
der christlichen Tradition nicht.“60 Es gibt allerdings Denkmodelle in der christlichen
Anthropologie, die ähnlich die Ambivalenz des (männlichen) Menschen zwischen
Abhängigkeit und Freiheit (Gesetz und Evangelium) beschreiben; so Luthers Schrift „Von der
Freiheit eines Christenmenschen“ oder Paulus in Röm 7/8. Das heißt: Auch theologisch geht
es um die Frage der Balance zwischen Bezogenheit und Autonomie. Weder die völlige
Loslösung noch die symbiotische Bindung können Ziel der Identitätsentwicklung von Frauen
sein.
Jetzt also: Theologische Würdigung des Brautvatergeleits
In dem religiösen Bedürfnis einer kirchlichen Trauung zeigt sich der Wunsch, die eigene
Lebensgeschichte in den Horizont einer christlichen Deutung, Sinngebung und
Zukunftsvision zu stellen, die über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen weit hinausreicht.
Das spricht uns als Theologinnen an. Aber es gibt Vorbehalte, zum Beispiel „dass sich auch
Motive und Bedürfnisse in vielen Kasualbegehren finden, die theologisch kritisch zu
beurteilen sind“61. Das bedeutet, die Zustimmung zum Wunsch nach dem Brautvatergeleit
muss auch theologisch begründet werden.
Fazit: Das Brautvatergeleit mit der Übergabe ist eine symbolische Inszenierung von
Beziehungserfahrung in der unauflösbaren Ambivalenz von Abhängigkeit und Individuation,
die sich sowohl in der Entwicklung und Identität der Frau spiegelt als auch in der christlichen
Existenz. So gilt auch bei diesem Ritual: „In der gottesdienstlichen Inszenierung wird die
Begegnung von Lebensgeschichte und Evangelium zu einer Form, in der – wenn sie gelingt –
das Individuum in einer neuen Weise seiner Lebensgeschichte und seiner selbst in Beziehung
auf Gott ansichtig werden kann.“62
Schon im Traugespräch kann etwas davon zur Sprache kommen. In diesem Anspruch finden
sich auch Kriterien für die Zustimmung oder Ablehnung des Wunsches nach dem
Brautvatergeleit.
58
In dieser Idealisierung gehen die Aspekte des männlichen: strengen, zornigen, strafenden aber gerechten
Vatergottes unter. Tatsächlich spielen diese Gottesvorstellungen bei der Trauung kaum eine Rolle. Das hat
gewiss eine Bedeutung (Verzicht auf ödipale Aggression und Begehren); ich werde darüber nachdenken.
59
Nachdenkenswert in diesem Zusammenhang, theologisch wie feministisch, ist ein kritischer Gedanke von
Rohde-Dachser 1991, 82: „Die töchterliche Existenz der Frau gewinnt so unvermutet eine existenzielle
Bedeutung als Trägerin des väterlichen (männlichen) Ich-Ideals und damit auch als Basis väterlicher
(männlicher) Identität.“
60
Wagner-Rau 1992, 162
61
Wagner-Rau 2000, 73; 182; auch Fechtner 2003, 33;135.
62
Wagner-Rau 2000, 121.
21
11 - Ambivalenztoleranz – oder: Das Ja-Wort der Braut
Im Fall: Schließlich hat sie sich entschieden und teilt es mir klar mit: Der Vater soll sie in
die Kirche führen, soll sie auch bewundern, und stärken und zu M. bringen, sie dann an
ihn übergeben. Sie werden sich verabschieden, fast wie sonst auch, na ja…, und er soll
noch was zu M. sagen. Sie stellt sich vor, dass der Vater sie bis zu den Stufen bringt, und
dann zur Mutter geht.
Was will die Braut?
1. Ja: Die Braut will heiraten! Das heißt: einen ebenbürtigen Mann haben, einen starken
Partner. Und der Vater soll das anerkennen, sie als Frau anerkennen und seinen Segen dazu
geben.
2. Die Braut will sich von den Eltern lösen. Dieser Abschied soll inszeniert werden. Das
bedeutet ein Durcharbeiten aller Ambivalenzen und Wiederbeleben aller Affekte der
Wiederannäherungsphase während der präödipalen Loslösung (Trauer, Schuldgefühle, Wut,
Lust auf Neues). Der Vater, seit frühster Kindheit für das Mädchen als Dritter bei der Lösung
von der Mutter wichtig, soll auch heute für die Bewältigung zur Verfügung stehen.
3. Die Braut heiratet wie ihre Mutter und weiß, dass sie mit ihrer Mutter bzw. beiden Eltern
verbunden bleibt.
Sie braucht das Ritual des Brautvatereinzugs, um diesen Entwicklungsschritt ihrer Identität,
die Ambivalenztoleranz zu bekräftigen und ihm Ausdruck zu geben.
12 - Wie steht der Bräutigam dazu?
Er sagt: „Wenn sie das will, find ich das auch gut…. Ich will ja, dass der Vater mich
anerkennt und sie mir übergibt.“
Der Sieg des ‚Ödipus’
Das Selbstbewusstsein der jungen Männer in Bezug auf die Brautübergabe fällt mir in den
letzten Jahren zunehmend auf.
„Ich bin es, der sie kriegt!“ sagt mir ein anderer Bräutigam sehr deutlich. „Das gehört doch
dazu. In und vor aller Öffentlichkeit: Diese schöne Frau für mich – von ihrem Vater – ein
Zeichen des Vertrauens und der Übergabe von Verantwortung: Pass auf sie auf! Eine
Aufwertung: Du bist es wert! sagt er mir damit. Und: Ich traue es dir zu. Ja, ich will für uns
sorgen, mit ihr an meiner Seite. Partnerschaftlich natürlich.“
Die Brautübergabe wird von den jungen Männern deutlich gewollt. Sie fürchten die
Inszenierung der ödipalen Begegnung der Rivalen offensichtlich nicht.
Die Frage: warum besteht der Bräutigam nicht auf den gemeinsamen, partnerschaftlichen
Einzug?, lässt sich so beantworten: Es bestärkt ihn in seiner männlichen Identität, die Frau
seines Lebens zu bekommen von dem ‚ödipalen Vater’, der ihn damit für ‚Mann’s genug’
hält, ihm seine geliebte Tochter anzuvertrauen. Und offensichtlich entspricht dieses
narzisstische Männerbild wieder stärker dem idealen Selbstbild der Männer, aber auch den
Rollenerwartungen der Gesellschaft.
13 - Was wünscht sich der Brautvater?
Nicht selten ist es der Wunsch des Vaters, seine Tochter als Braut in die Kirche zu führen.
Zum einen ist damit wohl auch der narzisstische Wunsch nach dem großen Auftritt mit der
Tochter, ‚der schönsten Frau’ bei dem Fest verbunden. Aber darüber hinaus ist da auch der
Wunsch, die Tochter gut zu führen, sie sicher aus der Abhängigkeit der Elternfamilie zu
entlassen und sie einem andern zuzusprechen. Sie soll mit dem väterlichen Segen gehen
können. Aber diesen Segen kann er nicht aussprechen, nur auf diese Weise inszenieren.
Der ödipale Aspekt
Der Prozess der Ablösung zwischen Vater und Tochter ist wechselseitig. „Im Vater ringt der
Wunsch, seine Tochter in die Autonomie zu entlassen, mit dem Wunsch, in ihr weiterhin
22
seine kleine Geliebte zu sehen. … Nicht nur die Tochter, auch der Vater muss bereit sein, sich
dem ödipalen Konflikt zu stellen, anstatt ihn mit der Tochter auszuagieren, ihn zu vermeiden
oder andere interpersonale Abwehrstrategien zu verwenden“63.
Erinnerungen an sehr frühe Vater-Tochter-Erfahrungen
Neben oder unter den ödipalen Aspekten kann es auch um viel frühere Beziehungserfahrungen zwischen Vater und Tochter gehen, wenn der Vater zu diesen stehen kann. Ich
ermuntere vorher, wenn möglich, Tochter und Vater dazu, sich auf ihrem Weg an ihre
gemeinsame Beziehungsgeschichte zu erinnern. Das wird gerne aufgenommen, sei es im
Schweigen, oder manchmal auch in erzählten Erinnerungen.
Der Vater erzählt hinterher, noch immer gerührt: Auf dem Weg hoch zur Kirche habe er
mit ihr und für sich die Stationen ihrer Vater-Tochter-Geschichte durchdacht. Wie sie klein
war, aufwuchs, und die letzte Zeit...
14 - Und was empfindet die Mutter?
Die Idee mit dem Brautvatereinzug kam von der Mutter.
Was war der Grund dafür? Sollte der Vater triangulieren und damit die Loslösung erleichtern?
Oder wollte sie in altruistischer Abtretung ihrem Mann den narzisstisch-ödipalen Auftritt
gönnen? War es die Identifikation mit ihrer Tochter als Braut und damit ein Wiederbeleben
ihrer eigenen ödipalen Wünsche? - Ich kann es nicht klar deuten.
„Die Loslösung der Tochter von der Mutter ist für viele Mütter ein viel schmerzlicherer
Prozess als die Loslösung des Sohnes.“64 Der Brautvatereinzug kann diesem Prozess hilfreich
dienen, indem sie die Inszenierung mit-er-lebt. Sie identifiziert sich mit der Tochter, die nun
wie sie selbst den Weg ins Eheleben wählt.
In der Identifikation mit ihrer Tochter kann sie, wie diese, den präödipalen Vater erleben, der
aus der engen Mutter-Tochter-Bindung befreit, als ein Modell der Lösung auch für sie selbst.
Außerdem erlebt sie, wie ihr Mann die Tochter, die ödipale Rivalin, abgibt und sich nun
wieder ganz ihr zuwendet.
Insofern kann das Ritual Brautvatergeleit nun gerade für die Mutter in mehrfacher Hinsicht
eine durchaus positive Bedeutung haben.
15 - Das Finale: der Einzug
Die Inszenierung eines ‚verheißungsvollen Anfangs’ – Beispiele aus der Praxis
Wenn der Anfang der Ehe so bedeutungsvoll gefeiert wird, und der Anfang der Trauung
ebenfalls so wichtig ist, dann muss er auch stimmig zu der Lebensgeschichte des Paares
inszeniert werden und nicht bloß Kopie einer anderen Hochzeit sein. Hier ist ‚Kirche von Fall
zu Fall’65 gefragt. Es gibt durchaus Gestaltungsmöglichkeiten für den Anfang mit
Brautvatereinzug, die ich mit dem Paar zusammen entwickle. Dabei geht es nicht um eine
kitschige Ausschmückung oder Anhäufung von Flitter, sondern um einen Bezug zu den
lebensgeschichtlichen und kirchlichen Themen.
Einige Varianten aus der Praxis:
- Bräutigam erwartet die Braut alleine oder flankiert, zum Beispiel von Trauzeugen
- Bräutigam wird vorher von seiner Mutter (oder von der Pastorin) reingeführt
- Pastorin steht an der Seite des Bräutigams
- Pastorin steht am Altar
63
Mertens 1996, 139f.
Mertens 1996, 98.
65
So der sprechende Titel von Fechtner, 2003.
64
23
- Pastorin zieht mit Braut und Vater ein; Begrüßung möglicherweise schon vor Beginn auf
dem Kirchplatz; Empfang an der Kirchentür mit Bezug auf die Vater-Tochter-Beziehung und
einem biblischen Votum
Möglichkeiten der Gestaltung der Übergabe:
- Vater spricht zum Bräutigam, frei oder vorformuliert, laut hörbar für alle oder sehr leise,
persönlich; eventuell antwortet der Bräutigam
- zuerst: Abschied Braut/Vater, danach: Begrüßung Braut/Bräutigam
- Braut führt Vater zu seinem Platz neben der Mutter
- Bräutigam (oder beide) überreicht seiner Mutter ein Symbol der Zuneigung (zum Beispiel
eine Rose)
Das Paar geht gemeinsam den weitest möglichen Weg bis zu den Stühlen, ein kurzer Moment
des Innehaltens, bevor sie sich setzen.
In der Begrüßung des Paares und der Gemeinde zu Beginn der Trauung nehme ich Bezug auf
die verschiedenen Herkunftswege, oder begrüße mit Mt 19 (…„darum wird ein Mann Vater
und Mutter verlassen...“), oder begrüße mit Psalmworten, zum Beispiel aus dem 23. Psalm
oder mit anderen passenden biblischen Voten. Denkbar ist auch der Ringwechsel gleich zu
Beginn, oder auch das Trauversprechen (Ja-Wort).
Wie war denn nun der Einzug bei der Hochzeit in diesem Fall?
Ich empfange sie an der Kirchentür. „Dies ist der Tag, den Gott gemacht hat! Lasst uns
freuen und fröhlich an ihm sein!66 - Jetzt seid ihr angekommen, auf euerm Weg. Vater und
Tochter. Jetzt gehen wir in die Kirche. Dort werdet ihr erwartet.“ Der Vater beschwört sie:
Noch einmal tief durchatmen… Sie wirkt, trotz Tränen in den Augen, erstaunlich gefasst
und nickt folgsam auf all seine Anweisungen. Ich habe den Eindruck - es amüsiert mich
fast und rührt mich auch -, dass er das sehr für sich selber sagt. Die Orgel setzt ein. Das
Fest beginnt. Ich genieße es, die beiden feierlich hereinzuführen und freue mich mit
ihnen, ähnlich emotional bewegt. Die Kameras sind auf die Braut hinter mir gerichtet. Und
natürlich auch auf den Vater. Es ist auch sein Auftritt. Alle gucken. Auch der Bräutigam
sieht Sie erstmals in ihrem weißen Prachtkleid. Er strahlt. Sie begrüßen sich herzlich. Der
Vater richtet leise ein paar freundliche, wohl sehr persönliche Worte an den Bräutigam.
Vater und Tochter verabschieden sich mit Kuss. Der Bräutigam umarmt die Braut, sie
küssen sich, und folgen mir dann hoch zum Altar. Da bleibe ich stehen, sehe das Paar
und die uralten Säulen in dieser Kirche und finde:
Ja, die kirchliche Trauung ist einfach ein wunderbares Fest!
So der Beginn. Der eigentliche Gottesdienst der Trauung mit Predigt, Gebeten,
Trauversprechen und vor allem mit dem Segen folgt jetzt erst. Auch da geht die persönliche
Lebensgeschichte des Paares in das gottesdienstliche Reden und Gestalten mit ein.
Objektverwendung im Übergang
Wie sehr die ganz Trauhandlung, auch der Brautvatereinzug und ich selbst als Pastorin
Übergangsphänomene im Sinne Winnicotts waren, wird mir nachträglich noch einmal
besonders deutlich67. Das ‚Brautpaar’ habe ich seitdem nicht wieder gesehen. Das bedeutet
für mich: Das Übergangsobjekt ist ‚verwendet’ worden und hat ausgedient! So ist die Realität
und das ist gut so.
16 - Fazit
Deutlich ist geworden, wie vielschichtig ein Aspekt der Kasualpraxis wie der Wunsch nach
dem Brautvatereinzug betrachtet werden kann, wenn man sich von dem ersten Eindruck der
Oberflächlichkeit nicht irritieren lässt.
Psalm 118, 24 – Die Fortsetzung dieses Verses lautet: O Herr, hilf! O Herr, lass wohlgelingen.
Eine angemessene Darstellung des Winnicottschen Modells von Übergangsobjekt und –phänomenen und dem
intermediären Raum kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht leisten, obwohl es ein hilfreiches Denkmodell für
die Trauung ist, wie u.a. Wagner-Rau 2000, zeigt.
66
67
24
Ich möchte gerne für die Gestaltung des Anfangs der Trauung mit dem Brautvatergeleit
werben, und tue das im Hinblick auf die Bedeutung, die dieser Ritus für die Identitätsfindung
und Entwicklung der jungen Frau hat. Ich plädiere aber auch für die Freiheit, von Fall zu Fall
abzuwägen, ob dies ein angemessenes und stimmiges Symbol für das konkrete Paar und ihre
Familie ist.
Ich habe diesen Ritus aus der Perspektive der Pastorin beschrieben; für männliche Kollegen
spielen noch andere Beziehungsmuster mit hinein. Darum bleibt dies ein persönliches
Statement.
Ich beschreibe zusammenfassend die Aspekte, die mir zuletzt am wichtigsten erscheinen.
Am Anfang
Die Trauung als solche inszeniert den Anfang der Beziehung, weil im geglückten Anfang die
Verheißung von Zukunft erkannt wird. Die Bedeutsamkeit des guten Anfangs zeigt sich auch
in der Gestaltung der Trauung selbst: der Einzug bekommt erhebliche Relevanz. Und nun also
der Wunsch nach dem Einzug der Braut mit ihrem Vater. Warum? Weil sich hier
offensichtlich zeigt, um was es für die Braut bei der Trauung geht: um die Bestärkung ihrer
Identität, die sich entwickelt zwischen dem Wunsch der bleibenden Wegbegleitung durch die
Eltern und dem Wunsch, einen ganz neuen, von den Eltern unabhängigen, erwachsenen Weg
als Frau mit einem Mann zu gehen. Dieser innere Widerstreit zwischen Bindung und Lösung
verstärkt sich für sie angesichts der Trauung, des Anfangs der Ehe.
Vor diesen Anfang schiebt sich nun noch die Erinnerung an den lebensgeschichtlichen
Anfang der Braut: die Elternbeziehung zu Vater und Mutter, in ihrer Unterschiedlichkeit, und
den Weg bis zur Trennung als erwachsene Frau.
Warum nun im 21.Jh?
Weil durch die Vielfalt der Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung die Wahrnehmung
und Akzentuierung von Anfängen und Abschieden oft unbemerkt und unbewusst bleiben. Die
Hochzeit als eine bewusste, aber individuelle Entscheidung rückt nun wieder die familiären
Beziehungen ins Licht. Gewünscht wird offensichtlich ein Symbol, das erkennbar vieles von
den inneren Beziehungsmustern und -wünschen ausdrückt, das für sich spricht und darum sich
an die kirchliche Trauung hängt. Denn diese bietet einen (Segens-)Raum, in dem die eigene
Lebensgeschichte in einem fremden Licht erfahren werden kann. Und sie bietet die
Erfahrung, dass dieser Raum verwandelt und stärkt, weil er ein Übergangsraum ist für die
eigene Identität zwischen Herkunft und Zukunft.
„Flanieren in der Passage“
Für die Weiterentwicklung der Identität der jungen Frau, für das Weitergehen in die Ehe ist es
ein wichtiger Moment, noch einmal diesen Raum zu haben, einen Übergang im doppelten
Sinne: als Brücke in das neue Land der Ehe, aber auch als Über-Gang, von dem aus noch
einmal der Lebensfluss besichtigt werden kann, vielleicht sogar mehr: erfahren oder
durchschritten wird. Ich halte mich an das Bild von H. Luther vom „Flanieren in den
Passagen“68, das ermöglicht, noch einmal innezuhalten, Bilanz zu ziehen, zu genießen und zu
betrauern, um dann getrost und beherzt weitergehen zu können. Dieses Flanieren bietet sich
im Brautvatergeleit, in der väterlich anerkennenden Begleitung auf dem Weg mit dem klaren
Ziel der Loslösung, der „Brautübergabe“ und dem bewussten Abschied. Und meine Aufgabe
als Pastorin ist es, dem Weg einen „Raum“ zu geben, ihn so zu ermöglichen, zu begleiten, zu
fördern, zu halten. Ich soll und darf ein Stückweit mitflanieren. Soll mit dem Weg des
Brautvatereinzugs sowohl die Bindung an die Eltern in ihrer Berechtigung bestätigen, als auch
der Loslösung und dann vor allem dem Paar von Mann und Frau meinen (mütterlichväterlichen), vielmehr: Gottes Segen geben. Das ist gut genug!
68
Henning Luther, Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags, in: Ders.,
Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjektes, Stuttgart 1992, 239-256; 254.
25
Biographische Notiz der Autorin:
Annemarie Pultke
Frankenberger Plan 4a
38640 Goslar
AnnemariePultke@t-online.de
Jahrgang 1962; verheiratet, drei Kinder;
Gemeindepfarrerin und Altenheimseelsorgerin,
Pastoralpsychologische Beraterin (DGfP Sektion T)