DVSG-Bundeskongress 2013, 10.-11.10.2013, Münster ‚Soziale Arbeit im Gesundheitswesen – Netzwerke stärken - Kooperationen leben‘ Wirkmächtigkeit Im Kontrast zu psychologischen Konzepten (z.B. Selbstwirksamkeitserwartung, Bandura 1995), die Agency individualisieren und gesellschaftliche Handlungsanforderungen normativ reproduzieren, beschreibt ‚relationale Agency‘ (Raithelhuber 2008) die Herstellung von Wirkmächtigkeit durch Zuschreibungen von Intention, Wissen und Verantwortlichkeit in sozialer Interaktion und Narration. Vielfältige Formen von Agency Interaktive Produktion von Agency Sina Motzek, Sozialarbeiterin (M.A.), Doktorandin Soziologie sinamotzek@gmx.de In den Erzählungen wurden komplexe Bilder der Herstellung und Verhinderung von Wirkmächtigkeit rekonstruiert. Diese spiegeln nicht immer die objektiv wahrgenommene Schwere der Symptome wieder. 1. Externe Prozesse als Krankheitsursachen Agency als subjektive Realität Reflexion sozialer Wirklichkeit vgl. Helfferich, 2012: 14ff. Forschungsfragen • • • Wie schreiben die Frauen sich selbst und anderen Personen, Institutionen und Instrumenten Wirkmächtigkeit zu? Wie steht dies im Verhältnis zu Handlungsorientierungen, die in mehrdimensionalen Erfahrungsräumen entwickelt wurden (Geschlecht, sozioökonomische Position, Religion, Kultur…)? Wie spiegelt sich das in Gesundheitshandeln und der Nutzung professioneller Hilfe? Sample 8 Frauen zwischen 37 und 61 Jahre ● Geboren in der Türkei ● migriert nach Deutschland ● Soziale Beziehungen in der Türkei und in Deutschland ● Depressive Beschwerden »Dann natürlich äh:: gesundheitlich (.) kam einiges dazu (2) U:nd (1) ja: (.) ich hab immer noch zu schaffen mit meiner Gesundheit ich bin (.) ja man kann sagen schon (1) seit=n paar Jahren (2) in einer chronischen Depression (4) In der Zeit (.) is auch meine Ehe (2) °ja° (.) kaputt gegangen (.) Wechseljahre Arbeitslosigkeit Krankheit (.) kam halt alles ((atmet ein)) (1) zusammen sag ich ma (.) Und das hat mich schon (3) °ja° (.) umgehaun« (Simirna Yılmaz, 52 J.) Parallel zu ihrer Orientierung an Leistung und Selbstdisziplinierung im Kontext von Erwerbsarbeit, stellt Simirna Yilmaz Gesundheit als etwas dar, womit sie „zu schaffen“ hat. Gemeinsam mit Lebensereignissen, wie Trennung, Wechseljahre und Arbeitslosigkeit konstruiert sie Krankheit als etwas unkontrolliert über sie und ihr Handeln Hereinbrechendes. 2. Kampf mit eigenmächtigen Gefühlszuständen »In meinen Kopf kommen Sachen (.) Das Weinen von meiner kleinen Schwester (2) Sie war erst neun Jahre alt (.) ihr (.) dass ihr Unrecht getan wurde (.) dass mir Unrecht getan wurde dass meiner Mutter Unrecht getan wurde dass den anderen getan- das ist alles in meinem Gehirn drin Das alles kommt so und dreht sich vom Anfang bis zum Ende dreht sich dreht sich dreht sich dreht sich (.) ich möchte mich selbst führen es geht nicht« (Nereden Nereye Kader, 61 J.) »Manchmal wenn Zustände kommen die nicht auszuhalten sind die sich nicht auflösen° (.) Also dann kann ich nicht gut denken also genau in Details (.) in dem Moment sagst du es soll aufhören« (Emine Tatlı, 49 J.) In beiden Textstellen werden emotionale Zustände als unbeeinflussbar durch eigenes Handeln dargestellt, aber die die Intention zu selbstbestimmten Handeln, trotz wiederkehrender emotional-kognitiven Hindernissen aufrechterhalten. Analyse narrativer Agency-Konstruktionen (Lucius-Hoene 2012) 1. Ebene der Erzählsätze 2. Ebene der Interviewinteraktion 3. Evaluative Ebene Agentivierungen durch Prädikate und semantische Rollen Sprecherrollen und Herstellung von Geltungsanspruch Narrative Agency durch Geschichtenversion & Moral • Aktions-, Prozess-, Status- und Qualitätsprädikate • • • • • • • AG (Agens, Handelnder) CAG (Contraagens, Partner) EXP (Experiens, Erfahrender) PAT (Patiens, Betroffener) CAU (Causativ, Ursache) IN (Instrument) Zuschreibungen von Intentionalität, Richtung, Wissen, Verantwortlichkeit an Personen, Naturkräfte, Objekte, soziale Bewegungen, Institutionen…? • Umgang mit Gesprächsrollen, z.B. • Verbindung der Feinanalyse mit Hinterfragen biographischen, kulturellen, strukturellen • Positionierung des_der Interviewer_in und situativen Handlungsbedingungen und • Sicherheits- oder Vagheitsformulierungen, Orientierungen Generalisierungen… • Erzählen als Aushandlung des Erlebten, z.B. • Einfordern von Reaktionen, z.B. Bestätigung emotionale Entlastung, Befriedigung oder • Herstellung von Akzeptanz, Deutungshoheit, Ermächtigung Kritik • Positionierung, z.B. durch Schuldzuweisungen, Humor, Ironie oder reflektierende Einordnungen Methodisches Vorgehen • • • Biographisch-orientierte, narrative Interviews Mehrsprachige Interviewführung, Transkription, Übersetzung und Auswertung Herausarbeiten von Orientierungsrahmen in komparativer Analyse mit dokumentarische Methode (Nohl 2012) und Agency-Analyse (LuciusHoene 2012) (Kollektive) Handlungsorientierungen? Herstellung von Agency durch Zuschreibungen von Wissen, Intention, Richtung und Verantwortlichkeit? 3. Eigenes und professionelles Wissen und Handeln »Ich hab wahrscheinlich das immer unterdrückt (.) und an dem Tag kam=es raus […] Und=äh (1) ich war so wie- im Nachhinein wa- (.) äh: nach dem Geschrei: dann war ich so wie (.) äh besoffen sozusagen [I.: °Hmhm°] Ich- ich konnte mich nich kontrollieren=ich konnte (.) äh nich reden (1) Äh das- das äh ma- äh (.) und äh sogar im Kra- Krankenhaus dachtn=die äh: hat sie was getrunken oder so ne? Weil die wissen ja nich was passiert ist=und=so (.) Die wollten unbedingt dass ich im Krankenhaus bleibe=ich=hab=gesacht Nein ich möchte nicht weil die Wirkung hat na- äh nachgelassen (.) von den- von den Tabletten=dann war=es wieder normal (.) bei mir« Quellen Bandura, A. (1995): Self-Efficacy in Changing Societies. Cambridge: University Press. Helfferich, C. (2012): Einleitung: Von roten Heringen, Graben und Brücken – Versuch einer Kartierung von Agency-Konzepten. In: Bethmann, S./Helfferich, C./Hoffmann, H./Niermann, D. (Hrsg.): Agency – Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezuge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 9-39. Hoffmann, H. (2012): Macht – Wahn – Sinn. In: Bethmann, S./Helfferich, C./Hoffmann, H./Niermann, D. (Hrsg.): Agency – Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezuge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 181-209. Lucius-Hoene, G. (2012): 'Und dann haben wir's operiert': Ebenen der Textanalyse narrativer Agency-Konstruktionen. In: Bethmann, S./Helfferich, C./Hoffmann, H./Niermann, D. (Hrsg.): Agency – Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezuge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 40-70. Nohl, A.-M. (2012). Interview und dokumentarische Methode – Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS. Raithelhuber, E. (2008): Von Akteuren und agency – eine sozialtheoretische Einordnung der structure/agency-Debatte. In: Homfeldt, H. G. / Schröer, W./ Schweppe, C. (Hrsg.): Vom Adressaten zum Akteur – Soziale Arbeit und Agency, Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, 17 – 45. Riemann, G. (1987): Das Fremdwerden der eigenen Biographie. Narrative Interviews mit psychiatrischen Patienten. München: Wilhelm Fink. (Ayşe Mutlu, 44 J.) • • • • Kontrolle über Emotionen Kontrollverlust durch eigenmächtiges „es“ Nicht-Wissen von Professionellen Instrumente ‚Geschrei‘, ‚Alkohol‘ & ‚Tabletten‘ Wiedererlangung von Kontrolle durch Wissen Es bedarf einer Auseinandersetzung mit biographisch gewachsenen Handlungsorientierungen in Therapie und Beratung. Maßstäbe von Handlungsmacht müssen vor dem Hintergrund mehrdimensionaler Zugehörigkeiten reflektiert werden (z.B. im Rahmen von Migrationserfahrungen und/oder religiöser Zugehörigkeit). Auch negativ bewertete Handlungen (z.B. Suizid, Non-Compliance) können Agency im Sinne von Wirkmächtigkeit wiederspiegeln. Qualitativ-rekonstruktive Adressat_innenforschung (Riemann 1987, Hoffmann 2012) kann für eine dialogische Problem- und Zieldefinition nutzbar gemacht werden.
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