28 H B

How to Become an MP:
Die Rekrutierung von
SFB
Gesellschaftliche
Entwicklungen
nach dem Systemumbruch
580
Diskontinuität
Tradition
Strukturbildung
deutschen und russischen
Parlamentariern im Vergleich
Elena Semenova
SFB 580 Mitteilungen 2008
28
28
SFB 580 Mitteilung
Heft 28, September 2008
Sonderforschungsbereich 580
How to Become an MP: Die Rekrutierung von deutschen und russischen Parlamentariern im Vergleich
Sprecher:
Prof. Dr. Everhard Holtmann
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Politikwissenschaft Emil-Abderhalden-Str. 7
06108 Halle (Saale)
Tel: +49 (0) 345/ 5524211
Email: everhard.holtmann@politik.uni-halle.de
Verantwortlich für dieses Heft:
Elena Semenova
Friedrich-Schiller-Universität Jena
SFB 580, 07743 Jena
Tel.: +49 (0) 3641/ 945046 Email: Elena.Semenova@uni-jena.de
Logo:
Elisabeth Blum; Peter Neitzke (Zürich)
Cover & Satz:
Romana Lutzack
Druck:
Universität Jena
ISSN:
1619-6171
Diese
Arbeit
ist
im
Sonderforschungsbereich
580
„Gesellschaftliche
Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“ entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung
der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten
Mittel gedruckt.
Alle Rechte vorbehalten.
SFB
Gesellschaftliche
Entwicklungen
nach dem Systemumbruch
How to Become an MP:
Die Rekrutierung von deutschen und
russischen P arlamentariern im
Vergleich
580
Diskontinuität
Tradition
Strukturbildung
Mittelwertzentrierung
Inhaltsverzeichnis
Kapitel
Einleitung
...........6
Die institutionellen Bedingungen (Wahlrecht, Parteiensystem, rechtliche Stellung der Abgeordneten)
..........10
Soziodemografische Merkmale der Abgeordneten
..........24
1
2
Seite 4
3
Lehrer und Juristen – Manager und Militär:
Die Berufe der Abgeordneten
..........38
Inhaltsverzeichnis
Rademacher
4
Kapitel
Partei versus Patronage? Zu den politischen Erfahrungen
und Vorpositionen der Parlamentarier
..........50
Politische Erfahrung
..........50
Erfahrung und Vorpositionen im
sozialistischen System
..........60
4.1
4.2
Fazit: Warum russische Abgeordnete anders als deutsche
sind – und anders bleiben werden
..........68
Literaturverzeichnis
..........74
Autorinnen und Autoren
Angaben zur Autorin
..........84
Seite 5
Einleitung
D
Einleitung
Seite 6
er Zusammenbruch des Sozialismus
in der Sowjetunion und der DDR
ermöglichte nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern leitete auch
einen einzigartigen Modernisierungsprozess
ein, der als soziales Experiment bezeichnet
wurde (vgl. Levada 1993). Im Laufe dieses Experimentes wurden Umgestaltungen institutioneller Rahmenbedingungen durch eine rasche
Elitenzirkulation ergänzt. Einerseits schuf der
Systemwechsel in beiden Ländern eine erhebliche Zahl von neuen Positionen innerhalb aller
Elitensektoren, andererseits waren viele Positionen alters-, politisch- oder wirtschaftsbedingt
vakant. Sowohl Ostdeutschland als auch die
Russländische Föderation sind den Weg einer
repräsentativen Demokratie gegangen, weshalb
in beiden Ländern die repräsentativen Eliten
eine wichtige Bedeutung einnahmen. Einerseits
übernahmen sie die Gesetzgebungsfunktion,
steuerten Wandlungsprozesse, nahmen Teil an
der Regierungsbildung (in Deutschland) sowie
an der Rekrutierung politischen Personals.
Andererseits sind sie gemäß den Prinzipien der
repräsentativen Demokratie auf Wahlerfolge
angewiesen, das wiederum einen Rückkoppelungseffekt hat und eine Responsivität der
Wählerschaft gegenüber fördert.
Beide Länder sind durch spezifische Transformationsprozesse gekennzeichnet. Während
Ostdeutschland die politische, soziale sowie
wirtschaftliche Ordnung von den alten Ländern übernommen hat, ist in Russland eine
Mischung aus den amerikanischen und manchen europäischen Verfassungsnormen vorzufinden. Sowohl die Umsetzung dieser Normen
als auch die Grundwerte der politischen Kultur
sind zum Teil mit denen aus sowjetischer Zeit
identisch geblieben. Außerdem wurde die Ent-
Semenova
wicklung des Parlamentarismus in Russland
durch die Beziehung zur Exekutive beeinflusst,
die sich nach dem Umbruch der Sowjetunion
in die Richtung eines Superpräsidentialismus
entwickelte. Als ein Resultat dieser komplizierten Wechselwirkung hat sich das Parlament vom „negativen Parlamentarismus“ zur
„Abstimmungsmaschine“ gewandelt.
Demokratie, die für die ostdeutsche Transformation günstige Rahmenbedingungen bietet.
Russland hingegen kann als eine defekte
Demokratie (O‘Donnell 1994; Merkel et all
2003; dies. 2006) oder als ein semi-autoritäres
Regime im Wandel betrachtet werden. Diese
Unterschiede lassen die Herausbildung unterschiedlicher Abgeordnetentypen erwarten.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich die für die
Publikation leitende Forschungsfrage nach den
Unterschieden zwischen deutschen und russischen Repräsentationseliten. Dafür sollen die
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
deutschen und russischen Abgeordneten systematisch analysiert und erklärt werden bezüglich ihrer sozialen und beruflichen Herkunft,
ihres politischen Karriereweges vom ersten
politischen Amt bis zum Mandatserwerb sowie
ihrer Affiliation mit dem alten Regime (DDR
und Sowjetunion).
Als Grundlage für die Analysen dienen Datensätze zu soziodemografischen Merkmalen
sowie politischen und beruflichen Erfahrungen von Abgeordneten des Deutschen
Bundestages seit der Vereinigung und von
Mitgliedern der Russischen Staatsduma seit
der founding election 1993. Die Daten wurden
im Rahmen des europäischen Forschungsnetzwerkes „European Political Elites: The Road
to Convergence“ (EurElite) – unter Leitung
der Professoren Heinrich Best (FriedrichSchiller-Universität Jena) und Maurizio Cotta
(University of Siena) – von nationalen Experten gesammelt und kodiert. Die Erstellung des
russischen Datensatzes erfolgte unter Leitung
von Prof. Dr. Oxana Gaman-Golutvina. Die
Anwendung der gleichen Methodologie und
ein gemeinsames Codebuch ermöglichten den
direkten Vergleich von parlamentarischen Rekrutierungsprozessen in beiden Staaten. Die
Daten liegen auf der Aggregatebene für die
Parlamente insgesamt sowie für die einzelnen
Parteien bzw. Parteifamilien vor.
Ihrem Gegenstand nach beschäftigt sich die
Arbeit mit einer Subgruppe der politischen
Eliten: den Mitgliedern der Nationalparlamente Deutschlands und Russlands (repräsentative Eliten).
Zeitlich beschränkt sich die Analyse auf die
Wahlperioden der Untersuchungsparlamente:
von der 12. bis zur 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (1990 bis voraussichtlich
2009) und die fünf Legislaturperioden der
Russischen Staatsduma (1993 bis 2007).
Die Arbeit ist komparatistisch angelegt und
verwendet das Untersuchungsdesign der most
different cases (vgl. Berg-Schlosser / MüllerRommel 1992; Almond / Powell / Mundt
1996): Deutschland ist eine etablierte westliche
Das vorliegende Heft ist in vier KapiSeite
tel gegliedert. Im ersten Teil werden
die institutionellen Rahmenbedingungen der beiden Länder analysiert,
die die Rekrutierungsmöglichkeiten und den
Zugang ins Parlament beeinflussen: Dazu
gehören in erster Linie die jeweiligen Wahl-
7
Einleitung
und Parteiensysteme, darüber hinaus aber
auch die rechtliche Stellung der Parteien im
politischen System und die Rollen von Abgeordneten im Parlament. Der zweite Teil ist
der Analyse soziodemografischer Merkmale
von Mandatsträgern gewidmet. Dabei werden
neben den „klassischen“ sozialstrukturellen
Variablen wie Alter, Bildung und Geschlecht
auch die Studienfächer der Parlamentarier im
Deutschen Bundestag und in der Russischen
Staatsduma, ihre ethnische Herkunft sowie
ihre religiöse Zugehörigkeit untersucht. Der
berufliche Hintergrund der Mandatsträger vor
dem Einzug ins Parlament ist Gegenstand des
dritten Teils der Arbeit. Das abschließende
Kapitel widmet sich den politischen Erfahrungen der Abgeordneten vor ihrem Einzug
in das jeweilige Nationalparlament. In diesem
Zusammenhang wird auch die Affiliation der
Repräsentanten mit den alten sozialistischen
Regimen (DDR und Sowjetunion) in den
Blick genommen.
Seite 8
Semenova
Seite 9
Institutionelle Bedingungen
1
Die
institutionellen
Bedingungen
(Wahlrecht, Parteiensystem, rechtliche
Stellung der Abgeordneten)
D
ie demokratische Legitimation der
Russischen Staatsduma sowie des
Deutschen Bundestages ergibt sich
aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen und gleichen Wahlen. Dies wird durch
das Föderale Abgeordnetenwahlgesetz N 51FG Russlands vom 18. Mai 2005 und durch
Art. 38 GG der Bundesrepublik Deutschland
belegt. Den Wahltermin legt – unter Berücksichtigung der in Art. 39 Abs.1 GG und Art.
6 Abs.2 der 51-FG festgelegten Fristen – der
Bundespräsident oder im Falle Russlands der
Präsident fest. Die Dauer einer Legislatur in
Russland sowie in Deutschland beträgt gesetzlich vorgeschrieben vier Jahre. Die Parlamentarierzahl in beiden Ländern ist unterschiedlich:
In der Bundesrepublik besteht das Parlament
seit 2002 aus 598 Abgeordneten (vor der
Wahlrechtsreform 2002 waren es mindestens
656 Abgeordnete) (Patzelt 2005:167), während
es sich in Russland aus 450 Parlamentariern
zusammensetzt.
Wahlrecht - Das fundamentale Element der
repräsentativen Demokratie (Lejphart) und
„The most specif ic manipulative instrument of
politics“ (Sartori)
Seite 10
Das WG §1 schreibt vor, dass der Deutsche
Bundestag durch eine personalisierte Verhältniswahl gewählt wird (Blais / Massicotte
1996:54; Rose 2000). Das Wahlsystem
Deutschlands hat seit 1949 einen Wandel
vollzogen. Nach der Wiedervereinigung bestanden zunächst 328 Wahlkreise, seit der 15.
Legislaturperiode wurden sie auf 299 reduziert
(Nohlen 2007:327). Die Wähler verfügen seit
der Modifizierung des Wahlgesetzes von 1953
über zwei Stimmen. Die erste Stimme ist für
Semenova
die Direktkandidaten in Ein-Mandatwahlkreisen nach dem relativen Mehrheitsprinzip
vorbehalten. Mit der Zweitstimme wird die
Landesliste einer Partei gewählt, wobei die
Stimmenverrechnung nach dem Modus der
Verhältniswahl erfolgt. Die Berechnung der
Mandatszahlen pro Partei erfolgt jedoch auf
der Basis des Zweitstimmenanteils. Bei der
Mandatsverteilung muss eine Partei mindestens fünf Prozent der Stimmen auf sich
vereinen oder drei Direktmandate erringen.
Das Wahlgesetz (Lange 1975:395ff.) wurde
1953 und 1956 verändert. 1953 wurde das
Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten von 60/ 40 auf 50/ 50 geändert, ebenso
wie die Stimmenzahl (bis 1953 gab es nur
eine Stimme) und das Gebiet für die FünfProzent-Hürdeanwendung (von Landes- auf
Bundesebene). Laut Gesetz von 1956 wurde
auch die erforderliche Zahl der Direktmandate
von eins auf drei erhöht. Für die Stimmenverrechnung wurde das Höchstzahlverfahren in
Form der d`Hondt-Methode bis 1983 genutzt.
Danach wurde es durch das System mathematischer Proportion von Hare/ Niemeyer ersetzt
(Schmidt 2007:48). Die Besonderheit des
deutschen Wahlrechts sind Überhangmandate,
die aus Proportional- und Mehrheitswahlprinzipien resultieren, genauer gesagt aus der
Stimmensplittung innerhalb eines Landes
und den Relationen zwischen den Bundesländern (Grotz 2000; Behnke 2003; Nohlen
2007:346ff.).
Das Wahlsystem Russlands ist eine Mischung
aus proportionalem und pluralistischem
System (Blais / Massicotte 1996:54) und
wurde auch segmentiertes Wahlsystem bzw.
Grabensystem (Nohlen / Grotz / Krennerich
/ Thibaut 2000:354ff., Moser 1997) genannt.
Das kombinierte Wahlsystem ist in Osteuropa
relativ verbreitet (vgl. Tiemann 2006), aber im
Falle Russlands erweist es sich als besonders
interessant für die Wahlforschung, da sich hier
manche Annahmen über die Mehrheits- und
Verhältniswahlrechteffekte (Duverger 1959;
Blais / Massicotte 1996:69fff.) nicht bestätigt
haben (Nohlen 2007:372). Dieses Spezifikum
des Wahlsystems macht Russland zu einem
interessanten Untersuchungsobjekt (Moser
1997, Ostrow 2000:100).
Laut der Verfassung von 1993 besteht die
Staatsduma der Russländischen Föderation
aus 450 Abgeordneten, die auf der Basis von
Individualverhalten und Parteiliste gewählt
werden (Art. 96). Dabei wird die eine Hälfte
der 450 Abgeordneten in Ein-MandatsWahlkreisen auf pluralistischer Basis und
Ein-Mandats-Repräsentationsnorm gewählt
(dies resultiert aus der Teilung der wahlberechtigten Bevölkerung Russlands und der
Zahl der Ein-Mandats-Wahlkreise) und die
andere Hälfte auf Basis der proportionalen
Repräsentation mit der Fünf-Prozent-Hürde
innerhalb des Landes (Ostrow 2000:100). Für
Ein-Mandats-Wahlkreise gilt als zusätzliche
Bedingung, dass in den Wahlen mindestens
25 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen
müssen (FG AW 1999, Art.3).
Die Parteiliste in Russland hat einen
föderalen (maximal 18 Plätze) und
Seite
regionalen Teil. Im Letztgenannten
soll die Partei Kandidaten regionaler
Gruppen zuordnen, wobei das Prinzip der Bildung einer Regionalgruppe von
der Partei selbst definiert wird. Wichtig ist es
allerdings, sich an der Grenze des Territorial-
11
Institutionelle Bedingungen
subjekts zu orientieren. Im Gewinnfall werden
die Mandate einer Partei zuerst an Kandidaten
aus dem föderalen Listenabschnitt vergeben,
die verbleibenden Mandate werden nach dem
d`Hondt-Verfahren an die Regionalkandidaten verteilt, in deren Region die Partei den
höchsten Gesamtstimmenanteil bekommen
hat. In Russland existiert – im Gegensatz zum
deutschen Wahlsystem – kein Mechanismus
der Überhangmandate. Als Resultat sind die
beiden Wahlebenen voneinander unabhängig,
da beide Systeme unabhängig voneinander
kalkuliert wurden und keinen Einfluss aufeinander und auf die Verteilung der Plätze im
Parlament nach dem jeweiligen Wahlprinzip
hatten (Nohlen 2007).
Wird die Entwicklung des Wahlsystems
Russlands im Allgemeinen betrachtet, so hat es
einen Wandel vom Graben- zum Verhältniswahlsystem erfahren ( Jasin 2005:136f.). Mit
der Verabschiedung des neuen Abgeordnetenwahlgesetzes von 2005 wurden Ein-MandatsWahlkreise abgeschafft. Seitdem werden die
Parlamentarier in einem föderalen Wahlkreis
per Parteiliste gewählt und statt einer FünfProzent-Hürde wurde eine Sieben-ProzentKlausel eingeführt.
Parteiensystem
Seite
Die Entstehung des Parteiensystems
hängt von vielen unterschiedlichen
12
Faktoren ab: von sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten sowie
geschichtlich-kulturellen Rahmenbedienungen (Lipset / Rokkan 1967); vom Wahlsystem (Duverger 1959, 1984); vom Fragmentierungs- und Polarisierungsgrad der Parteien
im Staat (Sartori 1966; neue Typologie in Sartori 1970); vom Wettbewerb- und Nichtwettbewerbsystem sowie von Orientierungs- und
Verhaltensmustern der Parteien (La Palombara /
Weiner 1966) und vom Institutionalisierungsgrad des Parteiensystems (Bendel 1996).
Rechtliche Stellung der Parteien
Die rechtliche Stellung der Parteien in
Deutschland ist durch Art. 21 GG, das Parteiengesetz von 1967 und Urteile des Bundesverfassungsgerichtes abgesichert. Den Parteien
kommt nach Art.21 GG eine Mittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft zu. Der gleiche
Verfassungsartikel sichert den demokratischen
Charakter der Parteien sowie die Nicht-Etablierung des Parteienstaates.
Demgegenüber figurieren in der russischen
Verfassung keine Parteien, sondern es wird
ein Mehrparteiensystem postuliert. Bis 2001
wurden Tätigkeit und Funktionsspezifika der
Parteien durch das Föderalgesetz über Wahlen und gesellschaftliche Vereinigungen von
1995 (FG WG 1995) reglementiert. Selbiges
betrachtet Parteien in der Reihe von gesellschaftlichen Vereinigungen und definiert sie
als „politische gesellschaftliche Vereinigungen“.
Daher war normativ nicht genau festgesetzt
(Luchterhand / Luchterhand 1994), was die
Regulierung der Parteientätigkeit und der
Beziehungen zwischen parlamentarischer
Mehrheit und Opposition im Parlament, die
Fraktionsarbeit, die Teilnahme der Parteien
in der Regierungspolitik und den imperativen
Mandat anbelangt.
Erst 2001, nach der Wahl Putins zum Präsidenten, wurde ein neues Parteiengesetz von der
Semenova
Staatsduma verabschiedet und zeitnah (innerhalb von acht Tagen) vom Föderationsrat angenommen. Das Gesetz von 2001 unterschied
sich von dem aus dem Jahre 1995 folgendermaßen: Erstens sind laut des Gesetzes von 2001
ausschließlich die Parteien die Wahlrechtssubjekte auf der föderalen Ebene und nicht die
Wählervereinigungen, -blocks und -gruppen.
Zweitens müssen die Parteien sich als föderale Parteien etablieren: Diesbezüglich liefert
Artikel 3 des Gesetzes von 2001 die genaue
Beschreibung des Parteienaufbaus: Eine Partei
soll mit den Regionalgruppen in mehr als der
Hälfte der Föderationssubjekte vertreten sein
und insgesamt mindestens 10.000 Mitglieder
haben. Dabei sollen die Regionalgruppen bei
der Hälfte der Föderationssubjekte mindestens
100, in allen anderen mindestens 50 Mitglieder
haben. Drittens ist die Parteiengründung
nicht nur auf der religiösen, ethnischen oder
rassischen, wie laut des Gesetzes von 1995,
sondern auch auf der professionellen Basis
untersagt (FG PP 2001, Art. 9).
Im deutschen Parteiengesetz von 1967 waren
die Finanzierungsregelungen formuliert (von
Beyme 2002:50), welche eine jährliche Quellenangabe der Partei über die Herkunft ihrer
Mittel sowie eine pauschale Erstattung der
Wahlkampfkosten einführten. Seit 1993 gilt
eine neue Regelung der öffentlichen Parteienfinanzierung. Anspruch auf staatliche Finanzierung gemäß neuen Regelungen haben Parteien,
die nach dem Wahlergebnis der jeweils letzten
Europa- oder Bundestagswahl mindestens 0,5
Prozent oder einer Landtagswahl ein Prozent
der gültigen Stimmen erreichten, die für die
Parteilisten abgegeben wurden (GPP §18).
Die wichtigsten Neuerungen der Parteifinanzierungsregelungen bestehen darin, dass eine
„absolute Obergrenze“ für den Gesamtumfang
der direkten staatlichen Zuschüsse an die Parteien (sie beträgt heutzutage 133 Mio. Euro)
sowie eine Bindung der staatlichen Zuschüsse
nicht nur wie einst an die Wählerzahl, sondern
auch an die Spenden- und Beitragseinnahmen
der Parteien aufgenommen wurden.
In die gesetzlichen Regelungen Russlands
wurde das Thema der staatlichen Parteienfinanzierung erst mit dem Parteiengesetz
von 2001 aufgenommen. Dabei ist die Voraussetzung für die Zuwendungen aus den
öffentlichen Mitteln für Parteien, dass eine
Partei mindestens drei Prozent der für die
Parteilisten abgegebenen Stimmen als auch
der Präsidentenkandidat von dieser Partei
mindestens drei Prozent der Stimmen der
Wahlbeteiligten erhalten hat und dass diese
Partei mindestens 12 Direktkandidaten ins
Parlament entsendet (FG PP 2001:Art.33).
In der deutschen Praxis werden primär die
Parteien gewählt und seltener einzelne Abgeordnete. Augenscheinlich wird dies an den
geringen Unterschieden zwischen Erst- und
Zweitstimmen bei den Bundestagswahlen, die
zudem als Koalitionspräferenzen betrachtet
werden können. Hinzu kommt ein überwiegend „sachplebiszitäres“ Wahlverständnis,
das seit den 1950er Jahren auf der Theorie
eines begrenzten Mandates vom Parlament
basiert (Rudzio 2006:95). Außerdem
sind die Parteien in Deutschland die
Seite
wichtigsten Selektoren politischer
Karrieren, wobei zuerst eine innerparteiliche Tätigkeit ausgeübt werden
muss, bevor ein politisches Amt erreicht werden kann (Rudzio 2006:96).
13
Institutionelle Bedingungen
Parteien in der Staatsduma der Russländschen
Föderation
Seite
Die Entwicklung der Parteien in Russland ist
nicht mit der westlichen Parteienentwicklung
zu vergleichen (Lijphart 1977). Sowohl der
Zerfall der Sowjetunion als auch demokratische Transformationsprozesse in Russland
begünstigten die Herausbildung eines Mehrparteiensystems. Von einem stabilen Parteiensystem kann in Russland jedoch nicht die Rede
sein (Luchterhand 2000, Nikonov 2004). Die
Instabilität der Parteienlandschaft Russlands
(Urban / Gelman 1997) wurde durch folgende
Faktoren begünstigt: ein superpräsidiales
System und als dessen Folge die starke Abhängigkeit der politischen Willensbildung von
der Person des Präsidenten (Golosov 1999);
die mangelnde verfassungsrechtliche Basis der
Parteienfunktionierung (Luchterhand / Luchterhand 1994); der komplizierte Staatsbau
mit verschiedenartigen regionalen politischen
Regimes und daher unterschiedliche Etappen
der Parteienbildung im Zentrum und in den
Regionen (Gelman / Ryzenkov / Bri 2000);
schwache Sozialstruktur und entsprechend
schemenhafte Artikulation der Gruppeninteressen ( Jasin 2005:Kap.8). Das Design
des Parlaments und das Wahlsystem sind
als Erklärungsfaktoren zu betrachten, da sie
die parteipolitische Fragmentierung fördern
(Ostrow 2000:102). Obwohl dies in postkommunistischen Staaten nicht selten ist,
zeigt sich in Russland ein zugespitzter
14
Charakter (Hough 1998).
Der Staatsbau Russlands produzierte
viele Föderalismusprobleme: Bis 2001 sah
das Parteienspektrum in den Regionen unterschiedlich aus, weil nicht nur Parlaments-
parteien, sondern auch regionale Parteien
und Bewegungen eine große Rolle gespielt
haben (Nikonov 2004:52ff.). Der Regionalisierung der politischen Prozesse folgte die
vertikale Fragmentierung des Parteiensystems
(Michaleva 2002:68).
In den ersten (1993) und zweiten (1995)
Staatsdumawahlen der Russländischen Föderation kandidierten auf der Föderalebene jeweils
13 bzw. 43 Wählervereinigungen und -blöcke.
Die wachsende Zahl der beteiligten Parteien
und Wählervereinigungen zwischen erster und
zweiter Dumawahl trug keinen qualitativen
Charakter (Michaleva 2000). In der ersten
Dumawahl konnten 8 von 13 Wählervereinigungen die Fünf-Prozent-Klausel überwinden
(Ostrow 2000:102) und in der zweiten nur 4,
die einen parteipolitischen Charakter hatten,
wobei 3 davon in der ersten Duma vertreten
waren: die Liberal-Demokratische Partei
Russlands (LDPR), die Kommunistische
Partei Russländischer Föderation (KPRF) und
die JABLoko (Rose / Tichomirov / Mishler
1997:799ff.). Von den Abgeordneten, die Direktmandate erworben haben, waren sowohl
1993 als auch 1995 die meisten nicht parteigebunden (vgl. Michaleva 2003).
Neben den Parlamentariern, die explizit als
Unabhängige kandidiert und ihre Mandate
erworben haben, gab es in der ersten Duma
11 Abgeordnete, deren Parteien oder Wählervereinigungen bei der Fünf-Prozenthürde
gescheitert sind. In der zweiten Duma waren
das schon 23 Parlamentarier, wobei 12 Wählervereinigungen im Parlament nur durch einen
direkt gewählten Kandidat repräsentiert wurden (Michaleva-Luchterhandt 2003:207).
Semenova
Die Opposition war in der ersten und zweiten
Legislaturperiode vergleichsweise gut organisiert. In der zweiten Staatsduma verfügten die
Kommunisten und ihre Verbündeten von der
Agrarpartei Russlands sowie der „Volksmacht“
nahezu über die absolute Stimmenmehrheit
und waren die größte Fraktion im Parlament.
Daher war die Verabschiedung von Föderalgesetzen für den Präsidenten keine leichte
Aufgabe. Außerdem waren die Kommunisten
und ihnen nahestehende Abgeordnetengruppen durch eine große Fraktionsdisziplin
gekennzeichnet, welche die Gruppen mit demokratischer Gesinnung nicht demonstrierten
(Michaleva-Luchterhandt 2003:208).
An den Wahlen zur dritten Duma haben 26
Wählervereinigungen teilgenommen, von denen acht die Fünf-Prozent-Hürde überwanden.
Darunter waren die neugegründeten Parteien
„Vaterland - Das ganze Russland“ - auch als
Gouverneursblock bezeichnet -, „Union der
Rechten Kräfte“ (SPS) und „Einheit/ Der Bär“.
Ein wichtiges Merkmal der Dumawahl von
1999 war die Einteilung des politischen Spektrums nach Links und Rechts. Ebenso wie bei
den Wahlen von 1993 und 1995 entsprach dies
einer Konfliktlinie von Regierungsnähe oder
-ferne (Michaleva-Luchterhandt 2003:212).
Insbesondere spielte dabei die Position der
Partei zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie
zu Patriotismus- und Staatlichkeitswerten eine
große Rolle.
Die Staatsduma der dritten Legislaturperiode
war präsidentenfreundlicher im Vergleich zur
zweiten. Allem voran haben die Kommunisten
in der dritten Duma ihre Hauptstellung nicht
gehalten, weil sie fast die Hälfte ihrer Plätze
verloren haben und eine Blockade von Präsi-
denten- und Regierungsgesetzentwürfen auch
mit der Unterstützung der Agrarpartei und der
Gruppe „Volksdeputierte“ kaum möglich war.
Unter diesen Umständen änderte die Fraktion
schnell ihre Strategie und ging eine Koalition
mit der Pro-Präsidentenpartei „Einheit/ Der
Bär“ sowie der Gruppe „Volksdeputierte“ ein
gegen den Gouverneursblock „Vaterland – Das
ganze Russland“, die SPS sowie JABLoko.
Die Kommunistische Partei unterstützte
fast alle Gesetzesentwürfe der Regierung,
im Gegenzug konnte der kommunistische
Dumapräsident G. Seleznew sein Amt behalten. Die anderen Fraktionen, welche an
dieser Koalition nicht teilgenommen haben,
boykottierten die Dumasitzungen für mehrere
Wochen und bekamen letztendlich die Möglichkeit, jeweils einen Ausschussvorsitzenden
zu benennen. So wurden B. Nemzow (SPS)
und V. Lukin ( JABLoko) als Stellvertreter des
Dumavorsitzenden gewählt. Allerdings hatte
der Präsident in der Duma von 1999 wenig
Schwierigkeiten mit der Verabschiedung von
Gesetzen: So wurden solche für die Entwicklung des modernen Russlands grundlegenden
Gesetze angenommen wie z. B. der Grundund-Boden-Kodex und das Parteiengesetz.
Außerdem wurde eine grundlegende föderale
Reform durchgeführt, die die Spielräume der
Gouverneure deutlich einschränkt (Michaleva
2000:88).
Die vierten Wahlen der Staatsduma
von 2003 waren stark von der VerabSeite
schiedung des neuen Parteiengesetzes
von 2001 geprägt, das die Parteienlandschaft Russlands sichtbar
veränderte. Auf dessen Grundlage wurden
existierende Parteien teilweise zur Umstrukturierung und Konsolidierung oder sogar
15
Institutionelle Bedingungen
Seite
zum Rückzug aus dem politischen Leben gezwungen. An den Wahlen der vierten Duma
haben 23 Wählervereinigungen teilgenommen, von denen vier die Fünf-Prozent-Hürde
überwanden (die Einheitspartei Russlands –
die umstrukturierte Partei „Einheit / der Bär“,
die Rodina, die LDPR und die KPRF).
profitierten, z. B. von längeren Sendezeiten im
Fernsehen (Mommsen 2004:191).
Das folgende Ergebnis war daher nicht besonders überraschend: Die absolute Mehrheit im
Parlament hatte die Machtpartei „Einheitspartei Russlands“ erworben. Weitere Resultate waren: eine Halbierung der Stärke der
Kommunistischen Partei in der Listenwahl,
eine vollkommene Niederlage der liberalen
Parteien sowohl rechter als auch linker Gesinnung (die JABLoko, die SPS) sowie der Erfolg
von politisch-populistischen Projekten wie der
Partei „Rodina“ („Heimat“) und „Veteranen“
von der LDPR (Makarenko 2004:227).
Die Besonderheit der Dumawahl von 1999
war die Konkurrenz zwischen einer alten und
zwei neuen Parteien der Macht (Mommsen
2004:193). Während die Partei „Unser Haus
– Russland“ ihr politisches Gewicht sowie
den Zugriff auf „administrative“ Ressourcen
verloren hatte, war die Partei „Vaterland – Das
ganze Russland“ erfolgreicher. Das wichtigste
Ereignis von 1999 war die Bildung des ProPutin-Blocks „Einheit/ Der Bär“ als neue
Variante einer „Machtpartei“ und Alternative
zum Pro-Gouverneurs-Block „Vaterland - Das
ganze Russland“.
Wie in allen Transformationsländern strebt
die Macht nach einer „administrativen“ Parteigründung, die nicht die Interessen einer
Gesellschaftsgruppe vertritt, sondern denen
der herrschenden Elite dient. Dieses Bestreben hat sich beständig in jedem Wahlzyklus
auf Staats- und Landesebene wiederholt
(Michaleva-Luchterhandt 2003:201, Mommsen 2003:57f.). In der ersten Duma trugen die
Parteien „Demokratische Wahl Russlands“ und
„Partei der Russländischen Einheit und Eintracht“ einen machtloyalen Charakter.
Beide konnten die Fünf-Prozent16
Hürde bereits bei der zweiten Dumawahl nicht mehr überwinden. Die
Bezeichnung „Partei der Macht“ oder
„administrative“ Partei haben sie bekommen,
weil diese beiden Parteien in der Wahlkampagne von 1993 quasi als „Regierungsparteien“
In der zweiten Duma ging als vierte Siegvereinigung die neugegründete Machtpartei „Unser
Haus – Russland“ hervor, die als „rechtszentriert“ positioniert wurde.
Der Gewinn von der „Einheit/ Der Bär“ bei
den Wahlen von 1999 erbrachte den Beweis,
dass die Strategie der Parteienbildung nach
dem „administrativen“ Prinzip rationell sei
(Golosow / Lichtenstejn 2001:8f.). Deswegen
wurden die zwei „administrativen“ Parteien
„Einheit“ und „Vaterland“ vor der Wahl von
2003 trotz unterschiedlicher Ansichten über
eine gemeinsame Parteienstruktur zur Fusion
gezwungen. Gleichzeitig zerfiel das Bündnis
„Das ganze Russland“ (Makarenko 2002:106).
Besonderes Merkmal der Konstituierung von
Machtparteien war die Bildung einiger „administrativer“ Parteien in unterschiedlichen
Teilen des politischen Spektrums (Mommsen
2004:190ff.). Vor der Wahl 1995 wurden zwei
Machtparteien gegründet – die Mitte-RechtsPartei „Unser Haus – Russland“ und die
Semenova
Mitte-Links-Partei „Harmonie“, wobei nur die
erstgenannte in der zweiten Duma vertreten
war. Das zweite Projekt scheiterte vollkommen. Als Beispiel der Dumawahl von 2003 ist
die Neugründung der Demokratischen Partei
Russlands unter der putintreuen Leitung als
Alternative zu den liberalen JABLoko und
SPS zu benennen, während für linksorientierte
Wähler eine andere ebenfalls Pro-Putin-Partei
namens „Volkspartei Russlands“ gegründet
wurde.
Generell folgt aus der Dominanz der „Pro-Präsidentenparteien“ in der politischen Landschaft
Russlands eine allgemeine Schwächung der
politischen Konkurrenz und Begrenzung der
Artikulationsfunktionen derjenigen Parteien
mit der „richtigen“ Programmatik (Michaleva
2000:93).
Parteiensystem Deutschlands
Die Entwicklung des Parteiensystems in
Deutschland hat mehr Zeit in Anspruch genommen als das in Russland (von Alemann
2000; Fenske 1994; Rohe 2002). Außerdem
hat es viele Brüche erlebt, die in seiner Struktur
beträchtliche Spuren hinterlassen haben, wenn
die gesamte Entwicklungsperiode seit dem
19. Jahrhundert betrachtet wird. Wird nur die
Parteiengenese in Westdeutschland betrachtet,
ist das deutsche Parteiensystem trotz aller
Wandlungsprozesse durch einen hohen Grad
an Beständigkeit gekennzeichnet (Niedermayer 2006:109).
Die Weimarer Republik mit ihrem Vierparteiensystem, das zu vielen Minderheitsregierungen führte (von Alemann 2000:37), befand
sich schon vor dem Nationalsozialismus in
einem prekären Zustand (Rudzio 2006:111).
Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik waren die Regierungsstabilität und die
geringe Parteienzersplitterung von großer
Bedeutung (Poguntke 2005:630). 1949 haben
von 15 Parteien, die an der Wahl teilnahmen,
nur zehn Parlamentsmandate errungen (Nohlen 2007:334). Die Parteien CDU/ CSU, SPD
und FDP erreichten bei der ersten Wahl 72
Prozent der Stimmen, die Deutsche Partei
und die Bayern-Partei waren regional von
beachtlichem Erfolg gekrönt.
Außerdem mussten die Parteien durch das
neue Wahlgesetz ab 1953 fünf Prozent der
gültigen Stimmen auf der Bundesebene - und
nicht auf der Landesebene wie noch bei den
Bundestagswahlen von 1949 - bekommen, um
ins Parlament einziehen zu können (Niedermayer 2000: 111). Dementsprechend haben
1953 nur sechs der 17 und 1957 vier der 14
zur Wahl angetretenen Parteien Mandate im
Bundestag erhalten (Nohlen 2007: 334). In
der Konsequenz entwickelte sich durch die
Eliminierung der kleinen und die Machtkonzentration innerhalb der drei Parteien –
CDU/ CSU, SPD und FDP – ein klassisches
Zweieinhalbparteiensystem (Blondel 1990)
in Deutschland. Die Innen- und Außenpolitik Adenauers hatte die Konzentration
des Parteiensystems zur Folge, da die CDU/
CSU die einzige Partei Deutschlands war,
die eine absolute Mehrheit bei den
Parlamentswahlen von 1957erreichte
Seite
( Jesse 1997:71; Poguntke 2005:630).
Für
diese
Parteikonzentration
waren die folgenden Faktoren verantwortlich: die Polarisierung zwischen der
Kanzlerpartei und der oppositionellen SPD,
das „Wirtschaftswunder“ sowie die Fünf-
17
Institutionelle Bedingungen
Prozent-Klausel. Außerdem erschienen konfessionelle Unterschiede als zweitrangig und
entzogen damit dem Zentrum die Grundlage.
Auch das regionale Sonderbewusstsein hatte
weniger Bedeutung (Rudzio 2006:117). All
dies und das Verbot der KPD und SRP sowie
der Rückgang der Protestwähler haben die
Polarisierung des Parteiensystems verringert
(Niedermayer 2002:108).
Bis zum Einzug der Grünen ins Parlament
war das Parteiensystem Deutschlands durch
eine „fast perfekte Erfüllung der Regierungsbildungsfunktion“ gekennzeichnet (Poguntke
2005:631), da im Bundestag vertretene
Parteien prinzipiell allseitig koalitionsfähig
waren (Niedermayer 2002:108). Seit 1983 fing
ein Dezentralisierungsprozess des Parteiensystems an (Scarrow 2002:78), welcher auch
durch den Wahlerfolg der PDS (zuerst nur auf
der Basis der Direktmandate) verstärkt wurde.
Die Dekonzentration des Parteiensystems in
Deutschland ist die Folge der strukturellen
Umgestaltungsprozesse in der Gesellschaft,
des Bedeutungsverlustes klassischer und der
Entstehung neuer ökologischer bzw. regionaler
Konfliktlinien (Nohlen 2007:338).
Seite
Nach 1990 wurde das Parteiensystem durch
ein regionales Dreiparteiensystem in den
neuen Bundesländern ergänzt. Die ostdeutschen Parteien vereinigten sich teilweise nach
Fusionen untereinander mit den entsprechenden westdeutschen Parteien.
18
So schlossen sich die DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands)
und die Bürgerrechtsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ an die Ost-CDU an, die
sich ihrerseits wiederum mit der West-CDU
vereinigte. Die 1989 in der DDR gegründete
SDP fusionierte mit der SPD. Die Liberal
Demokratische Partei Deutschlands, die sich
1990 zum „Bund Freier Demokraten“ umbenannte, vereinigte sich mit der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“. Der „Bund
Freier Demokraten“, die Ost-FDP sowie die
Neue Deutsche Forumspartei gingen später mit
der West-FDP zusammen. Schließlich bildeten
die Grünen und Bürgerbewegungen der DDR
zur Bundestagswahl von 1990 „Das Bündnis
90/ Grüne“ und das Jahr darauf schloss es sich
mit denen der alten Länder.
Die PDS, Nachfolgepartei der SED, überlebte
als regionale Partei in den neuen Bundesländern. Indem sie sich dort als drittgrößte Partei
(Scarrow 2002:92) nach der FDP und den
Grünen etablierte, kann von einem regionalen
Parteiensystem in den neuen Bundesländern
gesprochen werden (Rudzio 2006:125).
Die seit 1980 stetig sinkende Wahlbeteiligung
und die Zunahme des Anteils an Wechselwählern trugen zur Schwächung der großen
Volksparteien bei, außerdem schien die Parteienidentifizierung zweitrangig. Alles in allem
haben die sozial-ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse, der Wertewandel
(Niedermayer 2002:118ff.), die Säkularisierung
insbesondere der CDU ( Jagodzinski / Quandt
2000:179) sowie die Individualisierung zu einer Verminderung der Stammwählerschaft von
großen Parteien geführt (Weßels 2000:148f.).
Das Parteiensystem Deutschlands wurde durch
drei Hauptfaktoren zwischen 1989 bzw. 1990
verändert: den parlamentarischen Erfolg der
Grünen, die Wiedervereinigung Deutschlands
sowie die Schwächung der großen Volksparteien
(Rudzio 2006:123). Das aktuelle Parteiensy-
Semenova
stem kann als das „fluide Fünfparteiensystem“
(Niedermayer 2002:126) definiert werden, das
sich durch folgende Charakteristika kennzeichnet: eine relativ niedrige Polarisierung,
eine offene Wettbewerbssituation zwischen
den beiden großen Parteien einerseits und den
drei kleinen (FDP, PDS und Bündnis/Grüne)
anderseits, eine regionale Diskrepanz in der
Vertretung von einigen Parteien (Grüne und
FDP im Osten und PDS im Westen) sowie
eine Inklusion der Grünen und – wahrscheinlich – der PDS.
Rechtsstellung der Abgeordneten
Im deutschen Nationalparlament sind es
die Fraktionen als Machtzentren, die über
das „Wohl und Wehe des Abgeordneten“
(Hamm-Brücher 1989:688) entscheiden und
die Funktionsfähigkeit des Parlaments nach
innen und außen prägen. Aus der Praxis der
Parteiendemokratie geht die Fraktionsbildung
auf der Parteienbasis hervor: Die Fraktionen
sind „die Erscheinungsformen der politischen
Parteien im Parlament“ (Arndt 1989:653),
die Vereinigungen von Abgeordneten, die
derselben Partei angehören oder Parteien, die
aufgrund der gleichen Ziele in keinem Land
miteinander konkurrieren (Ismayr 2000:97).
Die Abgeordneten schließen sich bei der
Bundestagsbildung zu Fraktionen zusammen.
Seit 1990 ist die in der Geschäftsordnung festgelegte Mindeststärke von 34 Abgeordneten
(früher – mindestens fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages) für die Bildung einer
Fraktion notwendig (Ismayr 2000:96).
Die Verhältnisse zwischen einzelnen Abgeord-
neten und Fraktionen werden durch die Geschäftsordnung des Bundestages, Arbeits- und
Geschäftsordnungen der Fraktionen sowie
durch das Abgeordnetengesetz reguliert. Das
politische Leben im Parlament wird maßgeblich von den Fraktionen geprägt, deswegen
wird von der „Ohnmacht der Abgeordneten“
im Vergleich zur Macht der Fraktionen und
den diese prägenden politischen Parteien gesprochen (Hamm-Brücher 1989:691).
Die Verfahrens- und Organisationsfragen
des russischen Parlaments werden von der
Geschäftsordnung sowie vom Föderalen
Gesetz über den Status der Deputierten der
Staatsduma reguliert. Diese die Parlamentstätigkeit regulierenden Dokumente wurden
im Zeitverlauf mehrmals ergänzt (von Steinsdorff 2002:271) und inzwischen komplett
novelliert.
In diesen Dokumenten ging es darum, die
verschiedenen Organisationsmöglichkeiten
von Abgeordneten innerhalb der Duma zu
definieren, die an unterschiedliche Ressourcen
und Spielräume gekoppelt waren. Es wurde
nach politischen Einflussmöglichkeiten der
Fraktionen, Abgeordnetengruppen und unabhängigen Abgeordnetenpositionen unterschieden, wobei diejenigen Parteien, welche
die Wahl gewonnen hatten, die privilegierte
Position innehatten. Laut Geschäftsordnung
der Staatsduma von 1994 und 1998
bekamen alle Parteien und WähSeite
lervereinigungen, welche die FünfProzent-Hürde übersprungen hatten,
unabhängig von ihrer Größe den Fraktionsstatus. Die Abgeordnetengruppen, die erst nach
der neuen Dumaformation gegründet wurden,
durften im Vergleich zur Parteienfraktionen
19
Institutionelle Bedingungen
praktisch keinen Anspruch auf Leitungspositionen haben. Gleichzeitig wurde die Mindeststärke auf 35 Parlamentarier festgelegt,
die für die Bildung einer Abgeordnetengruppe
oder einer Abgeordnetenvereinigung notwendig waren (von Steinsdorff 2002:273). Die
doppelte Mitgliedschaft in Fraktionen und
Gruppen wurde ausgeschlossen. Seit 2007
gehören zu einer Fraktion alle Abgeordneten
einer Partei, die per Parteiliste gewählt wurden
(GSRF 2007:Art.16).
Im Bundestag gehört die Besetzung der Parlamentsausschüsse zur Fraktionskompetenz
(Arndt 1989:648). Entsprechend werden die
Ausschüsse nach dem Stärkeverhältnis der
Fraktionen besetzt, wobei jede Fraktion mindestens mit einem Grundmandat berücksichtigt wird (Ismayr 2000:97).
Seite
In der modernen Parlamentsforschung steht
geschrieben, je komplizierter die Ausschussstruktur und je mehr Ausschüsse es im Parlament gibt, desto stabiler sei die Legislatur
(Price 1985:165fffff.; Olson / Mezey 1991:209;
Norton / Olson 1996:238). Die Ausschüsse der
Staatsduma Russlands werden thematisch zu
Beginn jeder Legislaturperiode neu festgelegt
und richten sich nach der Ressortgliederung
der Staatsregierung. In dieser Arbeit sind alle
Parlamentarier verpflichtet teilzunehmen, mit
Ausnahme des Parlamentspräsidenten, seines
Stellvertreters und des Vorsitzenden
der Abgeordnetenvereinigungen. Je20
doch ist dabei die Mehrfachmitgliedschaft rechtlich untersagt. Die Besetzung der Ausschüsse wurde bis 2007
nach einem Bonuspunktsystem reguliert: Jede
Abgeordnetengruppe oder Fraktion erhielt
Punkte, die ihrer Mandatszahl entsprechen
(Ostrow 2000:103f.). Diese Punkte konnten
entweder auf einen bestimmten, besonders
für eine einzige Gruppe wichtigen Ausschuss
oder auf ein möglichst breites Spektrum von
Ausschüssen verteilt werden. Dabei bekam
den Vorsitz im Ausschuss diejenige Gruppe,
welche die meisten Punkte investiert hat (von
Steinsdorff 2002:276). Laut Geschäftsordnung
der Staatsduma von 2007 besteht ein Ausschuss aus mindestens zwölf und maximal 35
Abgeordneten (GSRF 2007:Art.21). Mit der
Geschäftsordnung der Staatsduma von 2007
wurde das neue Verfahren der Ausschussbesetzung eingeführt: Ab 2007 gilt die Wahl per
Mehrheitsprinzip innerhalb der Staatsduma
(GSRF 2007:Art.22).
Aufgrund der Tatsache, dass Fraktionen freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten
sind, kann es der Fraktion nicht verboten
werden, Abgeordnete aus der Fraktion auszuschließen (Arndt 1989:656). Parlamentarier,
die entweder ein „freies“ Mandat haben oder
aus der Fraktion ausgeschlossen wurden, haben
weniger Möglichkeiten zur Professionalisierung und Parlamentssozialisierung. Weil die
Tätigkeit eines Mandatsträgers weitgehend
von den Fraktionen geprägt ist, kann nicht
von einem „freien“, sondern nur von einem
parlamentarischen Mandat gesprochen werden
(Schneider 1983:239ff, 254).
Die starke Abhängigkeit des Abgeordneten
von seiner Partei und später von seiner Fraktion
geht aus dem Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit und Mandatserwerb hervor.
Nach dem Bundeswahlgesetz haben Parteien
das Privileg zur Kandidatennominierung sowie
Wahlvorschlagserstellung. Ein unabhängiger
Kandidat kann erst dann ein Mandat erwer-
Semenova
ben, wenn er bei einer nicht an Landeswahlvorschläge gebundenen Wahl die Mehrheit der
Erststimmen im Wahlkreis bekommt, so das
Bundeswahlgesetz (Hamm-Brücher 1989:697).
In diesem Fall soll ein unabhängiger Kandidat
mit dem Parteiunterstützungsapparat konkurrieren, demzufolge im Bundestag ein unabhängiger Parlamentarier eher eine Ausnahme
als die Regel ist. Die Bindung eines Abgeordneten an der Partei bei dem Mandatserwerb
wird im Parlament in Form der Bindung an
die Fraktion fortgesetzt, die von ihrer Seite
wiederum zur parlamentarischen Willensbildung gemäß der Parteienpräferenzen beiträgt
(Hamm-Brücher 1989:697).
Gemäß des Abgeordnetengesetzes und der
Geschäftsordnung der Staatsduma sind unabhängige Parlamentarierpositionen zu definieren. Es ist anzumerken, dass sowohl das „freie“
als auch imperative Mandat eine Grauzone
im russischen Rechtssystem war. Erst später
wurden verschiedene Formen der Kandidatennominierung bei den Wahlen rechtlich geregelt. Laut Abgeordnetenwahlgesetz von 1999
wurde bezüglich der Ein-Mandatswahlkreise
festgelegt, dass als Kandidatennominierung
sowohl die Selbstnominierung als auch die
Nominierung durch die Bevölkerung des
Wahlkreises galten. Die Abgeordneten, die
sich selbst als Kandidat ins Parlament im EinMandat-Wahlkreis nominierten und gewählt
wurden, galten als unabhängige Parlamentarier.
Demgegenüber galt für Listenkandidaten die
Nominierung (FG AW 1999, Art. 7) sowohl
durch Parteien als auch durch Wählervereinigungen.
Die Konzentration der innenparlamentarischen
Tätigkeit auf Fraktionen und Abgeordneten-
gruppen sowie die generelle Offenheit dieser
Organisationsformen führten dazu, dass in
allen Legislaturperioden die Zahl der unabhängigen Abgeordneten rückläufig war (von
Steinsdorff 2002:274). Letztendlich mussten
die unabhängigen Abgeordneten entweder
in einer Fraktion oder in einer Gruppe mitwirken, da anderenfalls nahezu keine Chance
zur politischen Professionalisierung bestand
(Ostrow 2000:102).
Nach der Verabschiedung des neuen Parteiengesetzes von 2001 und des Abgeordnetenwahlgesetzes von 2005 wurde das Wahlsystem
Russlands dahingehend verändert, dass alle
Ein-Mandats-Wahlkreise abgeschafft wurden
und als einzige Nominierungssubjekte die laut
Parteiengesetz von 2001 umstrukturierten
Parteien und Wählerblöcke galten. Diese
Prinzipien schlossen die Möglichkeit aus, als
unabhängige Abgeordnete gewählt zu werden.
Außerdem wird ein Abgeordneter aus der
Fraktion ausgeschlossen, verliert er das Parlamentsmandat (GSRF 2007:Art.18).
Gemäß des GOBRat. (§ 2) ist die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag und
Bundesrat untersagt. Demgegenüber herrscht
keine Inkompatibilität zwischen gleichzeitiger Mitgliedschaft im Parlament und in der
Bundesregierung. Eine weitere Inkompatibilitätsregelung betrifft das Amt eines Bundesund Landesabgeordneten. Gemäß
Art. 137 I GG ist die Wählbarkeit
Seite
von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Soldaten und
Richtern auf Bundes-, Länder- und
Gemeindeebene beschränkt. Dieser Artikel
verfolgt die strikte Trennung von öffentlichem
Dienst und politischer Tätigkeit und wurde
21
Institutionelle Bedingungen
aufgrund des Drucks durch die Besatzungsmächte in die deutsche Verfassung aufgenommen (Tsatsos 1989:704). Andererseits haben
wirtschaftliche Inkompatibilitäten – zum
einen Formen der geschäftlichen Anbindung
eines Angeordneten an den Staat und zum
anderen privatökonomische Bindungen des
Parlamentsmitglieds – im deutschen Recht
keinen Eingang gefunden (Tsatsos 1989:725f.;
Roll 1989:615ff.).
Laut des Gesetzes darf kein Abgeordneter im
Staatsdienst stehen und gleichzeitig eine andere bezahlte Tätigkeit ausüben, mit Ausnahme
einer wissenschaftlichen, künstlerischen oder
Lehrtätigkeit. Dies begründet sich darauf, dass
die Abgeordneten im russischen Nationalparlament hauptberuflich tätig sind (FG SD
1999, Art.6). Aus dem gleichen Grund ist es
verboten, neben einer Tätigkeit im regionalen
Parlament noch anderweitig beschäftigt zu
sein.
Seite 22
Semenova
Seite 23
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
Ausbildung
Soziodemografische Merkmale
geordneten
Seite 24
A
2
der
Ab-
us der Elitenforschung ist bekannt,
dass sich politische Führungskräfte
systematisch von der Wählerschaft
unterscheiden. Dies gilt im Besonderen für
deren Bildungsstand. Repräsentationseliten
werden bevorzugt aus dem Kreis der höheren
Bildungsschichten rekrutiert. Es kann geschlussfolgert werden, dass das Bildungsniveau deutscher Abgeordneter weit über dem
der Bevölkerung liegt (Schmidt 2007:138).
Generell ist festzustellen, dass die meisten
deutschen Parlamentarier einen Hochschulabschluss besitzen. Wenn es unmittelbar nach
der Wiedervereinigung noch deutliche Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen
Abgeordneten gegeben hat, so haben sich
diese binnen 15 Jahren nivelliert. 1990 hatten
noch 88 Prozent aller Ostparlamentarier eine
Universität oder Hochschule absolviert, während der westdeutsche Durchschnitt um 14
Prozentpunkte niedriger lag. Seit 1990 haben
sich gegenläufige Entwicklungen vollzogen:
Im Gegensatz zu Westdeutschland verringerte
sich der Akademikeranteil im Parlament im
Osten auf aktuell ungefähr 80 Prozent. Der
Anteil der Abgeordneten, die einen mittleren
Bildungsabschluss haben, liegt im Westen über
die Jahre hinweg bei ungefähr 15 Prozent,
während er im Osten kleiner geworden ist und
durchschnittlich bei 10 Prozent liegt. Werden
die einzelnen Parteien betrachtet, so ist zu
erkennen, dass die kleinen Fraktionen – PDS/
Die Linke, FDP und Bündnis90/ Die Grünen
– den höchsten Akademikeranteil besitzen;
dies gilt gleichermaßen für den Westen wie den
Osten. Bei den Abgeordneten der CDU/ CSU
und der SPD gibt es Ost-West-Unterschiede
im Bildungsniveau: Der Anteil der Hochschul-
Rademacher
Semenova
absolventen liegt unter den Ostdeutschen um
etwa zehn Prozentpunkte über dem jeweiligen
westdeutschen Durchschnitt.
Die Abgeordneten der russischen Staatsduma besitzen ein enorm hohes formales
Bildungsniveau nicht nur im Vergleich zu
deren Bevölkerung, sondern auch im Vergleich
zu ihren deutschen Kollegen. Die Zahl der
Hochschulabsolventen im Parlament liegt
durchschnittlich bei 96 Prozent und ist im
Zeitverlauf tendenziell weiter gestiegen. In der
ersten Duma 1993 hatten 93 Prozent der Abgeordneten einen Hochschulabschluss und in
der vierten Legislaturperiode sogar 99 Prozent.
Damit kann ein Universitätsabschluss in der
Russischen Föderation buchstäblich als notwendige, allerdings noch nicht hinreichende
Voraussetzung für die Übernahme eines Mandats gelten. Dies gilt nicht nur für Parteien, die
sich von Anfang an auf einen akademischen
Wählerstamm gestützt haben (wie JABLoko
und die Union der Rechten Kräfte), sondern
auch für die Kommunistische Partei (KPRF)
und sogar die Agrarpartei Russlands. Den
niedrigsten Bildungsstand aller Parlamentsparteien haben die Abgeordneten der extrem
rechten Partei „Liberal-Demokratische Partei
Russlands“ (LDPR); aber auch unter Schirinowskijs Fraktionskollegen sind 92 Prozent
graduiert.
Die wachsende Nachfrage nach Hochschulabsolventen bei der Rekrutierung von
Parlamentariern liegt im europäischen Trend
(Best/Cotta 2000:497ff.). Die Parteien als
Gatekeeper für die Vergabe parlamentarischer
Mandate rekrutieren bevorzugt gut gebildete
oder sogar promovierte Kandidaten für die zukünftige Parlamentsarbeit (Norris/Lovenduski
1995: 113). Ein wichtiger Grund dafür ist,
dass ein Hochschulabschluss mit bestimmten
Fähigkeiten in Verbindung gebracht wird, die
für eine hauptamtliche politische Tätigkeit
wichtig sind, wie beispielsweise rhetorische
und analytische Kompetenzen. Der Bildungsstand von Parlamentariern wird daher als ein
Qualitätsmerkmal betrachtet (Schmidt 2007:
138). In diesem Zusammenhang ist auf eine
Besonderheit der russischen Politiker zu
verweisen: Viele von ihnen besitzen nicht
nur einen, sondern zwei und mehr Studienabschlüsse, teilweise sogar mehrere akademische
Titel. Gleichwohl sind die entsprechenden
Zahlen im Zeitverlauf gesunken. Hatten 1993
beinahe 53 Prozent der Eliten unter Jelzin
einen akademischen Grad, waren es 2002 –
schon in der Putin-Ära – lediglich noch 21
Prozent der neuen Elite, die einen Titel trugen
(Kryschtanowskaja 2005:154).
Auffällige Unterschiede zwischen den Mandatsträgern aus Ost- und Westdeutschland
bestehen bezüglich der Studienfächer. Während unter den westdeutschen Abgeordneten
die Absolventen geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer dominieren, besitzen die
meisten Ostdeutschen naturwissenschaftliche
und medizinische Abschlüsse. Es ist interessant, dass ehemalige Jura-Studenten fast 30
Prozent der westdeutschen Parlamentarier
stellen, während sich ihr Anteil unter
den Ostdeutschen nur auf sechs ProSeite
zent beläuft. Zu einer Angleichung
zwischen west- und ostdeutschen
Mandatsträgern ist es hier seit 1990 nicht
gekommen. Allerdings sind unter den neu
gewählten Abgeordneten aus Ostdeutschland
mittlerweile westdeutsche Muster zu erken-
25
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
nen: Der Anteil von Absolventen der Geistesund Sozialwissenschaften nimmt zu, während
es allmählich weniger Naturwissenschaftler
und Mediziner gibt.
Bezüglich der Studienfachwahl russischer
Parlamentarier, ergibt sich ein ähnliches Bild
wie in Ostdeutschland. Die meisten Abge-
ordneten haben einen Abschluss im Bereich
der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Nur
etwa ein Drittel aller Mitglieder der Staatsduma hat sozial-, wirtschafts- oder geisteswissenschaftliche Fächer studiert. Ehemalige
Jura-Studenten sind unter den Abgeordneten
weniger gut repräsentiert; ihr Anteil beträgt
nur noch etwa zwölf Prozent.
Grafik 1: Studienfächer (Naturwissenschaften) in Deutschland (Ost/ West)
und Russland im Zeitverlauf (in Prozent)
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
1988
1990
1992
1994
Westdeutschland
Quelle: Eigene Darstellung
Seite 26
1996
1998
2000
Ostdeutschland
2002
2004
Russland
2006
Rademacher
Semenova
Wie erklären sich die Unterschiede bei der
Studienfachwahl? Wenn Jura über Jahre
hinweg das häufigste Studienfach der westdeutschen Eliten allgemein (Hoffmann-Lange
1991:141) und unter den Parlamentariern
im Besonderen gewesen ist, so weist dies für
Westdeutschland auf die besondere Bedeutung
juristischer Kenntnisse für Führungspositionen
in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen
einschließlich der Politik hin. Die geringe Zahl
von Juraabsolventen ist ebenso wie die hohe
Zahl an Ingenieuren unter den ostdeutschen
und russischen Parlamentariern wiederum ein
Effekt der realsozialistischen Vorgängerregime
und ihrer Ausbildungspolitik. So wurden die
naturwissenschaftlichen Fächer im DDR- und
sowjetischen Regime als strategisch bedeutend
für die Entwicklung des Systems betrachtet
und daher vom Staat aktiv gefördert (Lock
1998:95f.). Zum anderen gehörten die technischen Studiengänge und Berufe zu den relativ ideologie- und systemneutralen Qualifikationen (Welzel 1997: 211), die gleichzeitig aber
in der kommunistischen Gesellschaft ein hohes
Berufsprestige genossen (Steiner 1996:455, vgl.
Levada 2001).
von anfänglichen 20 Prozent um ungefähr die
Hälfte gestiegen. Dieser deutliche Aufwärtstrend ist einerseits einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilität für geschlechtsspezifische
Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft
allgemein zu verdanken und in den politischen
Parteien im Besonderen. Anderseits resultiert
er aus den Geschlechterquoten, die während
der 1990er-Jahre Eingang in die Parteistatuten nahezu aller im Bundestag vertretenen
Parteien gefunden haben (Best / Hausmann /
Schmitt 2000:177) – mit Ausnahme der FDP.
Geschlecht
Die Ost-West-Unterschiede waren im Bereich der parlamentarischen Repräsentation
von Frauen zunächst gering. Erst seit 1998 hat
sich eine Diskrepanz ergeben, wobei der Frauenanteil unter den Ostabgeordneten um bis zu
zehn Prozentpunkte höher liegt als unter den
Bundestagsabgeordneten aus Westdeutschland. Der Frauenanteil unter ihnen ist bis zur
15. Legislaturperiode gestiegen und erreichte
2002 mit fast 32 Prozent den bislang höchsten
Wert, danach sank er geringfügig. Unter den
ostdeutschen Mandatsträgern ist der Anteil
von Frauen stetig gestiegen und liegt aktuell
bei 41 Prozent – und ist damit nahezu doppelt
so hoch wie direkt nach der Vereinigung.
Gänzlich verschiedene Entwicklungen haben
sich im deutsch-russischen Vergleich bei der
parlamentarischen Repräsentation von Frauen
ergeben. Im Deutschen Bundestag ist der
Frauenanteil seit 1983 kontinuierlich gestiegen
(Christmas-Best 2006:499) und hat 1998 31
Prozent erreicht. Seitdem stagniert der Anteil
bzw. die Zahl der weiblichen Abgeordneten ist
sogar etwas gesunken. Wird nur die Zeit seit
der Wiedervereinigung betrachtet, so ist der
Frauenanteil im gesamtdeutschen Bundestag
Die Veränderungen im Zeitverlauf stehen zum
Teil mit den Wahlresultaten von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und PDS in Verbindung,
welche traditionell mehr Frauen für
ihre Parlamentsfraktionen rekrutieren
Seite
als die bürgerlichen Parteien. Bündnisgrüne und PDS stellen die beiden
einzigen Fraktionen, denen Männer
und Frauen in etwa gleicher Zahl angehören.
In den Reihen der SPD ist der Anteil weiblicher Abgeordneter unter den ostdeutschen
27
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
Parlamentariern seit 1990 um fast 16 Prozentpunkte gestiegen und erreichte 2002 mit 40
Prozent einen geringfügig höheren Wert im
Vergleich zu den westdeutschen Sozialdemokraten. Danach gab es leichte Schwankungen
in beiden Landesteilen.
In der CDU/ CSU-Fraktion hat sich der
Frauenanteil nicht ganz so deutlich erhöht.
Hier lag das Ausgangsniveau bei 14 Prozent
unter ost- wie westdeutschen Delegierten und
erhöhte sich bis zur vierten Legislaturperiode
auf 31 Prozent (MdB aus den neuen Ländern)
und 22 Prozent (westdeutsche MdB). Erst in
der aktuellen Wahlperiode ist der Anteil wieder
gesunken, am stärksten unter den ostdeutschen
Christdemokraten. Zum anderen ist es als
innenpolitischer Unterschied zwischen alten
und neuen Ländern zu erklären. So zogen im
Osten deutlich mehr CDU-Kandidatinnen in
den Bundestag ein als im Westen.
Grafik 2: Frauenanteil in Deutschland (Ost/ West) im Parteienvergleich (in Prozent)
50
40
30
20
10
0
1990
CDU/CSU -West
Quelle: Eigene Darstellung
Seite 28
1994
1998
CDU-Ost
2002
SPD-West
2005
SPD-Ost
Rademacher
Semenova
Während sich die soziale Zusammensetzung
der politischen Eliten unter Putin teils deutlich
zu der unter Jelzin unterscheidet, gilt das für die
parlamentarische Repräsentation von Frauen
nicht. Hatten 1993 noch drei Prozent Frauen
Spitzenpositionen bekleidet, waren es 2002
weniger als zwei Prozent (Kryschtanowskaja
2005:154). Die massive Unterrepräsentierung
der Frauen innerhalb der russischen Eliten
bestätigt sich auch bei der Analyse der Staatsduma Russlands. Der Anteil von weiblichen
Abgeordneten liegt hier im Schnitt bei zehn
Prozent, der höchste Wert wurde in der ersten
Staatsduma 1993 erreicht und betrug damals 13
Prozent; seitdem ist der Frauenanteil tendenziell gesunken. Damit gehört die Staatsduma zu
den ganz wenigen postkommunistischen Parlamenten, in denen sich die Repräsentation von
Frauen seit dem Systemwechsel nicht deutlich
erhöht hat (Ilonszki / Edinger 2007:150f.).
Was den Frauenanteil in den Parteien bzw.
Fraktionen anbelangt, haben die Kommunisten
kontinuierlich etwa zehn Prozent Frauen
rekrutiert. Auch in den Reihen von JABLoko
(im Schnitt 11 Prozent) und unter den parteienunabhängigen Kandidaten (zehn Prozent)
ist die Rekrutierung von Frauen durch große
Konstanz geprägt. Die Agrarier hatten bislang keine weiblichen Abgeordneten in ihren
Reihen mit Ausnahme der ersten Duma, als
ihrer Fraktion etwa sieben Prozent Frauen
angehörten. Von allen Fraktionen, die seit
1993 ins Parlament gewählt wurden, weisen
ansonsten die extrem-rechte LDPR und die
Pro-Präsidentenparteien mit jeweils weniger
als acht Prozent die niedrigsten Anteile von
Parlamentarierinnen auf.
Die schwache Rekrutierung von Frauen sowie
die in der Konsequenz männerdominierten
Parlamente lassen sich auf verschiedenste
Ursachen zurückführen. Es sind politischstrukturelle Merkmale wie beispielsweise das
Wahlrecht (Matland / Montgomery 2003)
und Spezifika der Parteienpolitik (Golosov
2001) bis hin zu Wahrnehmungsmustern innerhalb der Parteien, welche die Rekrutierung
von Frauen behindern (Vallance 1979, Norris /
Lovenduski 1995).
Seite 29
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
Grafik 3: Frauenanteil in der Staatsduma Russlands im Parteienvergleich (in Prozent)
60
50
40
30
20
10
0
1993
1995
Kommunisten
LDPR
1999
2003
JABLoko
Unabhängige Abgeordnete
Pro-Präsidentenparteien
Quelle: Eigene Darstellung
Seite
Der deutsch-russische Parlamentsvergleich
zeigt, dass das Niveau der Frauenrepräsentation in Russland nicht nur weit unter dem
ostdeutschen, sondern auch unter dem westdeutschen Schnitt liegt. Zum einen geht er auf
die unterschiedlichen Entwicklungsphasen
der beiden Ländern zurück: In der Weimarer Republik wurden schon direkt nach dem
Ersten Weltkrieg 1919 nahezu neun Prozent
der Frauen gewählt, danach folgt
eine lange etwa 60 Jahre dauernde
30
lethargische Pause, die 1983 endete.
Seitdem wächst durch verschiedene
Maßnahmen die Zahl der Parlamentarierinnen im Bundestag (Christmas-Best
2006:498f.). Im Ergebnis gehört der heutige
Deutsche Bundestag europaweit zu den zehn
Nationalparlamenten mit dem höchsten Frauenanteil (IPU 2008).
In der Sowjetunion gab es faktisch keine
Gender-Parität in den Eliten, ungeachtet
dessen, dass beide Geschlechter rechtlich
gleichgestellt waren, etwa hinsichtlich der
Hochschulausbildung oder beim aktiven und
passiven Wahlrecht (Lapidus 1978). In der
ersten Amtsperiode Jelzins zog 1993 zum einzigen Mal mit der Partei „Frauen Russlands“
eine solche ins Parlament, deren Programmatik
explizit auf die Gender-Thematik bezogen war.
De facto handelte es sich dabei um eine Nachfolgeorganisation des „Komitees Sowjetischer
Frauen“. Seitdem dauert die „Lethargiephase“
in der Repräsentation von Frauen an. Ein we-
Rademacher
Semenova
sentlicher Grund dürfte aus dem traditionellen
Verständnis der Geschlechterrollen resultieren,
das in der russischen Gesellschaft weiterhin
festzustellen ist. Dieses prägt nicht nur das Rekrutierungsverhalten von Parteien (Ajwasova /
Kertman 2000, Kochkina 1999), sondern auch
die Sozialisierung allgemein (Uspenskaja 1996,
Schvedova 2000). Hinsichtlich der institutionellen Faktoren, wie beispielsweise Wahlsystem,
ist Russland eine Ausnahme, da die Frauen
öfter in Ein-Mandat-Wahlkreisen erfolgreich
waren (Moser 2001), bei der Wahl in den
Deutschen Bundestag ist die Situation genau
umgekehrt (Edinder / Holfert 2005:31).
Ethnische Herkunft
Bei der Bundestagswahl von 2005 hatten fast
fünf Prozent der Kandidaten der im Parlament
vertretenen Parteien einen Migrationshintergrund. Über den größten Anteil an Kandidaten mit Migrationshintergrund verfügt die
Linkspartei (34 Kandidaten) (Wüst 2006:232).
Der Anteil von gewählten Parlamentariern
ist interessanterweise bei den Grünen, der
Linken sowie der SPD am höchsten, unter
den Unionsparlamentariern ist die Zahl von
Migranten am niedrigsten (Wüst 2006:233).
Insgesamt haben je 1,8 Prozent der Abgeordneten auf Bundes- sowie Landesebene einen
Migrationshintergrund (Wüst 2007:12). Da
fast 19 Prozent der Bevölkerung sowie zehn
Prozent der deutschen Bürger über einen Migrationshintergrund verfügen (Mikrozensus
2005), kann bei Parlamentariern mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag von
einer Unterrepräsentanz gesprochen werden.
Die ausschlaggebenden Gründe dafür sind
zum einen bei institutionellen Faktoren wie
dem Einbürgerungsrecht und Wahlsystem
Deutschlands, zum anderen beim Parteisystem im Allgemeinen und der Rekrutierungs- sowie Nominierungspraxis von Parteien im Besonderen zu verorten.
Im Unterschied zu Deutschland stellt die
Russländische Föderation einen Vielvölkerstaat dar, in dem fast 170 verschiedene
ethnische Gruppen leben. Damit weist
Russland wie viele postsowjetische Staaten
einen hohen Anteil von ethnischen Minderheiten auf. Im Unterschied etwa zu den
baltischen Staaten oder der Ukraine ist jedoch
keine einzelne ethnische Gruppe dominant
und nur ein Teil der größeren Minderheitengruppen verfügt über einen konationalen
Bezugsstaat. Die ethnischen Minderheiten
unterscheiden sich untereinander zudem
durch ihre Siedlungsstruktur (kompakt versus
zerstreut), ihre Religion (Muslime, Christen,
Juden usw.) und das Ausmaß ihrer Integration
in die Mehrheitsbevölkerung.
Insgesamt weist die Staatsduma einen hohen
Anteil von Abgeordneten auf, die nicht der
Titularnation angehören (Edinger/Kuklys
2007:165). Allgemein ist festzustellen, dass
die Vertretung ethnischer Minderheiten seit
1993 von zunächst 19 Prozent um fast zehn
Prozentpunkte gestiegen ist und durchschnittlich bei 22 Prozent liegt. Damit sind die ethnischen Minderheiten in der Duma insgesamt
schwach überrepräsentiert gewesen.
Am stärksten vertreten sind ethnische
Seite
Minderheiten unter den Abgeordneten der Pro-Präsidentenparteien und
in den Reihen der LDPR sowie unter
den parteienunabhängigen Parlamentariern.
Der Anteil der ethnischen Minderheiten an-
31
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
gehörenden Abgeordneten ist bei der LDPR
– mit Ausnahme von 1995, als ihr Anteil bei
acht Prozent lag – kontinuierlich gestiegen
und betrug 2003 bereits knapp 30 Prozent.
Erhebliche Steigerungsraten finden sich seit
1993 auch bei den Pro-Präsidentenparteien.
Hier ist der Anteil von Minderheiten seit
1993 um 14 Prozentpunkte größer geworden
und lag in der vierten Legislaturperiode bei
32 Prozent. In der Kommunistischen Partei
Russlands sowie unter den unabhängigen
Abgeordneten stellen diejenigen, die nicht der
Titularnation angehören, einen relativ hohen
Anteil, der allerdings im Zeitverlauf nahezu
unverändert geblieben ist. Etwa ein Viertel
der unabhängigen Parlamentarier entstammt
einer ethnischen Minderheit. Unter den
Kommunisten lag der Wert mehrere Jahre
lang konstant bei 15 Prozent. Angesichts der
LDPR-Wahlparole von 2003 „Wir sind für
die Russen, wir sind für die Armen“, ist die
Tatsache bemerkenswert, dass ein Drittel aller
Abgeordneten dieser Partei nicht der Titularnation angehörten.
Seite
Die Repräsentation von ethnischen Minderheiten im Parlament ist ein Produkt des
sowjetischen Systems mit seinem Quotenprinzip (ethnische, Frauen-, Berufsquote). Im
modernen Russland spielt die Minderheitenvertretung eine wichtige politische Rolle.
Nach dem Umbruch der Sowjetunion wurde
viel von der territorialen Souveränität
der traditionellen Siedlungsgebiete
32
und der nationalen Republiken
gesprochen. In dieser Zeit, die auch
„Souveränitätsparade“ genannt wird,
bekamen Siedlungsgebiete sowie Republiken
enorm viele Privilegien, die oft nicht mit
Verfassungs- sowie Föderalismusnormen
kompatibel waren. Gleichzeitig wurden von
den Parteien Parlamentarier mit Minderheitshintergrund rekrutiert. Für die Parteien war
es von großer Bedeutung, durch die Inklusion
von Minderheiten eine breite Basis für Wählerunterstützung zu erreichen - gerade zu Zeiten
einer schwachen Regierung und starker regionaler Regimes in der Jelzin-Ära.
Die Art und Weise der Minderheitenvertretung im nationalen Parlament resultiert aus
verschiedenen Faktoren, wobei politische und
gesellschaftliche die wichtigsten sind. Hierbei
handelt es sich um in der Verfassung stehende
ethnische und Minderheitenrechte, die Entstehung von den ethnischen Gebietseinheiten
(Heinemann-Grüder 2007:140) als auch
Wahlsystem sowie Parteiensystem (Edinger
/ Kuklys 2007:166ff.). Außerdem sind die für
ethnische Minderheiten charakteristischen
strukturellen Merkmale, die interethnische
Beziehungen und die generellen Beziehungen
zwischen Eliten und Nichteliten von Bedeutung (Edinger / Kuklys 2007:175). Auch die
im Massenbewusstsein verankerten Einstellungen können einen Einfluss auf die parlamentarische Repräsentation von Minderheiten
haben. (Heinemann-Grüder 2007:150f.).
Religion
In der Sowjetunion war die religiöse Zugehörigkeit nicht von großer Bedeutung, da die sowjetische Regierung erfolgreich eine Politik der
Säkularisierung verwirklichte. Kirchen wurden
zum Teil geschlossen, zum Teil sogar zerstört.
Als die Bevölkerung der Sowjetunion im
Jahre 1988 die religiöse Freiheit erhielt, waren
bereits mehrere Generationen weder kirchlich
gebunden noch mit religiösen Lehren vertraut.
Rademacher
Semenova
Damals wurde damit begonnen, Kirchen nicht
nur christlicher, sondern auch islamischer,
buddhistischer und hinduistischer Gesinnung
zu öffnen. Zeitgleich stieg das Interesse an
neuen „Kulten“, „neuen Konfessionen“ sowie
Sekten. Nach dieser Phase religiöser „Vielfalt“,
die 1991-1992 endete, konnte die Orthodoxie
verstärkt an Bedeutung gewinnen. Sie wurde
von den meisten Bürgern als das wichtigste
und vertrauenswürdigste Kultur- sowie Identitätssymbol betrachtet (Filatow 2001:131).
Dennoch beträgt der Anteil der Bevölkerung,
der aktiv eine orthodoxe Religiosität praktiziert, ca. sieben Prozent und bleibt seit Anfang
der 1990er Jahren konstant (Kaariainen / Furman 2000). Die anderen Religionen – Islam
sowie Buddhismus – wurden nach dem Ende
der Sowjetunion auch „restauriert“, wobei die
Situation mit der Praktizierung von religiösen
Normen mit selbiger der Orthodoxie gleich
ist. Die einzige Ausnahme bilden die Völker
Tschetscheniens und Dagestans, die eine aktive
Ausübung der islamischen Normen und Regeln praktizieren.
Generell ist festzustellen, dass ungeachtet
dessen, dass der Staat traditionelle Kirchen
(Orthodoxie, Islam sowie Buddhismus) aktiv
unterstützt, diese generell keine große Rolle
im politischen Prozess Russlands spielen.
Aufgrund der historischen Entwicklung und
als Folge der niedrigen Rate aktiv praktizierender Gläubiger ist religiöse Zugehörigkeit
von geringer Bedeutung als Erklärungsansatz
für Wahlverhalten und Parteipräferenzen. Außerdem ist die Bildung einer Partei auf einer
religiösen Basis gesetzlich untersagt.
Wird die konfessionelle Zusammensetzung
der Bevölkerung betrachtet, ist festzustellen,
dass nahezu 80 Prozent der westdeutschen
Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft angehören, während dies in den neuen Ländern
lediglich für ein Drittel zutrifft (ALLBUS
2002:210). Ostdeutschland stellt ein Beispiel
der Entkonfessionalisierung dar: Gehörten
dort nach dem Zweiten Weltkrieg über 90
Prozent der Bevölkerung einer der beiden
großen Kirchen an, so betrug der Anteil nach
der Wiedervereinigung letztlich noch 30 Prozent. Den größten Bevölkerungsteil bildeten
die Konfessionslosen (Pollack 2000:19). Was
für die Bevölkerung im Allgemein gilt, spiegelt sich bei den Abgeordneten der PDS im
Besonderen wider. Zum einen ist die schwache
kirchliche Bindung in den neuen Ländern das
Resultat einer langjährigen SED-Herrschaft
und der mit ihr einhergehenden Kirchen- und
Religionspolitik, die nun in den jüngeren
Generationen ihre Auswirkungen zeigt (Sterr
2000:221).
Zu den Charakteristika der deutschen Parteienlandschaft und des Wahlverhaltens gehört
der starke Einfluss der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Differenzierung der Gesellschaft entlang religiöser
Konfliktlinien fand im deutschen Parteiensystem schon früh ihr Abbild. Auch in der
Nachkriegszeit war die religiöse Zuordnung
politisch höchst bedeutsam. Mit der CDU
entstand jedoch eine sich christlich verstehende Partei auf interkonfessioneller
Basis (Best / Hausmann / Schmitt
Seite
2000:178). Bis in die Gegenwart
hinein wird das Stimmverhalten stark
durch die konfessionelle Bindung des
einzelnen Wählers bestimmt ( Jagodzinski /
Quandt 2000). Wird das Wahlverhalten der
kirchlich Gebundenen analysiert, ist zu for-
33
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
mulieren: Je stärker die Bindung an eine der
beiden Kirchen, desto erfolgreicher ist die
CDU/ CSU, und je schwächer die Bindung,
umso erfolgreicher ist die SPD (Mielke
1990:165). Allerdings erodiert das religiöse
Milieu wegen des Ausscheidens älterer Generationen aus der Wählerschaft, gleichzeitig ist
eine kirchliche Bindung in jüngeren Generationen in relativ geringem Umfang vorhanden
(vg. Schmitt 1989).
Unter den westdeutschen Bundestagsabgeordneten sind Protestanten und Katholiken
etwa gleichermaßen stark vertreten: Die
Zahlen liegen jeweils bei 36 Prozent. Die übrigen Prozent verweigerten die Angabe ihrer
Konfession oder sind Atheisten/ Agnostiker.
Unter den ostdeutschen Parlamentariern ist
der Anteil der Protestanten um acht Prozent
höher; jedoch ist der Anteil der Katholiken
nicht einmal halb so hoch wie im Westen.
Trotz dieses insgesamt niedrigeren Anteils der
konfessionell Gebundenen unter den Abgeordneten aus den neuen Ländern, sind diese
bezogen auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung überrepräsentiert.
Seite
Die Sozialdemokraten haben vergleichbare
Abgeordnetenzahlen mit protestantischer
Konfession in beiden Teilen Deutschlands,
wobei deren Anteil im Osten um fünf Prozentpunkte über dem westdeutschen Schnitt
liegt. Gleichzeitig hat die SPD im
Osten mit neun Prozent nur halb
34
so viele Abgeordnete katholischen
Glaubens wie im Westen. Während
der Anteil an Abgeordneten katholischen Glaubens in Ostdeutschland kontinuierlich sinkt und derzeit bei sechs Prozent
liegt, beträgt die Zahl unter den westdeutschen
SPD-Parlamentariern im Zeitverlauf über 17
Prozent. Wird ein geringfügiger Zuwachs von
Abgeordneten mit protestantischer Konfession
im Westen beobachtet, ist der entsprechende
Anteil im Osten seit 1998 um ca. zehn Prozentpunkte gesunken und beträgt im aktuellen
Bundestag 38 Prozent. Auffällig scheint die
Situation bei der CDU: In Westdeutschland
sind 62 Prozent der Mitglieder Katholiken
und 35 Prozent Protestanten. Im Gegensatz
dazu ist die Zahl der Protestanten um fast ein
Drittel höher und die Zahl der Katholiken um
ein Drittel geringer bei der CDU Ostdeutschlands.
Tabelle 1: Katholiken/ Protestanten/ Atheisten bzw.​
unbekannt: in Bevölkerung Ost-West, unter ​
Abgeordneten Ost-West (in Prozent)
Bevölkerung
West
Abgeordnete
Ost
West
Ost
Katholiken
36,7
4
36,5
15,2
Protestanten
36,9
23
36,0
44,3
Sonstige
9,9
4,6
Atheisten bzw.
unbekannt
16,5
68,4
27,5
40,5
Quelle: Daten zur Bevölkerung aus: ALLBUS 2006, ZANr.4500:337, Eigene Darstellung
Alter
Die ursprüngliche Altersdifferenz unter den
Ost- und Westabgeordneten hat sich seit
der Vereinigung deutlich reduziert. Lagen
die ostdeutschen Mandatsträger anfangs
mit 44 Jahren ungefähr fünf Jahre unter
dem westdeutschen Schnitt, sind die Differenzen binnen fünf Legislaturperioden von
fünf auf lediglich zwei Jahre gesunken. Die
Rademacher
Semenova
anfänglichen Unterschiede von 1990 gehen
vermutlich ohnehin auf die Tatsache zurück,
dass in den neuen Ländern erstmals Abgeordnete in den Bundestag gewählt wurden,
während die westdeutschen Delegierten dem
Parlament teils schon seit längerem angehört
hatten. Wird ein Ost-West-Vergleich der 1990
erstmalig in den Bundestag gewählten Abgeordneten angestrebt, kristallisieren sich nur
unerhebliche Differenzen heraus. Während das
Alter bei Westabgeordneten der CDU, SPD
und FDP im Durchschnitt bei 50 Jahren liegt
und seit 1990 konstant geblieben ist, ist es bei
den Ostabgeordneten von SPD und CDU im
Laufe von fünf Legislaturperioden um bis zu
fünf Jahre gestiegen und ist mit dem heutigen
westdeutschen Schnitt gleichgezogen.
Liegt das Alter unter den SPD-Abgeordneten
im Westen konstant bei etwa 50 Jahren, ist das
Durchschnittsalter in der Ost-SPD im Zeitverlauf um ca. sechs Jahre gestiegen und hat
sich dem westdeutschen Niveau angeglichen.
Das Durchschnittsalter der Neulinge unter den
ostdeutschen Sozialdemokraten ist geringfügig
angestiegen und beträgt im aktuellen Bundestag etwa 46 Jahre. Unter den westdeutschen
Christdemokraten liegt das Durchschnittsalter
etwa bei 50 Jahren, wobei politische Neulinge
dieser Partei ca. vier Jahre jünger sind. Bezüglich der Parteiunterschiede ist festzustellen,
dass die Rekrutierungspraxis der PDS durch
den Einzug junger Abgeordneter ins Parlament
gekennzeichnet ist.
Das Durchschnittsalter der russischen Parlamentarier gleicht dem der Ostdeutschen
und beträgt in den vier untersuchten Legislaturperioden 47 Jahre. Seit 1993 ist es von 45
auf zuletzt 49 Jahre gestiegen. Das Alter von
Newcomern ist im Zeitverlauf ebenso um
zwei Jahre gestiegen und betrug in der vierten
Duma im Schnitt exakt 47 Jahre.
Zwischen den Fraktionen innerhalb der
Staatsduma lassen sich deutliche Unterschiede
feststellen. So weisen Abgeordnete der KPRF
und der den Kommunisten nahestehenden
Agrariern den höchsten Altersdurchschnitt
auf. Er hat sich kontinuierlich erhöht und betrug zu Zeiten der vierten Duma ungefähr 55
Jahre. Damit stellen diese beiden die „ältesten“
Fraktionen in der Duma. Deutlich jünger sind
von Beginn an die unabhängigen Delegierten
und die Parlamentarier der „Machtparteien“
gewesen. Bei letzteren ist im Zeitverlauf ein
Anstieg von 46 auf 49 Jahre festzustellen.
Ähnlich ist die Entwicklung unter den parteiunabhängigen Abgeordneten: Im Zeitverlauf erhöhte sich deren Alter im Durchschnitt
um vier Jahre und betrug in der vierten Legislaturperiode ca. 47 Jahre. Parlamentarier
der Machtparteien sind durchschnittlich 47
Jahre alt vor dem Einzug ins Parlament, das
sind zwei Jahre mehr als bei den parteiunabhängigen Mandatsträgern.
Interessant ist, dass die zwei Parteien mit
einer liberalen Orientierung – JABLoko und
SPS – ihre Abgeordneten ebenso häufig aus
der jüngeren Altersgruppe rekrutiert haben.
Ihr Durchschnittsalter betrug ungefähr 44
Jahre. Entgegen dem Trend hat sich
der Altersdurchschnitt der extremSeite
rechten LDPR-Fraktion über die
Legislaturperioden hinweg verringert: Mit durchschnittlich 40 Jahren
stellte sie während der vierten Wahlperiode
die jüngste Fraktion der Staatsduma. Unter
den Abgeordneten dieser Partei beträgt das
35
Soziodemografische
Mittelwertzentrierung
Merkmale
Alter politischer Neulinge im Durchschnitt
ebenso etwa 40 Jahre, allerdings lagen die
Werte in der zweiten und dritten Duma bei 36
Jahren und erhöhten sich in der vierten Duma
um ca. drei Jahre.
Weder der Bundestag noch die Staatsduma
lassen sich als „gerontokratische“ Parlamente
bezeichnen. Damit unterscheiden sie sich
deutlich von den Regierungskadern der staatssozialistischen Regime, die als überaltert galten. Wird das Alter deutscher Mandatsträger
beleuchtet, ist festzustellen, dass die meisten
Parlamentarier aus der Generationskohorte ab
den 1950er Jahren rekrutiert wurden. Sie sind
noch in der ehemaligen Bundesrepublik bzw.
DDR sozialisiert (Schmidt 2007:107). Bezüglich der Entwicklung des Durchschnittsalters
in der russischen Parlamentselite lassen sich
zwei Tendenzen feststellen: Erstens hat sich
das Alter der Parlamentarier kontinuierlich
erhöht und zweitens sind die russischen Parlamentarier seit dem Systemwechsel im Schnitt
älter als die Mitglieder des Volksdeputiertenkongresses der Breschnew-Zeit (Kryschtanowskaja 2005:89). Unter allen Elitesektoren,
also etwa im Vergleich zu den Regierungseliten,
sind sie aber dennoch am jüngsten. Erst unter
W. Putin haben sich Abgeordnete und Regierungsmitglieder altersmäßig angeglichen.
Seite 36
Rademacher
Semenova
Seite 37
Berufe der Abgeordneten
3
Lehrer und Juristen – Manager und
Militär: Die Berufe der Abgeordneten
Seite 38
U
nter den deutschen Parlamentariern
sind traditionell die Beamten bzw.
allgemein die Beschäftigten des
öffentlichen Dienstes stark vertreten – ein
Phänomen, das auch aus einer Reihe anderer
europäischer Staaten bekannt ist (Cotta, Verzichelli 2006:544f.). Die Zahl der Beamten des
höheren Dienstes liegt im Bundestag durchschnittlich bei 17 Prozent. Im Vergleich dazu
beträgt der Anteil der (Hochschul-)Lehrer
ungefähr 13 Prozent. Generell ist festzustellen,
dass der Teil der Parlamentarier aus dieser
Berufsgruppe seit der Wiedervereinigung um
vier Prozentpunkte gesunken ist. So betrug die
Zahl der Beamten und Lehrer 2005 entsprechend 14 und 10 Prozent.
Parteifunktionäre bzw. Abgeordnete mit Berufserfahrung in den Interessengruppen sind
im deutschen Nationalparlament gut repräsentiert. Sie bilden eine Gruppe im Umfang von
etwa 15 Prozent. Die Zahl der Mandatsträger
mit politischer Berufspraxis ist seit der Wiedervereinigung kontinuierlich gestiegen und
lag in der letzten Legislaturperiode bei 17
Prozent.
Obwohl Freiberufler, vor allem Juristen, weniger häufig als Politiker oder Beamte in den
Bundestag gewählt wurden, liegt deren Anteil
nichtsdestoweniger im Durchschnitt bei etwa
acht Prozent. Besonders interessant ist hierbei,
dass der Anteil der Juristen im Bundestag seit
der Wiedervereinigung nur um vier Prozentpunkte gestiegen ist.
Werden die Abgeordneten nach West und
Ost unterschieden, sind Beamte des höheren
Dienstes sowie Lehrer und Professoren vor
allem unter den westdeutschen Parlamenta-
Semenova
riern überrepräsentiert. Gleiches gilt für die
politischen Berufe. Demgegenüber werden in
Ostdeutschland bevorzugt Parteipolitiker sowie
Angestellte von Interessengruppen gewählt.
Ist der Deutsche Bundestag überwiegend von
Beamten dominiert, so bildet die russische
Duma in der ersten Linie die Interessenvertretung des Business und des öffentlichen
Dienstes. Wird die berufliche Herkunft der
Mandatsträger zugrunde gelegt, sind unter
den russischen Abgeordneten fast 38 Prozent
Top-Manager und Angestellte großer Unternehmen. Dagegen werden die Interessen
des kleinen Mittelstandes überhaupt nicht
im Parlament repräsentiert. Seit der ersten
Legislaturperiode erhöhte sich die Zahl der
Abgeordneten aus der Wirtschaftsbranche
stetig. Waren zu Beginn circa 30 Prozent der
Delegierten Geschäftsmänner, so erhöhte sich
diese Zahl bis zur vierten Legislaturperiode auf
44 Prozent.
Die zweitgrößte Gruppe der Parlamentarier bilden die Beschäftigten des öffentlichen Sektors:
Beamte (neun Prozent) sowie Lehrkräfte (acht
Prozent). Die Zahl der Abgeordneten mit Berufserfahrung im Lehrbereich und öffentlichen
Dienst ist gesunken. Während 1993 etwa 13
Prozent der höheren und gehobenen Beamten
Dumamandate bekamen, so waren es 2003 nur
noch sechs Prozent. Eine ähnliche Tendenz ist
für die Repräsentation der Lehrkräfte im Parlament festzustellen: Lag der Anteil der Lehrer
unter den Parlamentariern in den ersten zwei
Amtsperioden unverändert bei zehn Prozent,
hatten sich die entsprechenden Werte bis zur
vierten Legislaturperiode halbiert. Demgegenüber blieb der Anteil der freiberuflich Beschäftigten bei den Mandatsträgern über die Jahre
konstant und beträgt ungefähr 11 Prozent.
Aus politiknahen Bereichen wie Parteien oder
Interessengruppen werden weniger Abgeordnete rekrutiert als aus der Wirtschaftselite.
Der Anteil der aus diesem Bereich Rekrutierten ist über die Zeit hinweg stabil geblieben,
mit Ausnahme von 1995, als die Zahl um zwei
Prozentpunkte sank und etwa neun Prozent
aller russischen Parlamentarier Politiker waren.
Wird die allgemeine Entwicklung der Rekrutierung in der Duma betrachtet, fällt der
kontinuierliche Anstieg an Mandatsträgern
mit militärischem Hintergrund auf. Das
ursprüngliche Niveau von vier Prozent militärischer Vertreter verdreifachte sich bis zur
vierten Amtsperiode der russischen Duma.
Seite 39
Berufe der Abgeordneten
Tabelle 2: Die wichtigsten Berufsgruppen in Russland und Deutschland im Vergleich (in Prozent)
Legislaturperiode
Lehrer
D
Politiker
Rus
D
Beamte
Rus
D
Juristen
Rus
D
Business
Rus
D
Rus
Militär
D
Rus
1.
14,0
9,6
12,5
11,0
17,8
13,0
6,9
4,4
3,9
28,9
0,5
3,9
2.
14,3
10,0
14,1
8,2
17,9
8,6
6,7
2,1
3,1
36,0
0,4
5,2
3.
14,2
7,6
16,6
9,2
17,0
7,6
7,3
2,0
3,0
43,6
0,4
9,2
4.
13,4
5,0
13,9
9,0
17,1
6,1
10,0
1,8
3,6
44,1
0,2
11,0
5.
10,4
Insgesamt
13,3
2,6
3,5
38,2
0,3
7,4
16,8
8,1
14,8
14,2
9,3
16,8
11,1
8,9
8,3
3,7
Quelle: Eigene Darstellung
Die „Verbeamtung“ des Bundestages wurde
und wird häufig kritisiert (Ismayr 2000:66).
Dabei geht es nicht um „die Gewaltenteilungsrelevanz des einzelnen Bediensteten,
der Parlamentsmitglied ist, sondern um die
Gewaltenteilungsrelevanz einer zu großen
Anzahl von öffentlichen Bediensteten im
Parlament“ (Tsatsos 1989:713). Tatsächlich
stagniert der Anteil der Beamten unter den
deutschen Abgeordneten in der 12. und
13. Amtsperiode: Er lag im Westen um vier
Prozentpunkte über den ostdeutschen Werten
und betrug fast 19 Prozent. 2005 fiel dann der
Anteil der Beamten im Bundestag, allerdings
blieb der Unterschied von vier Prozentpunkten zwischen West- und Ostabgeordneten
erhalten. Die entsprechenden Werte lagen bei
15 Prozent (MdB aus den alten Ländern) und
11 Prozent (ostdeutsche MdB).
Seite 40
Bei der ostdeutschen SPD ist die
Zahl der Beamten von 12 Prozent
um weitere sechs Prozentpunkte
gestiegen und lag 2005 fast auf gleicher
Höhe mit dem westdeutschen Niveau. Unter
den westdeutschen CDU-Mandatsträgern
sank der Anteil von Beamten tendenziell:
1990 lagen die Werte bei 21 Prozent und in
der 16. Legislaturperiode schon bei 17 Prozent.
Bei den CDU-Abgeordneten aus den neuen
Bundesländern nahm der Anteil der Beamten
bis 1998 stark zu und lag in der 14. Periode
bei 30 Prozent, das heißt neun Prozentpunkte
mehr als nach der Wiedervereinigung. Seitdem
verkleinerte sich der Anteil aber fast um die
Hälfte und lag in der 16. Legislaturperiode nur
noch drei Prozentpunkte unter dem westdeutschen Schnitt. Werden die kleinen Parteien betrachtet, so ist festzustellen, dass es bei einigen
keine Beamten als Abgeordnete gab, so bei der
PDS im Westen und den Grünen im Osten.
Unter den ostdeutschen Linksparlamentariern
sind die Beamten seit der 15. Legislaturperiode
auch nicht mehr vertreten.
Den höchsten Anteil an Beamten in der
russischen Staatsduma hatten die Regionalisten - die Partei der Russischen Einheit
und Eintracht. In dieser Partei lag die Gruppe der Beamten bei ca. 32 Prozent. Werden
andere Parlamentsparteien untersucht, ist
festzustellen, dass die größte Zahl an Beamten
Semenova
von der linksliberalen Partei JABLoko und den
Pro-Präsidentenparteien gestellt wurde. Diese
Zahl ist allerdings stark gesunken. Beamte aus
dem höheren und gehobenen Dienst waren
eine der wichtigsten Gruppen bei der Parteirekrutierung von JABLoko. Ihr Anteil lag 1993
bei 22 Prozent der linksliberalen Mandatsträger, aber er nahm im Verlauf der Zeit ab und
betrug in der dritten Duma lediglich noch
fünf Prozent. Die Rekrutierung von Beamten
durch die Machtparteien ist seit der ersten
Duma kontinuierlich gesunken und lag in der
vierten Duma nur noch bei sieben Prozent,
1993 war dieser Anteil noch viermal so groß.
Augenscheinlich eröffnete die Möglichkeit der
Erlangung eines Direktmandates durch Selbstnominierung bei der Dumawahl und die Tätigkeit als unabhängiger Abgeordneter Beamten
eine Möglichkeit, ins Parlament einzuziehen.
Bis 1995 erhöhte sich deren Zahl um nahezu
fünf Prozent und betrug in der zweiten Duma
schon 19 Prozent. Seitdem ist sie rückläufig
und lag 2003 bei etwa fünf Prozent.
Generell lässt sich der Einfluss von Beamten
durch die Entwicklung der Staatssphäre sowie
durch die wachsende Komplexität der öffentlichen Verwaltung erklären (vgl. dazu Bottomore 1966:Kap.4).
Es ist festzustellen, dass die höheren Beamten
sowohl in der russischen Duma als auch im
Deutschen Bundestag im Zeitverlauf schwächer vertreten sind. Während der Beamtenanteil in Deutschland seit der Wiedervereinigung
auf vier Prozent gesunken ist, hat ihre Zahl
im russischen Nationalparlament gravierend
abgenommen. Zum Teil geht dies auf die
Elitenzirkulation nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion zurück: Die alte Verwaltungs-
elite oder „die politische Bürokratie“ (Djilas
1960:62) wurde aufgrund ihrer Nähe zur Politik, ihrer „politisierten Inkompetenz“ (Derlien
1997:376) und der unzureichenden Erfahrung
im neuen System für ungeeignet befunden und
daher ausgetauscht. Zum anderen ist es das Ergebnis rechtlicher Normen in beiden Staaten.
So haben die beamtenrechtlichen Vorteile,
die Beamte in Deutschland in der Politik genießen (Beurlaubung, Rückkehrmöglichkeiten
sowie finanzielle Sicherung), einen starken
Einfluss auf die Verbeamtung des Bundestages
(Herzog 1982:77f.). Die rechtliche Regulierung von Beamtentätigkeit in Russland hat
die aktive Rekrutierung dieser Berufsgruppe
nicht begünstigt.
Die Rekrutierung von Lehrern in den Bundestag ist am stärksten im westlichen Teil
Deutschlands zu beobachten. Bis zur dritten
Parlamentsperiode erhöhte sich hier die Zahl
und erreichte fast 16 Prozent. Danach nahm
dieser Wert um vier Prozentpunkte ab. Demgegenüber sank der Anteil der Lehrkräfte unter den ostdeutschen Abgeordneten kontinuierlich. 2005 lagen die entsprechenden Werte
nur noch bei drei Prozent, während die Zahl
der ins Parlament rekrutierten (Hochschul-)
Lehrer direkt nach der „Wende“ fast dreimal
so hoch war.
Während sich unter den ostdeutschen SPDAbgeordneten der Lehrkräfteanteil
im Zeitverlauf um 15 Prozentpunkte
Seite
verringerte und in der letzten Legislaturperiode nur noch bei drei
Prozent lag, ist der Anteil unter den
westdeutschen MdB vom Anfangsniveau von
21 Prozent um drei Prozentpunkte gesunken und bis zur 15. Amtsperiode konstant
41
Berufe der Abgeordneten
geblieben. In der letzten Legislaturperiode
ist der Anteil geringfügig gestiegen und lag
bei 18 Prozent. Wird die Entwicklung der
Lehrerrepräsentanz bei der CDU betrachtet,
so betrug der Anteil im Osten nach der Wiedervereinigung ungefähr fünf Prozent. Seit
1998 gibt es in den neuen Ländern unter den
CDU-Mandatsträgern keine Lehrer mehr. In
den alten Ländern entwickelte sich der Anteil
der Lehrkräfte nicht linear: Vom Ausgangsniveau von 11 Prozent ist der Anteil bis zur 13.
Amtsperiode um einen Prozentpunkt zurückgegangen, dann stieg er erneut auf 12 Prozent
und ist seitdem wieder um fünf Prozentpunkte
gesunken.
Seite
Bezüglich des russischen Parlaments war die
Zahl der rekrutierten Lehrer und Professoren
sowie Journalisten in der ersten Legislaturperiode in den Parteien LDPR und KPRF am
höchsten. So hatte die LDPR 1993 etwa 12
Prozent Lehrer und bei der KPRF war die
entsprechende Zahl fast doppelt so hoch.
Die Zahl der Abgeordneten aus dem Medienbereich ( Journalisten) war in den beiden
Parteien ungefähr gleich stark und lag bei 14
Prozent. In der vierten Duma ist in der LDPR
und KPRF die Vertretung der (Hochschul-)
Lehrer und Abgeordneten mit journalistischer
Erfahrung gesunken. Der Anteil der Lehrer
hat sich bei der KPRF um fünf Prozentpunkte
verringert und bei der LDPR gibt es überhaupt
keine Lehrer als Abgeordnete. Auch
die Repräsentation der Journalisten
42
in diesen Parteien reduzierte sich um
mehr als ein Drittel. „Unpopulär“ ist
die Rekrutierung von (Hochschul-)
Lehrern und Journalisten in den Pro-Präsidentenparteien. Der Anteil der Parlamentarier
mit diesem beruflichen Hintergrund war von
Anfang an nicht groß – es waren lediglich neun
Prozent der Abgeordneten Lehrer und fünf
Prozent Journalisten – und hat sich im weiteren
Verlauf stetig verringert. So waren 2003 unter
den russischen Mandatsträgern insgesamt nur
drei Prozent aus diesen beiden Berufsgruppen.
Im Deutschen Bundestag und speziell unter
seinen westdeutschen Mitgliedern entspricht
die Rekrutierung der Lehrkräfte dem europäischen Trend: Obwohl sich die Zahl der Lehrer
und Professoren in den letzten Legislaturperioden und in ganz Europa seit den 1980er
Jahren beständig verringerte (Cotta / Verzichelli 2006:534f.), hat sich im Längsschnitt
seit Mitte des 19. Jahrhunderts tendenziell eine
Steigerung ergeben (Cotta / Best 2000:501).
Vergleicht man die Vertretung der Lehrkräfte
in den Nationalparlamenten Russlands und
Deutschlands, sind die gleichen Tendenzen
zwischen den ostdeutschen und russischen
Abgeordneten festzustellen. Der jeweils starke
Rückgang an (Hochschul-)Lehrern im Parlament hat unterschiedliche Gründe. Zum einen
geht er auf den gesellschaftlichen und politischen Umbruch zurück, der die Möglichkeit
verhinderte, eine sektorale Karriere weiterzuverfolgen (Welzel 1997:114f.): Lehrer waren
ein Teil der so genannten Intelligenzija und
stellten daher im Kommunismus eine aktive
Gesellschaftsgruppe dar, deren Rolle wegen
des Einflusses auf die politische Sozialisierung
von Jugendlichen als besonders wichtig galt.
Gleichzeitig stand sie für die Werte und Nomen des alten Regimes und verlor nach dem
Umbruch ihr gesellschaftliches Berufsprestige.
Als Ergebnis wurden immer weniger aus ihren
Reihen rekrutiert. Zum anderen könnte die
Abnahme der Lehrerzahl im Parlament das
Semenova
Resultat des wirtschaftlichen Wandels sein.
Im postsowjetischen Raum funktionierte die
wissenschaftliche Tätigkeit unter erschwerten
finanziellen Bedingungen, weshalb eine Abwanderung von (Hochschul-)Lehrern in andere Bereiche, vor allem in die freie Wirtschaft zu
beobachten war: So betrug die Abwanderung
von Lehrkräften in Russland innerhalb von 11
Jahren (1992 bis 2003) fast 44 Prozent (Gudkov / Dubin / Levada 2007:59f.).
Im Deutschen Bundestag ist nur eine Berufsgruppe vertreten, die einer freiberuflichen
Tätigkeit nachgeht: die Juristen, deren Zahl
sich kontinuierlich erhöht. Unter den westdeutschen Abgeordneten ist der Anteil der
Juristen von acht auf 12 Prozent gestiegen,
demgegenüber lag die entsprechende Zahl
im Osten um sechs Prozentpunkte unter dem
westdeutschen Niveau.
Unter den ostdeutschen Parlamentariern sind
die Juristen nicht vertreten. Das gilt gleichermaßen für CDU und SPD, die beide nur ein
sporadisches Rekrutierungsmuster demonstrieren: Wurden 1998 fast zwei Prozent der
Juristen von der SPD rekrutiert, wurden nach
der Wiedervereinigung auch zwei Prozent der
Juristen als CDU-Abgeordnete gewählt. Demgegenüber ist diese Berufsgruppe unter den
westdeutschen Abgeordneten stärker vertreten,
vor allem unter den CDU-Mandatsträgern:
Deren Zahl verdoppelte sich im Zeitverlauf
und betrug in der 16. Legislaturperiode fast 19
Prozent. Bei der SPD ist die Zahl der Juristen
um knapp sechs Prozentpunkte gestiegen und
lag 2005 bei etwa zehn Prozent.
Im Vergleich zu Deutschland sind in Russland
Juristen mit einer eigenen Kanzlei eher selten
im Parlament vertreten. Neun Prozent wurden
in der ersten und zweiten Legislaturperiode
von der LDPR rekrutiert und in der dritten
Duma haben fast 14 Prozent der Juristen für
die SPS kandidiert.
Andere Gruppen von Freiberuflern sind in der
russischen Duma stärker vertreten als im Bundestag. Unter allen Parlamentsparteien weist
die linksliberale Partei JABLoko den höchsten
Anteil auf. Die Repräsentanz von Freiberuflern in dieser Partei hat sich bis 1999 nicht
linear entwickelt. In der ersten Duma waren
noch 59 Prozent freiberufliche Professionelle,
in der zweiten Duma verringerte sich dieser
Wert um 19 Prozent, um anschließend wieder
auf 47 Prozent anzusteigen.
Ein Anstieg des Freiberufleranteils ist bei der
LDPR und den unabhängigen Kandidaten zu
sehen, obwohl diese Tendenz bei der LDPR
prozentual am stärksten ist. Die Repräsentation dieser Berufsgruppe in der LDPR lag
in den ersten zwei Legislaturperioden bei 13
Prozent, hat sich seitdem fast verdreifacht und
betrug in der vierten Legislaturperiode etwa 33
Prozent. Unter den unabhängigen Kandidaten
stagnierte die Freiberuflerzahl bis zur dritten
Dumawahl, verdreifachte sich dann aber ebenfalls und lag in der vierten Duma bei exakt 15
Prozent. In den Pro-Präsidentenparteien liegt
der Freiberufleranteil im Durchschnitt bei
neun Prozent. Die entsprechenden
Werte sind seit 1993 von sieben auf
Seite
zehn Prozentpunkte gestiegen und
stagnieren seitdem.
Während die im Vergleich zu den USA geringe Zahl der Juristen im Nationalparlament
ein charakteristisches Merkmal der deutschen
43
Berufe der Abgeordneten
Politik war (Best / Hausmann / Schmitt
2000:166), hat diese Berufsgruppe in der
russischen Duma eine marginale Stellung.
Die schwache Vertretung der Juristen lässt
sich unter anderem aus der Entstehung der
Marktwirtschaft in Russland erklären und
der damit einhergehenden Möglichkeit, eine
juristische Praxis zu gründen und selbstständig zu arbeiten. Juristen genießen ein höheres
Berufsprestige in der post-sowjetischen
Gesellschaft und außerdem eine finanzielle
Unabhängigkeit. Zum Teil geht die schwache
Vertretung der Juristen im Parlament auf die
Rekrutierungsstrategien politischer Parteien
und wahrscheinliche strukturelle Hindernisse
für eine politische Karriere von Juristen zurück
(vgl. Pederson 1972).
Seite
Was die Repräsentation anderer freiberuflich
tätiger Professioneller angeht, liegt Deutschland im europäischen Trend, da der Anteil von
Abgeordneten, die sich aus Freiberuflern rekrutieren, europaweit im Zeitverlauf gesunken ist
(Cotta / Best 2000:501). Die starke Vertretung
der Freiberufler in der Duma geht zum einen
auf die Veränderung der Arbeitsmöglichkeiten
zurück: Nach dem Ende der Sowjetunion ergab sich die Möglichkeit, selbständig tätig zu
sein. Die Entwicklung einer neuen Arbeitskultur sowie das Entstehen neuer Berufe, welche
mit der politischen Tätigkeit im Allgemeinen
und der parlamentarischen im Besonderen
vereinbar waren, haben die Repräsentanz der Freiberufler im Parlament
44
positiv beeinflusst. Zu anderem spielt
der Faktor Geld eine wichtige Rolle:
Diäten russischer Abgeordneter sind
weit niedriger im Vergleich zu Deutschland,
weshalb die rechtlich gebilligte freiberufliche
Tätigkeit eine Möglichkeit bietet, anderweitig
finanzielle Mitteln zu erwirtschaften.
Die Entwicklung der Repräsentation der Abgeordneten mit politischem Hintergrund hat
in West- und Ostdeutschland den gleichen
Verlauf genommen. Bis zur dritten Legislaturperiode ist die Zahl der Politiker in unterschiedlichem Maße gestiegen: Während sich
die Anzahl im Westen Deutschlands lediglich
um zwei Prozent erhöhte und Werte um 16
Prozent erreichte, verdreifachte sich die entsprechende Zahl im Osten und lag fünf Prozentpunkte über dem westdeutschen Schnitt.
In der letzten Periode schwankten die Werte
in den beiden Teilen Deutschlands und lagen
durchschnittlich bei 19 Prozent für Ost- und
16 Prozent für Westdeutschland.
Aus den großen Parteien werden Politiker
und Abgeordnete mit Erfahrungen in Interessengruppen hauptsächlich von der SPD
rekrutiert, das gilt in gleichem Maße für
Ost- als auch für Westdeutschland. Die Zahl
von Abgeordneten, die bereits über politische
Erfahrung verfügten, zeigte in dieser Partei für
beide Teile der Bundesrepublik keinen linearen
Entwicklungsverlauf. In den neuen Ländern
vergrößerte sich der Politikeranteil bei der SPD
um etwa 19 Prozentpunkte und lag in der 15.
Legislaturperiode bei 28 Prozent. In der letzten Periode ist diese Zahl rückläufig und liegt
nun bei 21 Prozent. Unter den westdeutschen
SPD-Parlamentariern schwankt der Anteil
von „Politikern“ zwischen 15 und 18 Prozent.
Bei der CDU verdoppelte sich die Zahl der
Politiker in Ostdeutschland bis zur 13. Legislaturperiode und lag bei etwa zehn Prozent;
seitdem ist sie rückläufig. In Westdeutschland
nahm der Anteil der Politiker unter den CDUAbgeordneten bis zur 14. Legislaturperiode um
Semenova
drei Prozentpunkte zu und lag bei 14 Prozent.
Seitdem schwankten die Werte zwischen 11
und 14 Prozent.
unter den Abgeordneten der Duma und zweitens die massive Rekrutierung von Parlamentariern aus der Geschäftselite.
In der Staatsduma ist die Erfahrung in einem
politischen Beruf für die Rekrutierung von Abgeordneten hingegen nicht ausschlaggebend.
So ist die Zahl der „Politiker“ bei den großen
Dumaparteien wie der LDPR und den ProPräsidentenparteien gesunken, am stärksten
jedoch bei der LDPR, bei der sich die Zahl
der Politiker im Zeitverlauf von 15 Prozent
auf lediglich noch drei Prozent reduzierte. Im
Gegensatz dazu verdoppelte sich der Anteil
der Politiker bei der Kommunistischen Partei
und erreichte 2003 den höchsten Wert in der
Staatsduma von 26 Prozent. Im Unterschied zu
den Beamten stellten die „Politiker“ nach der
ersten und dritten Dumawahl nur fünf Prozent
der unabhängigen Deputierten.
Die Steigerung des Abgeordnetenanteils mit
militärischem Hintergrund ist hauptsächlich
auf die Parteien der rechtsextremen LDPR
und der Pro-Präsidentenpartei zurückzuführen. Während sich bei den Pro-Präsidentenparteien die Zahl fast verdreifachte und 2003
bei 11 Prozent lag, erhöhte sich die Zahl bei
der LDPR von drei auf 14 Prozent. Eine
vorparlamentarische Militärtätigkeit haben
durchschnittlich 11 Prozent der unabhängigen Kandidaten ausgeübt. Seit 1993 ist ein
Anstieg von Direktkandidaten mit militärischem Hintergrund zu verzeichnen, welcher
seine maximalen Werte mit 14 Prozent in
der dritten Duma erreichte und seitdem auf
zehn Prozent gesunken ist und damit auf dem
Niveau von 1993 liegt. Bemerkenswert ist die
Tatsache, dass bei den Wahlen von 1999 sowohl die linksliberale Partei JABLoko als auch
die rechtsliberale Partei SPS entsprechend 11
und sieben Prozent Militärs rekrutierten.
Der Bereich der höheren Verwaltung kann –
mit einigen aus seiner heterogenen Struktur
hervorgegangenen Abstufungen – als relativ
politiknah betrachtet werden (Ismayr 2000:66).
Der Anstieg der Rekrutierung von Parteifunktionären in Deutschland zeigt deutlich die
Wiederentdeckung dieser Gruppe als einen
wichtigen Teil des politischen Rekrutierungspools (Best / Hausmann / Schmitt 2000:168).
Er folgt der europäischen Tendenz, nach der der
Anteil der Abgeordneten mit politischem bzw.
gewerkschaftlichem Berufshintergrund erheblich gestiegen ist (Cotta / Best 2000:501f.).
Im deutsch-russischen Vergleich zeigen sich
bei der Abgeordnetenrekrutierung viele ähnliche Tendenzen. Zwei Besonderheiten gilt es
in der Entwicklung Russlands hervorzuheben:
erstens die zunehmende Präsenz des Militärs
Generell ist es festzustellen, dass der Militäranteil im Parlament zu Amtszeiten Putins
deutlich gestiegen ist. Der Militarisierungsprozess betrifft nicht nur das Parlament
Russlands, sondern auch die politische Klasse
allgemein. Gab es 1989 bei Gorbatschow noch
keine Militärvertreter, waren es bei
Jelzin im Jahr 1993 sieben und 2002
Seite
bereits 27 Prozent (Kryschtanowskaja 2005:154f.). Diesbezüglich muss
angemerkt werden, dass die Zunahme von Militärs in der Amtszeit Putins nicht
nur im Parlament, sondern auch in regionalen
Elitengruppen festzustellen ist.
45
Berufe der Abgeordneten
Als Gründe hierfür sind die politischen Folgen
der Tätigkeit von Jelzin sowie der Zerfall der
Armee und des KGB zu benennen. Aus der
Aufspaltung des KGB entstanden zusätzlich
neue bewaffnete Körperschaften (Muchin
2002). Eine Reform der Armee wurde, trotz
stark verbreiteter Zweifel am positiven Ausgang, während der Regierungsjahre Jelzins
massenhaft gefordert (vgl. die Paneluntersuchungen von Fond „Obchstvennoje mnenie“).
Gleichzeitig fand die Forderung nach militärischer Stärke in der Bevölkerung wachsende
Unterstützung: So glaubten im Jahr 1998 76
Prozent, dass Russland eine sehr starke Armee
haben sollte, um als Weltmacht handlungsfähig
zu bleiben (Kertman 1998). Ebenso glaubten
56 Prozent, dass die von Jelzin initiierte
Truppenreduzierung letztendlich eine Schwä-
chung der Armee wäre (Petrova/ Chernjakov/
Klimova/ Jadova 1999). All dies hatte zur
Folge, dass in Russland oft Rufe nach einer
„starken Hand“ und nach „Ordnung schaffen“
laut wurden. Die Popularität V. Putins nährt
sich zum Teil aus diesen Ansichten: Bereits
1999, als lediglich sieben Prozent der Wahlberechtigten den neuen Regierungschef V.
Putin zum Präsidenten wählen wollten, zeigten
repräsentative gesamtrussische Befragungen,
dass seine Wahlchancen von seiner Fähigkeit
abhängig seien, erfolgreich eine Politik der
„starken Hand“ durchzusetzen (Kertman
1999). Diesbezüglich muss erwähnt werden,
dass im russischen Massenbewusstsein Militärs
als ehrliche, patriotische, verantwortungsbewusste Menschen gelten (Kryschtanowskaja
2005:152, Petrova 2002).
Grafik 4: Anteil der Militärs in der Staatsduma Russlands (in Prozent)
16
14
12
10
8
6
4
Seite 46
2
0
1993
1995
LDPR
Quelle: Eigene Darstellung
Unabhängige Abgeordnete
1999
2003
Pro-Präsidentenparteien
Semenova
Ein weiteres Spezifikum des russischen Nationalparlaments ist der hohe Anteil von Abgeordneten, die aus dem Management stammen.
Es sind zwei Tendenzen in der Rekrutierung
von Abgeordneten aus dem hohen Management und großen Business festzustellen. Erstens hat sich in der Kommunistischen und in
den Pro-Präsidentenparteien die Zahl über die
Jahre hinweg stetig erhöht. Während anfangs
der Anteil der Manager in beiden Parteien bei
26 und 24 Prozent lag, waren es in der vierten
Legislaturperiode bei der KPRF schon 37 Prozent und bei der Pro-Präsidentenpartei sogar
50 Prozent aller Abgeordneter.
Zweitens ist die Rekrutierung der Wirtschaftselite von Seiten der rechtsextremen
Partei LDPR seit den Wahlen von 1993 auf
22 Prozent gestiegen und erreichte 1999
ihren Höchstwert mit 47 Prozent. Auch die
rechtsliberale Partei SPS rekrutierte im Jahre
1999 45 Prozent ihrer Abgeordneten aus der
Wirtschaftselite. Jedoch lag diese Zahl in der
vierten Duma bei der LDPR nur noch bei
16 Prozent. Eine ähnliche Entwicklung lässt
sich bei den unabhängigen Abgeordneten
beobachten: Der Anteil der Mandatsträger
aus dem Businessbereich war zu Beginn bei
der LDPR noch höher und betrug 36 Prozent.
In der dritten Duma kam bereits die Hälfte
aller unabhängigen Abgeordneten aus dieser
Berufsgruppe, danach sank deren Anteil wieder bis auf das Niveau von 1993. Auch in der
linksliberalen Partei JABLoko zeigte sich eine
ähnliche Entwicklung der Rekrutierung von
Geschäftsleuten ins Parlament, wenn auch mit
einiger zeitlicher Verzögerung: Hier hat sich
der Anteil der Manager seit 1993 fast verdreifacht und lag 1995 bei 19 Prozent, danach kam
ein leichter Rückgang um drei Prozentpunkte.
Seite 47
Berufe der Abgeordneten
Grafik 5: Anteil der Manager in der Staatsduma Russlands (in Prozent)
60
50
40
30
20
10
0
1993
Kommunisten
1995
LDPR
1999
Unabhängige Abgeordnete
2003
Pro-Präsidentenparteien
Quelle: Eigene Darstellung
Seite
Die Steigerung der Repräsentanz wirtschaftlicher Eliten geht auf die gesellschaftliche Entwicklung nach dem sowjetischen Systemumbruch zurück, bei dem neue Formen sozialer
Differenzierung und neue Eliten entstanden.
Die Entwicklung der Wirtschaftselite ist aus
zwei Gründen besonders bemerkenswert. Erstens gab es in dieser Elitengruppe die größte
Rate an Neulingen (Harter / Grävingholt /
Pleines / Schröder 2003:Kap.2.3), welche sich
durch die Herausbildung der Marktwirtschaft
erklären lässt. Zweitens stellte sie
insgesamt einen bedeutenden Poli48
tikfaktor dar, der die gesellschaftliche
Entwicklung im Allgemein sowie das
politischen Leben in der späten Zeit
Jelzins im Besonderen erheblich prägte (Peregudov / Lapina / Semenenko 1999; Klebnikov
2000).
Das Besondere dieser Entwicklungstendenzen
der russischen Wirtschaftseliten in der JelzinÄra ist die Herausbildung von mindestens
drei großen Gruppen (Zaslavskaja 1995). Die
erste Gruppe bildeten die Staatsunternehmer
oder die ehemaligen „roten“ Direktoren, die
bereits vor der Privatisierung hohe Positionen
innehatten. Sie sicherten ihre Stellungen
mittels der Privatisierung und übten einen
erheblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung aus (Staatslobbyismus). Die zweite
Gruppe bestand aus Unternehmern im klassischen Sinne, die Betriebe ausbauten und für
die Vermarktung von Produkten sorgten - die
„Manager par excellence“ in der Terminologie
von T. Bottomore (Bottomore 1966:80). Die
letzte Gruppe repräsentierte einen Unternehmertyp der Übergangszeit. Es waren die so
genannten „politischen“ Unternehmer, die sich
Semenova
nicht hauptsächlich mit der Marktentwicklung
und dem Profit von Betrieben, sondern mit der
Maximierung der „politischen Rendite“ und
der Gestaltung von Beziehungen mit staatlichen Institutionen, insbesondere zu Regierungsstellen befassten (Harter / Grävingholt /
Pleines / Schröder 2003:140). Das Tätigkeitsspektrum von „politischen“ Unternehmern war
sehr breit. Es reichte von der Lobbytätigkeit im
Interesse einzelner Betriebe oder Branchen bis
hin zur entscheidenden Einflussnahme auf die
Herausbildung der obersten Machtorgane und
die Besetzung der hochrangigen Positionen
im Staat. Dies vollzog sich in verschiedenen
Formen: Die Unternehmer kandidierten bei
den Wahlen und initiierten die Gründung
politischer Parteien, die sie weiter finanzierten.
Interessanterweise bekamen alle Parteien diese
finanzielle Unterstützung von großen Unternehmen unabhängig von ihrer politischen
Ausrichtung (Kryschtanowskaja 2005:210,
214f.).
Nach der Wahl Putins zum Präsidenten wurde
dieses System des „politischen“ Unternehmers
stark umstrukturiert. Es entstand eine neue
Gruppe der Wirtschaftselite, eine die unter
den Bedingungen der „Gesetzesdiktatur“ (V.
Putin) und der besonderen Bedeutung von
„Staatlichkeit“ existieren musste und die eine
staatliche Unterstützung suchte, wobei sie aber
den von den ehemaligen „Oligarchen“ ausgeübten Einfluss auf die Macht verlor (Harter /
Grävingholt / Pleines / Schröder 2003:303f.).
Das hochrangige Business ist im russischen
Nationalparlament überrepräsentiert. Damit
ergibt sich für die Duma in dieser Hinsicht
ein ähnliches Rekrutierungsmuster wie für das
britische Unterhaus und die französische Na-
tionalversammlung. Allerdings ist in Europa
die Zahl der Abgeordneten mit BusinessBerufserfahrung entweder rückläufig oder
generell gering (Cotta / Best 2000:500f.).
Zum einen könnte die Überrepräsentierung
des Business, wie im Fall von Frankreich
(Cotta / Best 2000:506), die Folge einer
langen Tradition der staatlichen Kontrolle in
der ökonomischen Sphäre sowie einer engen
Bindung zwischen staatlichen und hochrangigen Wirtschaftskarrieren sein. Obwohl es in
Russland keine strikte Abgrenzung zwischen
Eigentümern und Unternehmensführern gab,
entwickelt sich das Business aktuell nicht zur
neuen „herrschenden Klasse“, weil es von der
politischen Elite stark abhängig ist (vg. Bottomore 1966:83).
Wenn im Fall Deutschlands der geringe
Anteil der Manager Resultat der Dissoziation zwischen Politik und Wirtschaft auf der
Individualebene ist und es statt der direkten
Repräsentation von Interessen großer Wirtschaftssubjekte im Nationalparlament ein
verbreitertes und stärker institutionalisiertes
Lobbysystem gibt (Best / Hausmann / Schmitt
2000:165), ist der Lobbyismus in Russland
nicht institutionalisiert und gesetzlich nicht
reguliert (Lobbism v Rossii 1995).
Seite 49
Partei versus Patronage?
4
D
er erste Teil des Kapitels ist den
politischen Erfahrungen von Abgeordneten vor ihrem Einzug in den
Deutschen Bundestag sowie in die Staatsduma
gewidmet. Es werden hauptsächlich die Art
der politischen Vorerfahrung und die Zahl der
politischen Ämter (Ämterkumulation) analysiert. Aufgrund der sozialistischen Erfahrung
Russlands und Ostdeutschlands wird auch die
Affiliation der Parlamentarier mit dem alten
Regime (DDR und Sowjetunion) in den Blick
genommen. Dies steht im Fokus des zweiten
Teils dieses Kapitels.
4.1. Politische Erfahrung
Partei
tischen
der
Seite 50
Patronage? Zu den poliErfahrungen und Vorpositionen
versus
Parlamentarier
Im Durchschnitt verfügten etwa 60 Prozent
der westdeutschen Parlamentarier über eine
regionale bzw. lokale politische Erfahrung, das
liegt 18 Prozent über dem ostdeutschen Durchschnitt. Im Osten erhöhte sich der Anteil der
Politiker mit Erfahrung in der Landes- bzw.
Kommunalpolitik um ca. 20 Prozentpunkte
und liegt aktuell bei 51 Prozent. Im Westen
ist die Entwicklung dagegen rückläufig: Der
Anteil ist um vier Prozentpunkte gesunken
und lag in der 16. Legislaturperiode bei 58
Prozent.
Etwa 52 Prozent der Westabgeordneten haben
vor dem Einzug ins Parlament eine höhere Position in der Partei bekleidet, dieser Wert liegt
13 Prozent über dem ostdeutschen Schnitt.
Unter den westdeutschen Parlamentariern erhöhte sich der Anteil vom Anfangsniveau von
47 auf 57 Prozent, wobei der Anstieg im Osten
prozentual höher ist: Die Werte lagen anfangs
bei 35 und stiegen später auf 53 Prozent.
Während der Unterscheid zwischen Ost- und
Semenova
Westabgeordneten nach der Wiedervereinigung noch bei etwa 12 Prozent lag, hat er sich
aktuell auf vier Prozent reduziert.
Die meisten russischen Abgeordneten besaßen
vor dem Einzug in die Duma schon eine höhere
Parteiposition entweder auf Landes- oder auf
Föderalebene bzw. lokalpolitische Erfahrung.
32 Prozent der russischen Parlamentarier bekleideten vor der ersten Dumawahl von 1993
eine höhere Parteiposition auf regionaler bzw.
föderaler Ebene. Die höchsten Werte bei der
Rekrutierung ehemaliger hoher Parteifunktionäre lagen 1995 bei etwa 36 Prozent. Generell
ist die Rede von konstanten 30 Prozent, die als
Abgeordnete mit Parteierfahrungen rekrutiert
wurden. Die Politiker mit der regionalen Erfahrung bilden fast ein Viertel des Parlaments:
Ihr Anteil ist langsam gestiegen und lag 1999
bei 24 Prozent, dann ist er wieder geringfügig
gefallen.
Eine andere parlamentarische Tätigkeit, vor
allem die in den Landtagen, hatten die meisten
ostdeutschen MdB bereits ausgeübt, derer Anteil im Durchschnitt etwa 43 Prozent betrug.
Dies ist ein ostdeutsches Spezifikum, da ein
Teil dieser Erfahrung aus der 10. Volkskammer
der DDR stammt – die erste demokratisch
gewählte Kammer. Unter den westdeutschen
Parlamentariern verfügten nur 18 Prozent
schon über eine parlamentarische Erfahrung.
Es ist festzustellen, dass der Anteil der Mandatsträger aus den neuen Ländern, die schon
ein parlamentarisches Amt innehatten, kontinuierlich gesunken ist: von ursprünglichen 55
auf 36 Prozent. Dies geht damit zusammen,
dass der Anteil der ehemaligen Landtagsabgeordneten gestiegen und der der ehemaligen
Volkskammermitgliedern im Osten gefallen
ist (Edinger 2006:512f.). Unter den westdeutschen Parlamentariern ist ein geringfügiger
Anstieg um zwei Prozentpunkte zu sehen: In
der 16. Legislaturperiode lagen die Werte bei
19 Prozent.
Eine relativ geringe Zahl der Abgeordneten
hatte vorher eine Regierungsposition inne.
Dieser Sachverhalt vermag angesichts der
begrenzten Zahl der jeweiligen Kabinettsmitglieder nicht zu überraschen. In Ostdeutschland ist der Anteil der rekrutierten ehemaligen
Regierungsmitglieder sogar rückläufig: Während er nach der Wiedervereinigung noch bei
14 Prozent lag, sind es heute nur noch sechs
Prozent. Der zunächst hohe Anteil an ehemaligen Regierungsmitgliedern in den neuen
Ländern ist ein Sondereffekt, weil diese zum
Teil aus der ersten demokratisch gewählten
DDR-Regierung stammten. Demgegenüber
lässt sich in Westdeutschland eine konträre
Tendenz erkennen: Aktuelle Werte sind doppelt so hoch wie nach der Wiedervereinigung
und damit dem ostdeutschen Niveau gleich.
Die Zahl der ehemaligen Regierungsmitglieder verdreifachte sich unter den westdeutschen SPD-Abgeordneten und lag in der 16.
Legislaturperiode bei sechs Prozent. In den
neuen Ländern ist der Anteil dagegen bis zur
15. Legislaturperiode vom Anfangsniveau von
neun auf etwa fünf Prozent zurückgegangen, ist
kontinuierlich wieder gestiegen und ist aktuell
mit dem von 1990 gleichgezogen.
Bei der CDU in Westdeutschland ist
Seite
der Anteil um zwei Prozentpunkte
gestiegen und liegt bei aktuellen fünf
Prozent. Demgegenüber verkleinerte
sich der Anteil unter den Christdemokraten
in den neuen Ländern: Die Werte gingen von
anfänglichen 19 auf aktuelle sieben Prozent
51
Partei versus Patronage?
zurück.
Offensichtlich sind die Tätigkeit in der Regierung sowie eine parlamentarische Erfahrung
in den Regionalparlamenten für den Einzug
in die Staatsduma Russlands im Gegensatz zu
Deutschland nicht ausschlaggebend. Seit 1993
verringerte sich die Zahl der Mandatsträger mit
solch einer Berufserfahrung kontinuierlich.
Tabelle 3: Die Art politischer Erfahrung von Abgeordneten im Vergleich (in Prozent)
Legislaturperiode
Lokale/Regionale
Erfahrung
West
Ost
Parteiposition
Rus
West
Ost
Erfahrung in einem
anderen Parlament
Regierungsposition
Rus
West
Ost
Rus
West
Ost
Rus
1.
62,3
30,2
20
47,4
34,9
32,0
3,4
14,3
9,4
17,4
54,8
15,9
2.
59,6
37,4
20,3
49,4
32,5
36,2
4,7
8,9
7,8
17,9
46,3
14,0
3.
59,3
42,3
23,9
52,9
35,8
33,3
4,9
7,3
7,0
17,9
39
11,5
4.
62,7
48,2
21,5
55
40
30,0
4,1
5,9
5,1
18,7
36,5
8,0
5.
57,7
50,5
56,5
52,7
5,8
6,3
18,7
35,8
Quelle: Eigene Darstellung
Seite
Unter den westdeutschen Sozialdemokraten
stieg der Anteil kommunalpolitisch erfahrener
Abgeordneter bis 2002 um vier Prozentpunkte
und er lag bei 64 Prozent. In der 16. Legislaturperiode waren die Werte geringfügig rückläufig. In Ostdeutschland ist der Anteil deutlich
gestiegen: von ursprünglichen 30 auf aktuell
55 Prozent. Die CDU-Abgeordneten im
Westen zeigen die gleiche Entwicklungstendenz wie die SPD: Der Anteil der Abgeordneten mit einer lokalen bzw. regionalen Erfahrung erhöhte sich um sechs Prozent
und lag in der 15. Legislaturperiode
52
bei 71 Prozent, worauf eine Reduktion um zwei Prozentpunkte stattfand.
In Ostdeutschland ist bei der CDU
eine gegenläufige Tendenz zu sehen: Die Zahl
ist bis 1998 von 35 auf 24 Prozent gesunken,
um sich anschließend zu verdoppeln.
Wird nach Parteien differenziert, so verfügten
durchschnittlich 20 Prozent der Kommunisten
in der Duma über lokalpolitische bzw. regionale Erfahrungen, lediglich 1993 wurden nur
16 Prozent aus der Regionalpolitik rekrutiert.
Auch in der kommunistennahen Agrarpartei
Russlands hat fast ein Viertel der Mandatsträger vor dem Einzug ins Parlament regionalpolitische Erfahrungen gesammelt. Interessant
ist es, dass sich die Zahl der Parlamentarier
mit einer regionalen bzw. lokalen Erfahrung
in der Agrarpartei seit 1995 verringerte und
1999 nur noch 20 Prozent betrug. Bereits in
der vierten Legislaturperiode gab es innerhalb
dieser Parlamentsgruppe keinen Deputierten
mehr mit einer regionalen Erfahrung. Die ProPräsidentenparteien zeigten ein dauerhaftes
Interesse an Parlamentariern, die aus der Regionalpolitik kamen: So wurde etwa ein Viertel
Semenova
der Abgeordneten aus lokalpolitischen Positionen rekrutiert. Ein ähnlich großer Anteil ist
unter den Parlamentariern vorhanden, die als
unabhängige Delegierte gewählt wurden.
Bei der SPD in Westdeutschland ist die Zahl
der Parlamentarier, die vor dem Einzug ins
Parlament über ein höheres Parteiamt verfügte,
bis zur 15. Legislaturperiode von 45 auf 55
Prozent gestiegen, dann war sie rückläufig
und hat aktuell dieselben Werte wie nach der
Wiedervereinigung erreicht (etwa 45 Prozent).
Unter den ostdeutschen Sozialdemokraten vergrößerte sich der Anteil an Parteifunktionären
im Zeitverlauf von etwa 17 auf aktuelle 52
Prozent. Unter den Christdemokraten aus den
alten Ländern ist der Anteil der Abgeordneten
mit Parteierfahrung kontinuierlich gestiegen
und liegt aktuell ebenso bei 52 Prozent. Im
Osten ist der Anteil der CDU-Mandatsträger
mit dieser Art Vorerfahrung bis zur 14. Periode
um 11 Prozentpunkte gesunken und lag bei
24 Prozent, danach nahmen die Werte zu und
betragen aktuell 45 Prozent.
Wird der russische Fall analysiert, legte die
KPRF auf Parteiarbeit als eine vorparlamentarische Tätigkeit über die Jahre hinweg
besonders großen Wert: Gut die Hälfte aller
Kommunisten hatte zuvor eine Hauptposition in der Parteiorganisation auf regionaler
bzw. föderaler Ebene inne. Der Anteil der
LDPR-Abgeordneten mit parteipolitischer
Erfahrung ist im Zeitverlauf stark gesunken:
In der zweiten und dritten Legislaturperiode
war die Zahl fast durchweg konstant und betrug 30 Prozent, wobei schon 2003 nur noch
16 Prozent der Abgeordneten aus den Reihen
von Parteifunktionären rekrutiert worden.
Die Pro-Präsidentenparteien, unabhängige
Delegierte sowie die linksliberale JABLoko
demonstrierten eine gewisse Stabilität bei
der Rekrutierung von Parlamentariern aus
den Parteien: So wurde ein Viertel aller
Mandatsträger dieser beiden Parteien (ProPräsidentenparteien sowie JABLoko) aus der
Riege derjenigen mit vorparlamentarischen
Parteierfahrungen rekrutiert. Unter den unabhängigen Abgeordneten verfügten in der
ersten Duma zunächst 21 Prozent über eine
parteipolitische Vorerfahrung, in der zweiten
Legislaturperiode erhöhte sich die Zahl derer
um weitere zehn Prozentpunkte und ist seitdem jedoch rückläufig.
Seit dem Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland haben sich die Mitglieder des
nationalen Parlaments zu einem wichtigen
Anteil aus den Reihen der Landesparlamentarier rekrutiert (Handschell 2002: 139-151). Im
Westen beträgt der Anteil der SPD-Abgeordneten mit parlamentarischer Erfahrung über
die Jahre hinweg durchschnittlich 14 Prozent.
Bei der westdeutschen CDU betrug die Zahl
der Mandatsträger mit parlamentarischer
Erfahrung nach der Wiedervereinigung etwa
21 Prozent, bis zur 13. Legislaturperiode ist
sie um drei Prozentpunkte gestiegen. Seitdem
gingen die Werte zurück und liegen aktuell
auf dem Niveau von 1990.
Unter den ostdeutschen Sozialdemokraten
ging der Anteil der ehemaligen
Landesparlamentarier bis zur 14. LeSeite
gislaturperiode von 52 auf 32 Prozent
zurück, danach ist er um vier Prozentpunkte gestiegen und liegt nun
aktuell bei 36 Prozent. Durchschnittlich hatte
ein Drittel der Mandatsträger der Ost-SPD
parlamentarische Vorerfahrungen aus sozia-
53
Partei versus Patronage?
listischer Zeit. In den neuen Ländern nahm
der Anteil der CDU-Mandatsträger mit einer
vorparlamentarischen Erfahrung von eingangs
63 Prozent um 25 Prozentpunkte ab, bei der
Ost-CDU verfügten jedoch durchschnittlich
etwa 40 Prozent aller Abgeordneten über eine
parlamentarische Erfahrung in der DDR.
Abgeordnete mit parlamentarischer Vorerfahrung wurden über die Zeit hinweg konstant
von den Ost-Grünen rekrutiert. Die einzige
Ausnahme bildete die 16. Legislaturperiode,
als in den neuen Ländern keine Mandatsträger
mit solch einem Typ an Vorerfahrung gewählt
wurden. Generell ist festzustellen, dass etwa
ein Drittel der ostdeutschen Abgeordneten
bereits eine Tätigkeit in der 10. Volkskammer
der DDR ausgeübt hatte. Der Anteil der ehemaligen Volkskammerabgeordneten ist jedoch
im Zeitverlauf um 38 Prozentpunkte auf nun
mehr 17 Prozent gesunken.
Seite
Es muss betont werden, dass eine Abgeordnetentätigkeit in der 10. Volkskammer der DDR
nicht als Affiliation mit dem DDR-System
betrachtet werden kann, weil sie im Vergleich
zu anderen DDR-Parlamenten die erste
demokratisch gewählte Volkskammer war.
Letztendlich bildeten die Parlamentarier aus
der 10. Volkskammer den Abgeordnetenpool
in Ostdeutschland für die ersten Bundestagswahlen nach der Wiedervereinigung
von 1990 (Derlien 2001). Die Repräsentanz
der Politiker mit parlamentarischer
DDR-Erfahrung ist der im moder54
nen Russland nicht ähnlich. Während
in die 10. Volkskammer überwiegend
politische Neulinge und Abgeordnete ohne Erfahrung in den früheren DDRParlamenten gewählt wurden, waren es in der
Spät-Sowjetunion Abgeordnete, die durch
Pseudo-Wahlen und bestimmte Branchenquoten delegiert wurden.
Im Laufe der politischen Tätigkeit werden bestimmte Muster genutzt, die zum einen einer
Karrierisierung des politischen Personals und
zum anderen einer gewissen Absicherung ihrer
Beschäftigung dienen. Ein Muster ist eine
Ausübung von Positionen in der Partei, auf
parlamentarischer, exekutiver oder Interessensgruppenebene, die gleichzeitig (Ämterkumulation) oder nacheinander (Ämtersukzession)
erfolgt ist (Borchert 2003:28f.). Die Analyse
der Ämterkumulationen kann uns Auskunft
geben über Institutionalisierung sowie Professionalisierung des politischen Berufs im
jeweiligen Staat.
Wird die Ämterzahl von Abgeordneten betrachtet, sind folgende Tendenzen zu sehen: 40
Prozent der Abgeordneten aus den alten und
etwa der gleiche Anteil aus den neuen Ländern
hatten vor ihrem Einzug ins Parlament ein
Amt inne. Etwa ein Drittel der Abgeordneten
hat zwei Funktionen ausgeübt und ein Zehntel
hatte drei und mehr Funktionen inne: Das gilt
sowohl für West- als auch für Ostdeutschland.
Unter den westdeutschen Abgeordneten verringerte sich die Anzahl derjenigen, die eine
Funktion hatten, von 42 auf 37 Prozent. Die
Zahl der Abgeordneten, die drei und mehr
Funktionen hatten, blieb fast konstant und
beträgt im Durchschnitt zehn Prozent. Während der Anteil der Mandatsträger, die keine
Funktion haben, zwischen 17 und 19 Prozent
schwankt, ist die Anzahl der Abgeordneten mit
zwei Funktionen von 30 um ca. vier Prozentpunkte gestiegen.
Im Osten lag der Anteil der Mandatsträger,
Semenova
die drei und mehr Funktionen innehatten,
nach der Wiedervereinigung bei acht Prozent,
wobei die Zahl der Abgeordneten, die keine
Funktion bekleideten, fast doppelt so hoch war.
Aktuell liegen die Werte bei 18 Prozent für
Mandatsträger ohne Funktion, dass sind drei
Prozentpunkte mehr als die Abgeordneten, die
drei Funktionen ausgeübt haben. Der Anteil
der Abgeordneten mit zwei Funktionen ist bis
2002 kontinuierlich um sechs Prozentpunkte
gesunken, danach erhöhte er sich wieder und
liegt aktuell bei 34 Prozent. Dies entspricht
dem gleichen Niveau wie nach der „Wende“.
Die Zahl der Mandatsträger mit einem Amt
ist im Zeitverlauf um sieben Prozentpunkte
gefallen und liegt im 16. Bundestag ebenfalls
bei 34 Prozent.
Es gibt einen Trend bei den großen Parteien
Westdeutschlands, der ins Auge fällt: das ist die
Erhöhung des Anteils von Parlamentariern, die
schon zwei Ämter innehatten, wobei sich bei den
Sozialdemokraten diese Tendenz am stärksten
zeigt. So hatten in der 16. Legislaturperiode
fast 40 Prozent der SPD-Mandatsträger bereits
zwei Ämter ausgeübt, das sind etwa zehn Prozent mehr als nach der Wiedervereinigung. Bei
der CDU erhöhte sich diese Zahl in derselben
Zeit nur um fünf Prozentpunkte und liegt bei
aktuellen 33 Prozent. In den neuen Ländern
sieht die Situation ganz anders aus: Unter den
Christdemokraten ist der Anteil derjenigen,
die zwei Positionen innehatten, von 40 auf 21
Prozent gesunken, aktuell beträgt der Anteil
jedoch etwa ein Drittel der Mandatsträger. In
der letzten Legislaturperiode hatten etwa 39
Prozent der ostdeutschen Parlamentarier aus
der SPD zwei Funktionen inne, wobei deren
Anteil nach der „Wende“ 36 Prozent betrug.
Der Anteil der SPD-Parlamentarier, die nur
ein Amt innehatten, nimmt ab. Das gilt für
Ost- und Westdeutschland gleichermaßen,
wobei es in den neuen Ländern prozentual
am stärksten hervortritt: Hier verringerte
sich die Zahl von 48 auf 27 Prozent (ostdeutsche MdB) und von 44 auf 34 Prozent
(westdeutsche MdB). Was die Rekrutierung
der Abgeordneten angeht, die drei und mehr
Funktionen ausübten, ist bei der SPD eine
interessante Tendenz zu sehen: Während
im Osten der Anteil der Abgeordneten mit
mehreren Ämter im Zeitverlauf zunahm und
aktuell 15 Prozent beträgt, liegt er bei den ostdeutschen Parlamentariern fast unverändert
bei sieben Prozent.
Wird die Ämterausübung russischer Parlamentarier betrachtet, ist festzustellen, dass
fast ein Drittel der russischen Parlamentarier
schon vor ihrer ersten Wahl in die Duma ein
Amt innehatten, 21 Prozent übten sogar zwei
Ämter aus. Etwa sieben Prozent der Mandatsträger haben vor dem Einzug ins Parlament
drei und mehr Ämter bekleidet.
Der Anteil der Abgeordneten, die über zwei
vorparlamentarische Ämter verfügten, ist
rückläufig: Die Werte sind im Zeitverlauf
etwa um zehn Prozentpunkte zurückgegangen
und lagen in der vierten Legislaturperiode bei
29 Prozent. Der Anteil der Parlamentarier,
die zwei Ämter innehatten, nahm bis
zur dritten Duma um zwei ProzentSeite
punkte zu und lag 1999 bei etwa 23
Prozent. Danach verringerte er sich
erneut um fünf Prozentpunkte. Unter
den Abgeordneten, die vor dem Einzug in die
Duma drei und mehr politische Funktionen
ausgeübt hatten, ist die Zahl von ursprüng-
55
Partei versus Patronage?
lichen sieben auf neun Prozent in der zweiten
Duma gestiegen. Seitdem ging sie zurück und
betrug 2003 etwa vier Prozent.
Bei den Kommunisten ist die Zahl der Parlamentarier, die ein Amt innehatten, im Zeitverlauf geringer geworden, dagegen vergrößerte
sich der Anteil der Mandatsträger, die sowohl
zwei als auch mehr Ämter bekleidet hatten.
So ging die Zahl der Abgeordneten mit einer
politischen Funktion von 46 Prozent auf gut
ein Drittel aller KPRF-Abgeordneten zurück. Der Anteil der Abgeordneten mit zwei
Ämtern ist von 32 auf 41 Prozent gestiegen.
Auffällig ist, dass sich der Anteil derjenigen,
die über drei und mehr Ämter verfügten, unter
den Kommunisten seit der ersten Duma nahezu verdoppelte und 2003 bei etwa 12 Prozent
lag.
Seite
Bei den Pro-Präsidentenparteien ist der Anteil
der Parlamentarier, die ein Amt innehatten,
ebenso wie bei den Kommunisten im Zeitverlauf um gut zehn Prozent zurückgegangen
und betrug in der vierten Duma etwa 30
Prozent. Die Machtparteien demonstrieren
interessante Tendenzen: Bei ihnen sind die
Zahlen der Parlamentarier rückläufig, die vor
dem Einzug ins Parlament zwei oder mehr
Funktionen ausgeübt hatten. So lag der Anteil
der Abgeordneten mit zwei Ämtern in der
vierten Duma bei fast 16 Prozent, wobei er in
der ersten Legislaturperiode doppelt
so hoch war. Die Zahl der Abge56
ordneten mit mehreren politischen
Funktionen sank seit 1993 von neun
auf vier Prozent. Dagegen stieg der
Anteil der politischen Neulinge unter den
Machtparteien von 15 Prozent auf die Hälfte
aller Abgeordneten.
Die extremrechte Partei LDPR hatte etwa
ein Drittel der Abgeordneten, die über eine
politische Funktion verfügten. Generell ist der
Anteil der Extremrechten von etwa 40 auf 14
Prozent gesunken. Ein Wachstum von Abgeordneten ohne eine politische Erfahrung zeigt
sich unter den Extremrechten: Während die
Turnover-Rate in der Duma von 1993 mehr
als die Hälfte der Parlamentarier betrug, lag
der Anteil der Neulinge in der vierten Duma
schon bei 83 Prozent.
Bei JABLoko verfügten 23 Prozent der
Mandatsträger über ein Amt und etwa der
gleiche Anteil hatte zwei Ämter inne. Unter
den Abgeordneten mit einem und denen mit
zwei Ämtern ist eine Tendenz erkennbar: Bis
zur dritten Duma verringerte sich die Zahl
derjenigen linksliberalen Abgeordneten, die
eine Funktion hatten, von 29 Prozent auf 16
Prozent. Der Anteil derer, die zwei Funktionen
innehatten, ist ebenso zurückgegangen: vom
Ausgangsniveau von einem Drittel auf 21
Prozent. Der Anteil der Mandatsträger mit
drei Funktionen betrug durchschnittlich sechs
Prozent und ist im Zeitverlauf von vier auf 11
Prozent gestiegen.
Was die Rekrutierungsmuster von anderen
Parlamentsparteien angeht, so hatten unter
den rechtsliberalen Abgeordneten in der dritten Duma mehr als die Hälfte eine politische
Funktion inne, etwa 17 Prozent verfügten sogar
über zwei und zehn Prozent über drei Funktionen. Für die Partei „Rodina“ („Heimat“), die
kurz vor den Wahlen von 1999 gebildet wurde,
sind vor allem Neulinge rekrutiert worden.
Außerdem hatte etwa ein Drittel der RodinaAbgeordneten mindestens eine und 21 Prozent
sogar zwei politische Funktionen inne.
Semenova
Tabelle 4: Ämterkumulation in Russland und Deutschland im Zeitverlauf (politische Neulinge und Parlamentarier mit drei und mehr politischen Funktionen) (in Prozent)
Legislaturperiode
Ohne politische Funktion
Mit drei und mehr politischen Funktionen
West
Ost
Rus
West
Ost
Rus
1.
19,2
16,7
2.
19,7
19,5
33,3
9,5
7,9
7,0
33,5
10,6
6,5
3.
18,3
8,8
21,1
36,0
10,1
7,3
7,4
4.
5.
16,6
18,8
48,2
10,4
10,6
4,1
18,8
17,9
10,8
14,7
Quelle: Eigene Darstellung
Generell ist festzustellen, dass der Anteil
der russischen Abgeordneten, die über eine
politische Vorerfahrung vor dem Einzug ins
Parlament verfügen, im Vergleich zu Ost- und
Westdeutschland sehr viel geringer ist. Dies
lässt sich durch das Spezifikum des Selektorats
in beiden Staaten erklären.
Die Rekrutierung des politischen Personals
im Allgemeinen sowie der Abgeordneten im
Besonderen ist eine der wichtigsten Funktionen der politischen Parteien in Deutschland
(von Beyme 1984:24f.; Herzog 1975:62fff.;
Oberreuter 1992:30). Im Unterschied zu
Russland, wo bis 2002 eine Selbstnominierung
möglich war, sind die Parteien in Deutschland
„Karriere-Gatekeepers“, daher ist eine Karriere
in einer Parteiorganisation in vielen Fällen eine
Grundvoraussetzung für eine politische Tätigkeit (Borchert / Golsch 2003:150).
Politische Karrieren sind gesellschaftlich strukturiert. In diesem Sinne sind sie „empirisch
beobachtbare Muster typischer Mobilitätsprozesse“ und gelten gleichzeitig als Verhaltens-
regeln für Personen mit politischen Ambitionen (Herzog 1990:35). Theoretisch wird
davon ausgegangen, dass in jeder Gesellschaft
nur eine bestimmte Zahl von Aufstiegsmöglichkeiten existiert, wobei die strukturellen
Rahmenbedienungen eine bestimmte „structure of opportunities“ bilden. Individuelle
Karrierewege zeigen typische Verläufe und
können daher als „Karrieremuster“ bezeichnet
werden (Herzog 1982:90).
In Deutschland ist die so genannte „Ochsentour“, die gewöhnlich in den lokalen Positionen
beginnt und über verschiedene Ämter einen
Aufstieg in Spitzenpositionen verschafft, zum
typischen Rekrutierungsmuster des politischen
Personals geworden (Herzog 1982:94). Dabei
werden „Quereinsteiger“ oft vom
Wettbewerb um politische Posten
Seite
ausgeschlossen (Herzog 1990:34f.).
Im Gegensatz dazu ist im russischen
Parlament eine Crossover-Karriere
als das typische Karrieremuster zu definieren.
Die kommunalen Mandate sind eine wichtige
57
Partei versus Patronage?
Karrierestufe vor dem Bundestagsmandat
(Lock 1998:140). Dieser Einstieg in das Parlament wird als typisch für die deutschen Parlamentarier betrachtet (von Beyme 1971:74;
Herzog
1975:68).
Kommunalpolitische
Erfahrungen, die auch in Form der Ausübung
einer politischen Funktion sowie der Mitgliedschaft und Einflussnahme in Vereinen
auf regionaler Ebene sein können, gehören
zur unverzichtbaren Voraussetzung für eine
Parlamentskarriere, solange es derjenige nicht
zu einer entsprechenden Bekanntheit auf
Bundesebene gebracht hat (Herzog 1990:12).
Dazu gehören auch die Partei- und Verbandspositionen auf Bezirks-, Landes- sowie
Bundesebene. Die meisten Abgeordneten beginnen ihre Karriere in Basisfunktionen (Holl
1990:88). Die relativ hohe Repräsentation von
Politikern aus den neuen Ländern auf lokalem
Niveau steht teilweise im Zusammenhang
damit, dass gerade für diesen Bereich der
lange Aufenthalt im Wahlkreis oft eine Voraussetzung für das Erhalten eines Mandates
ist (Hoffmann-Lange 1998:153). Die Karriere
auf der lokalen bzw. regionalen Ebene erfolgt
in Deutschland später „mehr oder weniger
rasch, aber in jedem Falle kontinuierlich“
(Herzog 1979:70) über die anderen Ämter. Da
politische Erfahrung eine wichtige Ressource
für einen Mandatserwerb ist, bietet die so genannte Ochsentour zahlreiche Möglichkeiten,
praktische Leitungserfahrung und Soft Skills
sowie soziales Kapital zu sammeln
(Norris / Lovenduski 1995:159).
Seite 58
Dagegen haben in Russland nur
25 Prozent der Parlamentarier ein
politisches Amt auf regionaler bzw. lokaler
Ebene inne. Diese Werte liegen weit unter
denen nicht nur West- sondern auch Ost-
deutschlands. Eine Arbeit auf regionaler
Ebene war in der Jelzin-Ära attraktiver als
ein parlamentarisches Mandat, da die Gebiete
sowie die Nationalrepubliken über zahlreiche
Kompetenzen verfügten. Manche von ihnen
waren teilweise mit der Verfassung und den
Prinzipien des Föderalismus rechtlich nicht
kompatibel, sondern sie beruhten oftmals auf
individuellen Verträgen zwischen Jelzin und
den Führern der Gebiete und Republiken.
Außerdem war die Vergütung für die Arbeit
in den Regionen höher als in der Duma. In
manchen Regionen, die zur Permafrostzone
gehören, gilt immer noch das Prinzip aus der
sowjetischen Zeit über eine entsprechende
Gehaltsvergrößerung sowie eine Verkürzung
des Rentenalters (Permafrost-Koeffizient).
Aufgrund der Attraktivität der regionalen
Arbeit liegt die Korruptionsrate entsprechend
höher und die Bekämpfung der Korruption in
den Regionen wurde von W. Putin als eines der
Hauptziele in der zukünftigen Entwicklung
Russlands benannt (vgl. Putin 2007).
Positionen in den Parteien sind für Parlamentarier beider Staaten von großer Bedeutung,
obwohl es prozentual mehr deutsche Abgeordnete sind, die über ein parteipolitisches
Amt verfügen. Ein Parteiamt, welches über
die bloße Parteimitgliedschaft hinausgeht,
spielt in der parlamentarischen Karriere eine
wichtige Rolle, weil Mandatsträger über Parteifunktionen bessere Zugangsmöglichkeiten
zur innenparteilichen Stimmung haben und
dies für die Entwicklung der politischen Ideen
und die Verwirklichung der Entscheidungen
nutzen können (Patzelt 1995:148).
Auf der anderen Seite werden Parteigremien
als „Schaltstellen im komplexen politisch-
Semenova
staatlichen Kommunikationsnetz“ beschrieben
(Herzog 1997:304). Die Praxis der politischen
Parteien, sichere Plätze auf den Landeslisten
an Parteimitglieder zu vergeben, die auch in
der Direktwahl stehen, hat die Wichtigkeit
der „Ochsentour“ verstärkt (Ismayr 2000:61,
Roberts 1998:116f.). Die Berufspolitiker sind
oft zur Loyalität gegenüber ihrer eigenen Partei gezwungen, was zur Folge hat, dass Wähler
für die Fortführung der politischen Karriere
fast ebenso wichtig sind wie die Partei (Herzog
1982:98).
Die parteipolitischen und regionalen bzw.
lokalen politischen Ämter sind eng miteinander verflochten: Die innenparteilichen Ämter
dienen zur Absicherung der politischen Karriere (Lock 1998:143). Ihrerseits bekommen
die Parteifunktionäre durch die politische
Verankerung auf dem regionalen Niveau notwendige praktische Kenntnisse in der öffentlichen Verwaltung und Interessensvermittlung
und eben nicht nur in der Parteiarbeit. Diese
Situation hat eine Ämterkumulation zur Folge. Als Nachteile dieser Ämterkumulation
sind „innerparteiliche Verkrustung“ sowie das
Interesse mancher Hinterbänkler an lokalen
und nicht „nationalen“ Problemen zu sehen
(Herzog 1990:37).
Die Landesebene (Landtage sowie Landesregierungen) ist relativ selten eine Qualifikationsstufe, sondern eher eine Durchgangsposition für ambitionierte Politiker auf dem
Weg zur Bundesebene (Herzog 1982:94).
Allerdings werden in Deutschland Parteiämter
in der Mehrheit der Fälle nach dem Erhalten des Landtagsmandats beibehalten (Holl
1990:88). Bei der Rekrutierung der russischen
Abgeordneten ist eine Arbeit im Landespar-
lament (Zakonodatelnoje Sobranije) von
geringer Bedeutung. Ein Grund dafür ist die
Stellung der Landesparlamente in Russland,
die im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen
rechtlich viel weniger Kompetenzen besitzen.
Ein anderer Grund ist die historische Entwicklung der Landesparlamente Russlands
von Anfang-Mitte der 1990er Jahre: In dieser
Zeitspanne waren die Beziehungen zwischen
Oberbürgermeistern und Landesparlamenten
in vielen Gebieten durch einen scharfen Konflikt gekennzeichnet, welcher teils auf gesetzlichem teils auf nicht gesetzlichem Wege gelöst wurde, allem voran durch die Schwächung
der Stellung des gesamten Landesparlaments
oder einzelner Parteien dort (vgl. Petrov 2001;
Grazdanskoje obchestvo 2005). Die Arbeit im
Landesparlament ist selten ein Wegbereiter
zur Abgeordnetentätigkeit in der Duma und
vice versa. Im Gegensatz dazu zählt es in
Deutschland zu den etablierten Karrieremustern, bei den Kabinetten der Länder (Plöhn
1984) sowie bei der Besetzung der Landesministerpositionen (Holl 1990:90f.) auf die
Rekrutierung von ehemaligen Bundestagsabgeordneten zurückzugreifen.
Neben der Karrierestruktur ist die Professionalisierung ein wichtiges Merkmal politischer
Rekrutierung. Die hauptberufliche politische
Tätigkeit führt dazu, dass die subjektive Entfremdung vom privaten Beruf stärker und dadurch auch die objektive Möglichkeit,
zum alten Beruf zurückzukehren,
Seite
schwieriger wird (Herzog 1982:96).
Die Erscheinungsformen der Karrierisierung von Politikern sind vertikale
und horizontale Ämterkumulationen (Borchert / Stolz 2003). Im Unterschied zur vertikalen bringt die horizontale Ämterkumulation
59
Partei versus Patronage?
relativ wenig politischen Gewinn, jedoch eine
gewisse Karriereabsicherung.
Generell gilt eine Ämterkumulation oder „eine
Verflechtung des parlamentarischen Mandats
mit weiteren politischen oder gesellschaftlichen Funktionen“ (Lock 1998:135) als „eine
gewisse Selbstverständlichkeit“ (von Beyme
1971:102) für hauptberufliche Politiker. Sie
bezieht sich auf zwei funktionelle Aspekte:
Erstens wird durch die Kumulation von
verschiedenen Ämtern ein soziales Netzwerk
geschaffen, das als ein begünstigender Faktor
bei der Wiedernominierung betrachtet werden kann. Zweitens werden individuelle Koordinierungs- sowie Kooperationsnetzwerke
aufgebaut, die den Parlamentariern wichtige
Information für ihre politische Arbeit liefern
(Patzelt 1995:148; Herzog 1997:313).
Seite
Es ist festzustellen, dass der Professionalisierungsgrad der deutschen Parlamentarier viel
höher ist als der ihrer russischen Pendants:
So verfügen ca. 40 Prozent der russischen
Abgeordneten über keine vorparlamentarische
politische Funktion, in Deutschland sind es
nur halb so viele. Außerdem üben deutsche
Parlamentarier häufiger zwei oder mehr Funktionen aus. Es ist auffällig, dass die De-Professionalisierung des politischen Personals über
alle Fraktionsgrenzen hinweg zu beobachten
ist. Sie geht zum Teil mit der Entstehung von
neuen, vor allem administrativen politischen Parteien einher. Zum Teil ist
60
dies das Resultat der Mobilisierungsstrategie des Elektorates: Es werden
vor allem bekannte Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens (Celebrities) sowie
als persönlich loyal geltende Leute rekrutiert.
Diese Vorgehensweise stellt eine Reaktion auf
die schwache Verankerung der Parteien in der
Gesellschaft dar. Der Rekrutierungspool für
die politische Tätigkeit im Parlament ist nicht
besonders groß, da die Mitgliedszahlen der
Parteien relativ gering sind. Während in der
Sowjetunion Elitepositionen oft von Inhabern
anderer Elitepositionen besetzt wurden und
dies zur Ämterkumulation geführt hat (Meyer
1991:76f.), ist im postsowjetischen Russland
eine Cross-over Karriere nicht selten, wobei
sie oft mit Hilfe einer persönlichen Loyalität, einer Patronage, vollzogen wird (Ostrow
2000:102f.).
4.2. Erfahrung und Vorpositionen
sozialistischen System
im
Ein wichtiges Merkmal der vorparlamentarischen Erfahrung der Abgeordneten ist –
gerade in Transformationsgesellschaften – die
Affiliation mit dem alten Regime. Unserem
Gegenstand nach gilt dieses Merkmal für
Ostdeutschland und Russland. Generell kann
davon gesprochen werden, dass sowohl die Eliten in Ostdeutschland („strategische Clique“ in
der Terminologie von Ludz 1968) als auch die
in der Sowjetunion („die politische Bürokratie“ in der Terminologie von Djilas 1960) als
„ideologically unified elite“ (Field / Higley
1980) bezeichnen werden können. Die Untersuchung der Bindung an das alte System soll
Aufschlüsse über die Zirkulation der Eliten
nach dem Systemumbruch liefern.
Der häufigste Typ von Affiliation mit dem
sozialistischen Regime in Ostdeutschland
war eine systemoppositionelle Aktivität. Etwa
ein Viertel der Parlamentarier aus den neuen
Ländern war aktiv in der sozialistischen Zeit
Semenova
in oppositionellen Volksbewegungen tätig:
Die Zahl von Mandatsträgern mit solch einer
Erfahrung ist seit der 13. Legislaturperiode um
knapp 14 Prozentpunkte angewachsen und lag
2002 bei 34 Prozent. In der letzten Amtsperiode gingen diese Werte zurück und lagen auf
dem Niveau wie nach der Wiedervereinigung
bei 26 Prozent.
Der Anteil der Abgeordneten, die in der
sozialistischen Zeit auf der Bezirksebene politisch tätig waren, ist kontinuierlich gesunken
und lag in der 16. Legislaturperiode im Durchschnitt bei 3 Prozent, obwohl deren Anteil
nach der Wiedervereinigung etwa sechsmal so
hoch war.
Etwa 13 Prozent der Abgeordneten aus der
ehemaligen DDR waren vor 1990 Mitglieder
der SED, ohne zuvor eine parteipolitische
Karriere zu machen. Die Rekrutierung der Parteianhänger in den Bundestag erhöhte sich im
Zeitverlauf um ca. sieben Prozent und betrug
seit 1998 um die 19 Prozent, mit Ausnahme
von 2002, als deren Anteil bei vier Prozent lag.
Die strukturell „schlechtesten“ Karrierechancen für eine Abgeordnetentätigkeit im Bundestag hatten ehemalige Regierungsmitglieder
der DDR, deren Anteil an Mandatsträgern
nach der Wiedervereinigung nur drei Prozent
betrug und seit der 15. Legislaturperiode gänzlich verschwunden ist. Eine ehemals politisch
höhere Position in der DDR ist einer Karriere
im vereinigten Deutschland eher hinderlich.
Hier stellt die PDS die einzige Ausnahme dar.
Durchschnittlich war ein Drittel der Mandatsträger der Ost-SPD aktiv in der Opposition
tätig. Die Zahl der Parlamentarier mit systemoppositionellen Erfahrungen verzeichnete
bis zur 14. Legislaturperiode einen Rückgang
um 14 Prozentpunkte und lag 1998 bei 22
Prozent, aktuell beträgt sie 31 Prozent. In der
12. Legislaturperiode des Bundestages hatten
nur sechs Prozent der SPD-Abgeordneten
bereits eine politische Tätigkeit auf Kommunalebene im Sozialismus ausgeübt. Ihr Anteil
ist im Zeitverlauf weiter gesunken und im
heutigen Parlament nicht mehr existent. Unter den ostdeutschen Christdemokraten haben durchschnittlich etwa 27 Prozent in den
oppositionellen Bewegungen teilgenommen
und ca. 15 Prozent hatten eine politische Tätigkeit in den DDR-Bezirken ausgeübt. Der
Anteil der ehemaligen Bezirkspolitiker war
im Zeitverlauf stark rückläufig. Hatten nach
der Wiedervereinigung gut 30 Prozent der
CDU-Mandatsträger aus den neuen Ländern
eine regionalpolitische Erfahrung aus DDRZeiten, sind es jetzt nur noch vier Prozent.
Demgegenüber nahm die Zahl der ehemaligen
Oppositionellen bis zur 15. Legislaturperiode
um nahezu 17 Prozent zu und lag bei 38 Prozent, wobei sie aktuell genau ein Drittel der
CDU-Abgeordneten aus den neuen Ländern
beträgt. Generell ist es festzustellen, dass es in
der Ost-SPD keine Mandatsträger gab, die
der höheren Nomenklatur im sozialistischen
System zugehörig waren oder eine SED-Mitgliedschaft besaßen. Dies gilt generell auch für
die Ost-CDU mit Ausnahme des Jahres 1990,
als vier Prozent der Parlamentarier in der
DDR Regierungspositionen bekleideten, sowie der 14. und 15. LegislaSeite
turperiode, als etwa drei Prozent der
CDU-Abgeordneten aus dem Osten
Blockparteien-Anhänger waren.
Stehen die kleinen Parteien im Fokus der
Betrachtung, sind einige Tendenzen in der
Rekrutierung neuer Mitglieder nach dem
61
Partei versus Patronage?
Systemumbruch festzustellen: So wurden
Mitglieder der SED logischerweise hauptsächlich von der SED-Nachfolgepartei - der
PDS – rekrutiert. Die gleiche Situation findet
sich bei den russischen Kommunisten und
ihrer Rekrutierung in die Kommunistische
Partei der Russländischen Föderation. Unter
den Abgeordneten aus PDS und FDP ist ein
relativ hoher Anteil an Politikern mit Kommunalerfahrungen aus der DDR vorhanden.
Die meisten Abgeordneten der Grünen waren
in den systemoppositionellen Bewegungen aktiv. Die Abgeordneten, die in der ehemaligen
DDR eine Regierungsposition bekleideten,
wurden ausschließlich von der PDS rekrutiert,
wobei es bis zur 15. Legislaturperiode keine
Parlamentarier mit solchem Hintergrund gab.
Seite
Im Vergleich zu Deutschland sieht die Affiliation der Duma-Abgeordneten mit dem
Ancien Regime anders aus: Ein Drittel der
Parlamentarier hatte eine Hauptposition in
der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
(KPdSU) und etwa ein Viertel der Abgeordneten war entweder regionalpolitisch aktiv
oder hatte eine Mitgliedschaft in der KPdSU.
Ca. 17 Prozent der Mandatsträger hatten
entweder eine parlamentarische Tätigkeit im
Volksdeputiertenkongress (VDK) oder eine
Hauptposition in der Nomenklatur ausgeübt.
Nur sieben Prozent der Abgeordneten hatten
Regierungserfahrung in der sowjetischen
Zeit gesammelt. Die ehemaligen
Aktivisten der systemoppositionellen
62
Bewegungen bilden die kleinste
Gruppe mit einem Umfang von etwa
vier Prozent.
Es gilt die Entwicklung in der Rekrutierung
dieser Gruppen genauer zu betrachten. Der
Anteil der Abgeordneten, die im alten Regime parlamentarisch aktiv waren oder eine
Leitungsposition in der Nomenklatur hatten,
ist im Zeitverlauf zurückgegangen und betrug
2003 etwa zehn Prozent, obwohl er in der ersten
Legislaturperiode der postsowjetischen Duma
fast doppelt so hoch war und entsprechend bei
22 und 20 Prozent lag. Die Zahl derjenigen, die
eine Regierungsposition im kommunistischen
Staat hatten, ist auch von acht Prozent um drei
Prozentpunkte zurückgegangen. Eine solche
Abnahme ist bei der Gruppe der ehemaligen
Oppositionellen zu sehen: Wurden 1993 noch
sechs Prozent der Parlamentarier mit diesem
Erfahrungshintergrund gewählt, waren es in
der vierten Duma nur noch zwei Prozent.
Demgegenüber nimmt der Anteil der Parlamentarier zu, die in der sowjetischen Zeit eine
Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei
besaßen: Ihre Zahl vergrößerte sich im Zeitverlauf um sechs Prozentpunkte und lag in der
vierten Legislaturperiode bei 28 Prozent. Die
kommunalpolitische Verankerung ist ebenfalls
bedeutender geworden: Sie ist bis zur dritten
Legislaturperiode von 23 auf 31 Prozent gestiegen, wobei die Werte in der vierten Duma
auf dem Niveau von 1993 lagen (24 Prozent).
Es fällt der Anstieg des Anteils von Abgeordneten auf, die im alten Regime eine Leitungsposition in der Parteinomenklatur innehatten:
Während die Werte von 1993 noch bei 23 Prozent lagen, betrugen sie in der zweiten Duma
schon 36 Prozent. Dieses Niveau blieb nahezu
unverändert bis zur vierten Legislaturperiode,
als sich der Anteil der Parteifunktionäre verringerte und bei 30 Prozent lag.
Die Parlamentarier mit regionaler bzw. lokaler
Semenova
Erfahrung in der Sowjetunion wurden häufiger
als Delegierte von der KPRF oder als unabhängige Delegierte gewählt (entsprechend 29
und 31 Prozent), wobei ihr Anteil fast bei allen
Parteien relativ hoch ist, mit Ausnahme der
LDPR, in der nur acht Prozent der Abgeordneten solche Erfahrungen nachweisen konnten.
Bei der Rekrutierung ehemaliger Politiker mit
einer starken regionalen Verankerung sind die
nachfolgenden Tendenzen festzustellen: Erstens wuchs ihre Zahl im Zeitverlauf gleich der
von KPRF sowie JABLoko, jedoch in unterschiedlichem Maße: Während sich der Anteil
bei JABLoko um sechs Prozentpunkte vergrößerte und in der dritten Periode bei etwa 21
Prozent lag, erhöhten sich die entsprechenden
Werte bei der KPRF um 12 Prozentpunkte
und betrugen in der vierten Duma ca. 33 Prozent. Bei der LDPR sowie den unabhängigen
Deputierten kristallisierte sich heraus, dass sich
die Zahl der ehemaligen regionalen Politiker
bis zur dritten Legislaturperiode steigerte und
anschließend zurückging. So vergrößerte sich
der Anteil bei den unabhängigen Delegierten
bis 1999 von 25 auf 37 Prozent, bei der LDPR
stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von 4
auf 18 Prozent. In der vierten Duma gingen
die entsprechenden Werte unter den Extremrechten um 12 Prozentpunkte und unter den
Unabhängigen um sieben Prozentpunkte zurück. Die Pro-Präsidentenparteien rekrutieren
mit einigen Abweichungen etwa ein Viertel der
Politiker, die ehemals eine regionale Leitungsposition in der sowjetischen Zeit besaßen.
Durchschnittlich hatten etwa 25 Prozent der
Kommunisten eine Tätigkeit im Volksdeputiertenkongress. Außerdem wiesen ungefähr
20 Prozent der Abgeordneten aus JABLoko
und Pro-Präsidentenparteien sowie 17 Pro-
zent der unabhängigen Delegierten ähnliche
politische Erfahrung auf. Die KPRF und
Pro-Präsidentenparteien legten gegensätzliche Tendenzen an den Tag. Während sich
der Anteil der ehemaligen Sowjetdeputierten
unter den Kommunisten im Zeitverlauf von
23 auf 29 Prozent erhöhte, nahm ihr Anteil
bei den Pro-Präsidentenparteien gravierend
ab: von ursprünglich 43 auf etwa 36 Prozent.
Unter den Linksliberalen war die Zahl bis
zur zweiten Legislaturperiode rückläufig und
betrug 1995 ca. 12 Prozent, obwohl sie in
der ersten Duma etwa noch doppelt so groß
war, lag sie in der dritten Duma schon bei 21
Prozent. Bei den unabhängigen Abgeordneten
wurden tendenziell weniger ehemalige sowjetische Parlamentarier gewählt. Ihr Anteil ging
von 27 in der zweiten Legislaturperiode auf
zehn Prozent in der vierten Duma zurück,
wobei er anfangs bei 19 Prozent gelegen hatte.
Augenscheinlich ist, dass die extremrechte
Partei LDPR von 1993 bis 2003 überhaupt
keine ehemaligen sowjetischen Abgeordneten
rekrutierte.
Den größten Anteil der Mitglieder von der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion
übernahmen die Pro-Präsidentenparteien
(29 Prozent), die Kommunistische Partei
Russlands (27 Prozent) sowie JABLoko und
unabhängige Delegierte (je etwa 26 Prozent).
Von allen Dumaparteien und Wählerblöcken
hatte die extremrechte LDPR die geringste Übernahmequote ehemaliger
Seite
KPdSU-Anhänger (12 Prozent). Bei
der LDPR sowie den unabhängigen
Delegierten sind folgende Tendenzen
festzustellen: Während sich der Anteil bei der
LDPR um zwei Prozentpunkte verkleinerte
und in der vierten Duma bei 11 Prozent lag,
63
Partei versus Patronage?
verdoppelte sich der entsprechende Anteil
unter den unabhängigen Delegierten und
lag in der vierten Legislaturperiode bei 30
Prozent. Unter den Kommunisten ging der
Anteil bis zur dritten Legislaturperiode um
13 Prozentpunkte zurück und lag 1999 bei
21 Prozent; danach ist er wieder auf 25 Prozent gestiegen. Demgegenüber erhöhte sich
die Zahl ehemaliger KpdSU-Mitglieder bei
den Pro-Präsidentenparteien bis zur dritten
Duma von 27 auf 34 Prozent. Seitdem ist sie
rückläufig und lag in der vierten Duma bei 29
Prozent.
Seite
Hatte die KPRF schon den Hauptteil an
KPdSU-Mitgliedern, die zu Sowjetzeiten eine
Leitungsposition innehatten, in ihren Reihen
(65 Prozent), so baute sich dieser Anteil weiter
auf rund 70 Prozent aus. Im Gegensatz dazu
zeigten nur vier Prozent der Linksliberalen
eine solche Affiliation zum alten Regime.
Anders gestaltete sich die Situation der ehemaligen Systemoppositionellen. So verfügten
durchschnittlich ein Fünftel aller Abgeordneten von JABLoko über eine oppositionelle
Erfahrung in der sowjetischen Zeit. Unter
den Linksliberalen und Kommunisten betrug
der Anteil an Abgeordneten, die in der sowjetischen Zeit eine Regierungsposition besessen
hatten, im Schnitt zehn Prozent, wobei die
Zahl ehemaliger höherer Nomenklaturmitglieder in beiden Parteien zunahm. Die Werte
lagen bei den Kommunisten bei etwa
45 Prozent (vierte Duma) und unter
64
den Linksliberalen bei ca. 21 Prozent
(dritte Duma).
Die rechtsliberale Partei SPS rekrutierte für
die Wahlen von 1999 etwa 38 Prozent der ehemaligen Politiker mit regionaler bzw. lokaler
Verankerung und ein Drittel der Mandatsträger, die eine Leitungsposition in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatten,
sowie 24 Prozent der ehemaligen Systemoppositionellen. Außerdem ist es festzustellen, dass
es unter den LDPR-Abgeordneten nie einen
Oppositionellen gab. Des Weiteren verfügte
das russische Parlament ab der zweiten Duma
nicht mehr über Parlamentarier, die in der
Sowjetunion eine höhere Nomenklatur- bzw.
Regierungsposition innehatten. Bei den ProPräsidentenparteien und den unabhängigen
Delegierten war ein gleich hoher Anteil von
22 Prozent der Abgeordneten zu beobachten,
die früher eine Leitungsposition in der KPdSU
bekleidet hatten. Bis zur zweiten Legislaturperiode stieg der Anteil der Parteifunktionäre unter den unabhängigen Delegierten von 21 auf
31 Prozent, bei den Pro-Präsidentenparteien
von 11 auf 15 Prozent. Danach entwickelten
sich entgegengesetzte Tendenzen: Unter den
Machtparteien wuchs der Anteil um vier Prozent. Demgegenüber nahmen die Zahlen bei
den unabhängigen Delegierten stark ab und
lagen in der vierten Legislaturperiode lediglich
noch bei fünf Prozent.
Werden die Unterschiede zwischen beiden
Staaten bezüglich des Affiliationstypus mit
dem alten Regime betrachtet, sind die nachfolgenden Ergebnisse augenscheinlich. In
beiden sozialistischen Staaten wurde die Zugehörigkeit zur Opposition durch massive Repressionsdrohungen bestraft. Markant ist die
Überrepräsentation von Systemoppositionellen
in der heutigen ostdeutschen Parlamentselite,
wenn der Anteil der Oppositionellen in der
DDR-Bevölkerung vermutlich nur bei 0,3
Prozent lag (Welzel 1997:116). Der Hauptunterschied nach der Transformation der beiden
Semenova
sozialistischen Staaten besteht darin, dass der
Regimeumbruch von unten ausgelöst wurde,
die Demokratisierungsprozesse der DDR
(12/1989 – 09/1990) zur politischen Mobilisierung führten und sowohl die Oppositionellen und Mitglieder der Bürgerbewegungen
(Welzel 1997:188) als auch viele zuvor nicht
engagierte Leute ins Parlament brachten. In
Russland begann der Umbruch als eine „Revolution“ von Oben und führte nicht zur Elitenablösung, sondern zur Beschleunigung der
alten Ausstiegswege (Harter / Grävingholt /
Pleines / Schröder 2003:90f.).
Generell ist die lokalpolitische Erfahrung aus
sozialistischer Zeit in Russland von größerer Bedeutung als in Deutschland. Auf eine
vormals regionalpolitische Verankerung der
Abgeordneten legen alle in der Staatsduma
vertretenen Parteien großen Wert. Zum Teil
geht dies auf die schwache Stellung der Parteien im politischen System Russlands zurück:
Da nach dem Umbruch alle Parteien entweder
gänzlich neu- oder umstrukturiert wurden,
wie beispielsweise bei der KPRF geschehen,
welche die Nachfolge der Kommunistische
Partei der Sowjetunion antrat, bestand somit
keine Möglichkeit für eine Parteikarriere wie
in den westlichen Demokratien. Hinzu kommt
die ständige Bildung administrativer oder
„Machtparteien“, in denen es viele CrossoverKarrieren gab. Die Elektoratsmobilisierung erfolgte hauptsächlich durch eine Nominierung
von prominenten bzw. auf regionalem Niveau
bekannten Leuten. Da die Tätigkeit auf lokaler
bzw. regionaler Ebene noch zu Sowjetzeiten
die Möglichkeit zur Akkumulierung von sozialem Kapital gegeben hatte sowie aufgrund der
Tatsache, dass eine relativ niedrige Zirkulation
regionaler Eliten bestand (vgl. Kryschtanows-
kaja 2005), besaßen die meisten regionalen
Politiker ihre Positionen aus sowjetischer
Zeit noch und hatten daher gute Chancen auf
einen Einstieg ins Parlament. Soziales Kapital
und starke regionale Verankerung gehörten zu
den Hauptressourcen unabhängiger Delegierter, die stärker als Parteipolitiker mit einer Interessengruppe oder einer bestimmten Lobby
verbunden waren. Des Weiteren kommt die
Tatsache hinzu, dass die staatliche Finanzierung von Wahlkampagnen Ende der 1990er
Jahre zum Thema geworden war. In diesem
Fall verzeichneten ehemalige Regionalpolitiker Vorteile, weil sie oft durch ihre Tätigkeit
oder sozialen Netzwerke mehr finanzielle
Mittel erwerben konnten.
Der zweite wichtige Befund besteht in der
starken Position der sowjetischen Nomenklaturzugehörigen im modernen Russland.
Die Gesellschaften der Sowjetunion und
DDR waren stark durch institutionalisierte
Karrierestrukturen geprägt und daher erfolgte
der Einstieg in die Elite über viele Hierarchiestufen. Im Vergleich zur ehemaligen
DDR (Welzel 1997:104) sind die Rekrutierungsmuster der ehemaligen Sowjetunion im
modernen Russland stärker verankert: So werden viele Mandatsträger in die Duma immer
noch nicht nur aus der Partei- und sektoralen
Nomenklatur, sondern auch aus Staatsorganen
rekrutiert.
Das kommunistische System hat von
Seite
den Bürgern eine politische Aktivität sowie das „Klassenverständnis“
erwartet und die Mitgliedschaft in
der Parteiorganisation oder einer parteinahen
Massenorganisation gefördert (Meyer 1991;
Lock 1998:126). Die Zugehörigkeit zur No-
65
Partei versus Patronage?
menklatur, vor allem einer höheren, war für die
meisten Menschen mit politischen Ambitionen im sozialistischen Regime das Hauptziel,
weil die Nomenklatur selbst ein System mit
vielen Privilegien und klaren Perspektiven für
die eigene politische Karriere verkörperte. Eins
der wichtigsten Merkmale der Nomenklaturmitglieder im sozialistischen System war eine
persönliche Loyalität zur Staatspartei (Hoffmann-Lange 1998:149). Es ist festzustellen,
dass die sowjetische Nomenklaturschicht in
der Transformationsperiode teilweise ihre
Positionen behalten und sogar noch gestärkt
hat. Daher besteht die neue politische Elite
zum Teil aus Angehörigen der ehemaligen
Nomenklatur. Diese gewisse Kaderkontinuität
wurde gleichzeitig von einer raschen Elitenzirkulation begleitet (White / Kryschtanowskaja
1998:142). Kurz nach dem Umbruch war ein
Teil der neuen russischen parlamentarischen
Elite nicht aus den Gegeneliten im engeren
Sinne hervorgegangen. Vielmehr hatten viele
Abgeordnete
„Pränomenklaturpositionen“
innegehabt, also Leitungspositionen auf dem
unteren und mittleren Niveau der Nomenklatur (Golovachev / Kosova / Chachulina
1995:20ff.).
Seite 66
Semenova
Seite 67
Mittelwertzentrierung
Fazit
D
ie institutionellen Rahmenbedingungen in beiden Ländern können
zur Erklärung unterschiedlicher
Rekrutierungsmuster beitragen. Dies gilt insbesondere für das Parteiensystem Russlands.
Fazit: Warum
russische
anders als deutsche sind
bleiben werden
Seite 68
Abgeordnete
– und anders
Die Entwicklung des Parteiensystems in
Russland ist den Weg der Erodierung der politischen Parteienlandschaft gegangen. Die massive Bildung von Parteien Anfang der 1990er
Jahre war nicht durch eine breite Etablierung
von Parteien besonders in den Regionen
gekennzeichnet. Davon abgesehen waren zahlreiche regionale Parteien und Wählerblöcke
vorhanden. Um der Parteienzersplitterung vorzubeugen, wurde 2001 ein neues Parteiengesetz verabschiedet. Als Resultat dieser Reform
verkleinerte sich einerseits der Zersplitterungsgrad der Parteien, andererseits waren Parteien
mit demokratischer Gesinnung aufgrund
mangelnder Verankerung in der Wählerschaft
zum Rücktritt aus dem politischen Leben
gezwungen. Relativ niedrige Mitgliedszahlen
und oft unklare Programmschwerpunkte von
Parteien haben zur Instabilität des Parteiensystems beigetragen. Werden programmatische
Parteienorientierungen betrachtet, ist festzustellen, dass sich das politische Spektrum von
der Links-Rechts-Spaltung zur Spaltung auf
der Basis von Machtnähe und –ferne gewandelt hat. Eine entscheidende Rolle in diesem
Prozess hat die Bildung von administrativen
Parteien gespielt, die quer durch das gesamte
politische Spektrum mithilfe der Präsidialadministration gegründet wurden. Der Höhepunkt dieser Tendenzen, die sich in der JelzinZeit entwickelten und unter Putin verstärkt
wurden, war der Erhalt der absoluten Mehrheit
durch die Pro-Präsidentenpartei „Einheitspartei Russlands“ in der vierten Duma.
Rademacher
Semenova
Warum ist das russische Parlament anders
als der Deutsche Bundestag? Aufgrund der
Datenanalyse können wir hier einige Befunde
präsentieren. Erstens sind die für eine parlamentarische Karriere entscheidenden Selektoren sowie ihre Rekrutierungsstrategien sehr
unterschiedlich.
In Deutschland spielen Parteien die Rolle von
„Karriere-Gatekeepers“. Daher wird die Parteiarbeit als eine Grundvoraussetzung für eine
politische Tätigkeit betrachtet. In Russland
haben Parteien eine schwächere Stellung: Dies
zieht sich in der Praxis der Parteibildung auf
der administrativen Basis quer durch das politische Spektrum. Der Wettbewerb politischer
Parteien ist daher stark erschwert. Außerdem
waren Parteien in Russland bis 2002 nicht die
alleinigen „Gatekeepers“, da eine Selbstnominierung für Direktwahlen sowie Tätigkeiten als
unabhängige, in vielen Fällen parteiungebundene Abgeordnete möglich war.
Es soll hier ebenfalls über den starken Einfluss
der Exekutive in Russland gesprochen werden.
Es gibt nicht nur eine Bildung von Machtparteien und eine gewisse Kontrolle des politischen
Spektrums durch erschwerte Zugangsmöglichkeiten für „Nicht-Machtparteien“, sondern
auch eine Benutzung bestimmter „Strategien“
bei den Wahlkampagnen in den Regionen.
Diese „Strategien“ wurden oft für Manipulationen zugunsten einer Pro-Präsidentenpartei
oder eines Pro-Präsidentenkandidaten bei
den Wahlen auf regionaler Ebene genutzt
und daher als „administrative Ressource“ benannt (vgl. Kryschtanowskaja 2005). Sind es
in Deutschland die Parteien, die den Zugang
zu parlamentarischen Positionen und zu politischen Ämtern im Allgemeinen kontrollieren,
so wird diese Rolle in Russland von der Exekutive übernommen.
Die Rekrutierungsstrategien in beiden Ländern weisen jedoch einige Gemeinsamkeiten
auf. In den sozialstrukturellen Merkmalen
sind sich die deutschen und russischen Abgeordneten ähnlich. Leichte Unterschiede treten
etwa bei den Studienabschlüssen zu Tage.
Größere Unterschiede sind bezüglich der
Vertretung von Frauen und Migranten sowie
beim beruflichen Hintergrund der Parlamentarier festzustellen.
Der berufliche Hintergrund von Parlamentariern unterscheidet sich erheblich: Werden in
den Deutschen Bundestag überdurchschnittlich viele Lehrer und Beamte rekrutiert, sind
es in der russischen Duma Mandatsträger
mit Management- und Militärbackground.
Der Anteil von Vertretern aus dem Business
begann sich in der Duma in der Jelzin-Zeit
zu vergrößern, nicht zuletzt aufgrund des
stark ressourcenorientierten Charakters der
russischen Wirtschaft sowie des Mangels an
rechtlicher Regulierung der Lobbyismustätigkeit. Der Anstieg an Militärs im Parlament
geht zum Teil auf der Unstabilität von Jelzins
Russland zurück, zum Teil ist es auch das
Resultat einer gezielten Rekrutierung von
Abgeordneten mit Militärhintergrund unter
Putin.
Während der starke Einfluss der
Seite
konfessionellen
Gesinnung
der
Bevölkerung zu den Charakteristika
Deutschlands gehört, ist eine geringe
Bedeutung von Religion für viele post-sozialistische Staaten charakteristisch. Russland
und Ostdeutschland sind in dem Sinne somit
69
Mittelwertzentrierung
Fazit
keine Ausnahmen. Die schwache kirchliche
Bindung in Ostdeutschland und Russland ist
das Resultat der sozialistischen Herrschaft und
ihrer Kirchen- und Religionspolitik, die zum
Teil zur Irreligiosität der Bevölkerung führte.
Eine Besonderheit der russischen Parteienbildung ist das gesetzliche Verbot bezüglich einer
Parteineugründung auf religiöser Basis.
Aufgrund des multinationalen Staatscharakters, der Repräsentationsspraxis aus
sowjetischer Zeit sowie des komplizierten
föderativen Staatsaufbaus sind Abgeordnete
mit Migrationshintergrund in Russland überrepräsentiert. Im Kontrast zum Anteil der Migranten in der Bevölkerung sind Parlamentarier mit Migrationshintergrund im Deutschen
Bundestag unterrepräsentiert. Die Gründe für
diese Unterrepräsentanz sind zum einen institutionelle Faktoren wie das Immigrationsund Wahlsystem Deutschlands, zum anderen
spielen das Parteisystem im Allgemeinen und
die Rekrutierungs- sowie Nominierungspraxis
von Parteien im Besonderen eine wichtige
Rolle.
Seite
Die mangelnde Rekrutierung von Frauen ins
Parlament macht die Staatsduma zur Ausnahme sowohl im west- als auch im osteuropäischen Vergleich. Ein wesentlicher Grund
dürfte aus dem traditionellen Verständnis der
Geschlechterrollen resultieren, das in der russischen Gesellschaft weiterhin festzustellen ist. Dieses prägt nicht nur das
70
Rekrutierungsverhalten von Parteien
sondern auch die Sozialisierung allgemein. Im Gegensatz zu Russland
sind Frauen im Deutschen Bundestag aufgrund verschiedener politischer Maßnahmen
gut repräsentiert.
Zweitens bestehen gravierende Differenzen
bei ausgewählten Aspekten der politischen
Karrierisierung von Mandatsträgern in beiden Ländern. Die bisherigen Entwicklungen
sprechen dafür, dass sich die ostdeutschen
Parlamentarier noch stärker an ihre westdeutschen Kollegen annähern werden. Die Risiken
der politischen Tätigkeit als „prekäre Beschäftigung“ (Best / Jahr 2006) werden mit den in
Westdeutschland erprobten Mitteln reduziert,
vor allem durch innerparteiliche Verankerung,
Vernetzung mit Akteuren in Verbänden und
lokalen Organisationen etc. Dies alles trägt
zur Formierung einer „politischen Klasse“ in
Deutschland bei. Im Unterschied zu Prozessen
der Professionalisierung und Karrierisierung,
die im Deutschen Bundestag stattfinden, ist die
russische Staatsduma durch eine massive DeProfessionalisierung des politischen Personals
gekennzeichnet. Im Vergleich zu Deutschland
verfügten russische Parlamentarier über weniger politische Erfahrungen vor dem Einzug ins
Parlament: Nur ein Drittel aller Parlamentarier
hatte zum Zeitpunkt ihrer ersten Wahl ins
Parlament eine höhere Parteiposition inne,
über eine politische Position auf lokaler Ebene
verfügte nur ein Viertel der Mandatsträger.
Das Niveau der Ämterkumulation unter den
russischen Parlamentariern liegt weit unter
dem deutschen Schnitt. Unter Berücksichtigung der Bedeutung einer lokalpolitischen
Erfahrung sind diese Zahlen ernüchternd.
Wird in Deutschland eine „Ochsentour“ als
typischer Karriereweg vom ersten politischen
Engagement bis zum Mandatserwerb betrachtet, ist für die russische Staatsduma eher eine
Quereinsteiger-Karriere charakteristisch. Außerdem verfügt die russische Staatsduma über
eine relativ hohe Zahl an Newcomern. Zwar ist
der Anteil politischer Neulinge in der Duma
Rademacher
Semenova
während der ersten zehn Jahre stetig gesunken,
nichtsdestotrotz lag er 2003 noch über 50
Prozent – und damit weit über dem deutschen
und erheblich über dem westeuropäischen
Durchschnitt. Zum einen ist dieses Resultat
der mangelnden Stabilität und der schwachen
Etablierung von Parteien in der Gesellschaft
geschuldet, zum anderen geht es auf die Rolle
der Patronage in der russischen Gesellschaft
im Allgemeinen und in den politischen Eliten
im Besonderen zurück.
Drittens spielen viele Rekrutierungsmuster
aus sowjetischer Zeit immer noch eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich zunächst in einer
Überrepräsentanz sowjetischer Nomenklaturmitglieder im Parlament und in den regionalen
Eliten Russlands. Der entscheidende Punkt
für die Rekrutierung politischen Personals ist
aber das Festhalten am Patronageprinzip. Es
geht dabei hauptsächlich um die Entstehung
von sozialen Netzwerken bei der Rekrutierung
parlamentarischer Eliten und die Bedeutung
von Patronagestrukturen für die Karrieren von
Abgeordneten. Im Falle Russlands, sowohl in
der sowjetischen als auch post-sowjetischen
Zeit, spielten Patronagestrukturen wie Freundschaft, Verwandtschaft und Landsmannschaft
eine größere Rolle für den Eintritt in die
politische Elite als professionelle Qualitäten
(Rigby / Harasymiv 1983; Ledeneva 1998;
dies. 2001). Die Beibehaltung der sowjetischen
Muster lässt sich zum Teil durch die Spezifika von Modernisierungsprozessen in beiden
Ländern erklären. Die Übernahme von der
sozialen, wirtschaftlichen sowie politischen
Ordnung aus den alten Ländern hat bestimmte
Rahmen für Transformationsprozesse geschaffen und Angleichungsprozesse innerhalb der
politischen Klasse im vereinigten Deutschland
gefördert. In Russland wiederum hat die
Transformation nur in manchen Bereichen
eine Demokratisierung bewirkt, in anderen
Bereichen ist es hingegen zu einer Machtkonzentration gekommen. Diese Tendenz sowie
das Beibehalten eines Teils der sowjetischen
Elite (Nomenklatur) und ihrer Positionen hat
die Nutzung erprobter Mittel des Sozialismus
begünstigt: Dies sind nicht nur die Patronage
sondern auch einige Symbole (z. B. die Musik
der alten Hymne) sowie Organisationsmöglichkeiten (z. B. verschiedene Komsomolähnliche Jugendorganisationen).
Es kann versucht werden, vorsichtig einige Prognosen zu formulieren. So hat die
Parteienreform von 2001 ihre Resultate bei
der Parlamentswahl von 2007 gezeigt. Die
Zersplitterung von Parteien wurde markant
reduziert: In der fünften Duma gibt es zwei
Pro-Präsidentenparteien
(„Einheitspartei
Russlands“ und „Gerechtes Russland“), die
über eine deutliche absolute Mehrheit der
Stimmen verfügen. Auf der anderen Seite soll
die Etablierung von Parteien in den Regionen
die Bedeutung einer Parteierfahrung unter
den Parlamentariern steigern. Der De-Professionalisierungsgrad wird sich vermutlich nicht
verkleinern. Obwohl mit der Wahl Putins zum
Regierungschef viele professionelle Politiker
ins Parlament eingezogen sind, dürfte der
Anteil von Celebrities in der Duma tendenziell steigen1. Auch die verstärkte
Rekrutierung von jungen AbgeordSeite
neten, der sich die „Einheitspartei
Russlands“ verschrieben hat, wird die
Professionalisierung der Duma bzw.
ihrer Abgeordneten nicht fördern.
71
Mittelwertzentrierung
Fazit
Endnoten
Darauf deuten jedenfalls die ersten Daten zur Zusammensetzung des Parlamentes nach der Dumawahl 2007 hin.
1
Seite 72
Rademacher
Semenova
Seite 73
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Mittelwertzentrierung
Autorinnen und Autoren
Elena Semenova, Dipl.- Pol., geb. 1980, Studium der Politikwissenschaft
(Schwerpunkt – Politische Psychologie) an der Moskauer Staatlichen
Lomonossow Universität, Diplom 2003 (mit Auszeichnung), seit 2000
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der
Moskauer Staatlichen Lomonossow Universität, 2007 wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 580 (Projekt A3).
Arbeitsschwerpunkte: Politische Eliten, Politische Soziologie und Psychologie.
Kontakt:
Friedrich-Schiller-Universität Jena
SFB 580
Bachstraße 18
07743 Jena
Tel: 03641 945046
Email: Elena.Semenova@uni-jena.de
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Rademacher
Autorinnen
und autoren
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SFB
Gesellschaftliche
Entwicklungen
Systemumbruch
SFB 580 - Geschäftsführung
580
Diskontinuität
Tradition
Strukturbildun
(2008) ISSN 1619-6171