Einfahrt 🚎🚎🚎 Aus den Kreisläufen des Rassismus – nicht ein Kreislauf, nicht ein Rassismus. Vor der Vielschichtigkeit dieser Ausgangslage fragen wir in diesem Heft nach den Verhältnissen von Rassismus und Ökonomie, so wie sie sich in ihren Verfahren und Aktivitäten gegenwärtiger Zirkulation präsentieren. Die Fragen der Logistik, beziehungsweise logistischer Formen des Kapitalismus, nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein. So führt Stefano Harney in seinem Beitrag aus: „Ich spreche vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und seiner grausamen Fracht“. Diese historische Dimension einer Biopolitik schreibt sich ebenso in die Wissenspolitiken eines akademisch geführten kritischen Rassismusdiskurses ein wie auch in neue Verfahrensweisen der Schließung möglicher Intervalle des Widerstands. Kamion #1 nimmt ihren Ausgang in der Zirkulation, wie sie zum einen als Einfassung und Regulierung auftritt und zum anderen ausbricht aus den logistisch abgestimmten Kreisläufen hin zu neuen Möglichkeiten politisch widerständiger Aktualisierung. Das aus im Titel verweist nicht nur darauf, dass wir Einblicke in verschiedene Konstellationen von Rassismus und Ökonomie gewähren, sondern auf ein immanentes Austreten oder Ausbrechen aus ihnen. Dies schließt die interventionistische Dimension der Texte mit ein. Am explizitesten fordert dies der Beitrag aus dem Umfeld des Raumes für Autonomie und Ferlernen (RAF-ASZ) ein. „Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention“ steht als erster Satz eines Textes, der eine Intervention in den Organisationszusammenhang der kritnet-Tagung 2015 in Zürich zum Ausgangspunkt nimmt. Die Intervention: Der Auszug einer Gruppe von Aktivist_innen des RAF-ASZ aus dem Organisationsprozess der Tagung. Ausgehend von der performativ und diskursiv doppelt geäußerten Kritik fragen die Autor_innen nach den Möglichkeiten einer Wissensproduktion, die sich als politische Intervention zu den kritisierten Verhältnissen positioniert. Diese Befragung als wiederkehrendes Moment ist für das Publikationsprojekt kamion ebenso von Relevanz wie der Kontext kritnet. So bildet die vom 26. bis 29. März 2015 stattfindende Kritnet-Tagung mit dem Thema „Rassismus und Ökonomie“ die inhaltliche und organisatorische Klammer und Inspiration des Produktionsprozesses dieser Nummer. Das gedruckte Heft – und das ist nicht unerheblich für ein Heft, das wiederholt Logistiken und Materialitäten anspricht – liegt denn auch als Beitrag zur Tagung auf, um sich materiell in die Wissenskreisläufe vor Ort einzuspeisen. transformieren, nationalstaatliche Grenzziehungen zu unterlaufen und andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Die Geschichte und Praxis der emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist in dieser Betonung auch ein kleiner Versuch, Europa zu provinzialisieren und der linken Neuerfindung Europas andere und über Europa hinausgehende Bündnisse entgegenzusetzen. Der (supra)nationale Rahmen birgt die Gefahr, dass die „soziale Frage“ sich über den politischen Weg zur nationalen transformiert. Im Fokus steht zu Recht die Fiskalpolitik der EU, identifiziert mit der Stärke Deutschlands, die Kritik richtet sich gegen die Finanzspitze, den Wahnsinn des aktuellen Schuldensystems. Gleichzeitig zeigt sich gerade da, dass die Frage, wie sich Produktion, Reproduktion und Distribution organisieren lassen, sich nicht (nur) über die Finanzmärkte regeln lässt. Im besten Fall von staatlicher Politik wohlwollend flankiert, oft eher mit ihr im Widerstreit, geht es darum, alltägliche Bedürfnisse und Begehren selbst zu organisieren, neue Formen des Zusammenlebens zu erfinden, der kontinuierlichen Arbeit Zeit zu lassen und instituierende Praxen des Gemeinsamen zu entwickeln, um zumindest ab und zu dem Kapitalverhältnis und den staatlichen Regierungsweisen zu entwischen. Solidarische Ökonomien, Quartiersversammlungen, Selbstorganisierungen der Reproduktionsarbeit über patriarchale Familienund Geschlechterverhältnisse hinweg, aber auch Betriebs-, Fabriks- und Theaterbesetzungen. Es geht aber offensichtlich nicht nur um den Widerstand, sondern auch darum, ein anderes Europa als das des Nord-Südgefälles und der exzessiven Sparpolitik zu erfinden. Obwohl eine Partei (wenn sie denn radikal genug ist) an einem solchen Projekt oder solchen Projekten mitarbeiten kann, können die Inhalte nicht „von oben“ kommen, vom Senkblei der Vertikalität nach unten getragen. Sie wachsen nicht spontan in den Köpfen von ein paar geschickten Parteistrateg_innen, die sie dann in einem schönen Punkteprogramm auflisten. Diese Inhalte, Begehren und Bedürfnisse und die Formen möglicher neuer Institutionen entstehen immer wieder in der transversalen, langwierigen und kontinuierlichen Arbeit, den langsamen Quartierversammlungen, der Mannigfaltigkeit sozialer Bewegungen. ☁ Auf unterschiedliche Weise befassen sich die Beiträge im Schwerpunkt mit möglichen Aktualisierungsformen, die sich den systemischen Schließungen eines logistischen Kapitalismus verwehren beziehungsweise diese kritisch hinterfragen. Logistik wird hier nicht einfach zum Problem der Distribution, sondern der strukturellen Anordnung von Architektur und Administration, wie es sich im Beitrag zum Schubgefängnis im österreichischen Vordernberg zeigt oder in Bezug auf den Handel mit Körperteilen als eine Materialisierung von Rassismus im Text von Tyna Fritschy. Ebenso findet sich die Frage einer Logistik in der homogenisierenden Wirkung einer verallgemeinerten ökonomisch-rassistischen Politik in der Schweiz, den Zuschreibungen und Identifizierungen in einem pointierten Bildbeitrag zur langen Geschichte der Ausbeutung migrantischer Arbeit oder in der „zeichnerischen Recherche zur Sexarbeit in Zürich“. Die unterschiedlichen Bewegungen und Zugänge bilden keine vereinheitlichte Kritik, sondern befassen sich mit Realitäten, die etwa im Text von Sandro Mezzadra und Brett Neilson in der Wendung „to hit the ground“ aufblitzen, die keine adäquate Übersetzung zulässt. Im Bezug auf das Finanzwesen und das Kapital beschreiben die Autoren dieses Moment als effektives Zugreifen des logistischen Kapitalismus. Wir fragen uns, wie mögliche Gegenaktualisierungen „on the ground“ aussehen können, wie sie beispielsweise im Beitrag zu Protesten gegen Politiken der Illegalisierung als Praxen des Teilens beschrieben werden. Die Entwicklungslinien des logistischen Kapitalismus in seiner Verschränkung mit Rassismen zurückzuverfolgen und gleichzeitig seinen aktuellen Manifestationen nachzugehen und diese aufzudecken, führt uns zum Begriff der Materialität. Das Symbolische des Jay-Walking beinhaltet diese Materialität ebenso wie die Überschreitungen der amerikanisch-mexikanischen Grenze durch logistikale Verbindungen und Verknüpfungen. Die Frage nach Materialität verweist aber auch auf ihr Fehlen und ihr bewusstes Ausgelöscht-Werden in Homogenisierungsdiskursen der Abgrenzung und Grenzziehung. Dadurch werden wiederum Kategorisierungen und Identifizierungen hervorgehoben, die sich über den Zugriff auf Fleisch und auf migrantische Körper beschreiben lassen. Es handelt sich dabei um einen Zugriff, der erst einer Schließung bedurfte durch europäische (rassistische) Einschreibungen von ungeteilten, abgeschlossenen und sich selbst besitzenden Körpern, die im logistischen Kapitalismus erst recht zu ihrer grausamen Entfaltung finden. Indem wir aber die Schließung von Subjektivitäten und Körpern zu sabotieren und die Kreisläufe des rassistischen Urmoments der Logistik zu queren versuchen, möchten wir einen materiellen Beitrag des Widerstands aus den Dringlichkeiten der Gegenwart heraus und gegen den permanenten Zugriff leisten. ☁ 70 Airbnb, Wohntourismus Ein Essay in Streit-Thesen 🚀 Christian Berkes 65 Zu Verfahrensweisen des Kapitals und der Entnahme 🚀 Sandro Mezzadra & Brett Neilson 85 Können wir uns eine feministische Ökonomie der Kultur vorstellen? 🚀 Javier Rodrigo 🚚 Aus dem Spa nis chen von Nina Höchtl 78 Stadt- und Kulturpolitik von unten: Barcelona en Comú 🚀 Ma nuela Zechner 74 Darth Vader ist da und darf bleiben Der griechische Skywalker oder wie ein linkes Szenario an Boden gewinnt 🚀 Sofia Bempeza 89 Die mögliche Emanzipation in Spanien und Europa Heute ist die Demokratie eine wilde und konstituierende Demokratie 🚀 Antonio Negri und Ra úl Sánchez Cedillo 🚚 Aus dem Ita lienis chen von Gera ld Ra unig 98 Ausfahrt Fläche statt Tiefe. Gegen das neue Lob der Vertikalität 0 Einfahrt 4 Jay-Walker 🚀 Stefa no Ha rney 🚚 Aus dem Englis chen von Nina Ba ndi & Gera ld Ra unig 13 Du mir (d)ein Körperteil Woher kommt das Fleisch, um die Löcher zu stopfen? 🚀 Tyna Frits chy 58 Die Farbe des Territoriums: Umwertung und existenzielle Territorien 🚀 Chris toph Brunner 42 Keine Perspektive Skizzen zum Abschiebeknast Vordernberg 🚀 Juri Scha den & Sophie Uitz 29 Ein Teil dieses Konfliktes zu sein ist Teil 50 Papiere teilen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gemeinsamen vor dem Hintergrund der Proteste gegen Politiken der Illegalisierung 🚀 Niki Kuba czek dieses Kampfes Zum Konflikt über die soziale Veranwortung von Wissenschafter_innen anlässlich der Zürcher kritnet-Tagung 🚀 Nis tima n Erdede in Zus a mmena rbeit mit RAF-Aktivis t_innen 57 Arbeiter_in 🚀 Ca rlos Toledo 21 Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich 🚀 Martina Baldinger, Ales s ia Conidi, La Spos a und Angela Wittwer mit einem Einleitungs text von Andrea Tha l und Angela Wittwer 34 Wie „Freiheit“ und Rassismus zusammengehen Die Verbindung von Rassismus und ökonomisch-politischem Liberalismus am Beispiel der Schweiz 🚀 Nina Bandi Stefa no Ha rney Aus dem Englischen von Nina Ba ndi, Gera ld Ra unig Jay-Walker � Wie kam es, dass Jay-Walking mit dem Tode bestraft wird? Aus JayWalking eine Straftat zu machen, war ein Aspekt des Übergangs vom kolonialen Kapitalismus zum Industriekapitalismus in den USA. Ein Jay war jemand vom Land, der in der Mitte der Straße ging, ein Ort, der allerdings rasch dem aufkommenden Automobilverkehr vorbehalten wurde. Es gab eine öffentliche Kampagne, um die Leute davon abzuhalten, auf den Straßen zu gehen und so diesen Verkehrsstrom, dieses Fließband der Autos aufzuhalten. Als aber Michael Brown am 9. August 2014 in Ferguson, Missouri wegen Jay-Walking niedergeschossen wurde, änderte sich etwas. Natürlich wurde auch sehr schnell darauf hingewiesen, dass sich nichts geändert hatte. Unabhängig voneinander können diese beiden Aussagen jedoch nicht verstanden werden. Denn das, was sich geändert hatte, machte das, was sich nicht geändert hatte, umso unveränderlicher. Ich werde im Folgenden zu erklären versuchen, was ich damit meine. Aber ich beginne einfach mit dieser Behauptung. Der heutige logistische Kapitalismus verlangt nach einem nie dagewesenen, verallgemeinerten Zugriff auf uns. Dieser unbegrenzte Zugriff hat jedoch eine Geschichte sowohl unter jenen, die ihm am meisten unterworfen, als auch unter jenen, die am meisten von ihm befreit waren. Ich spreche vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und seiner grausamen Fracht. Ich spreche aber auch von einer Geschichte, in der der Zugriff nicht nur verweigert, sondern sabotiert und sogar befreit wurde. Michael Browns Jay-Walking war ein Akt der Sabotage, und in der Protestbewegung von Ferguson sehen wir die Befreiung des Zugriffs einmal mehr am Werk, in den Jay-Walking-Fußstapfen der Black Radical Tradition. In einem berühmten Ausspruch sagte Cedric Robinson, dass die Black Radical Tradition die Kritik der westlichen Zivilisation sei. Hier möchte ich sie übertragen als die Kritik der westlichen Idee und Praxis des Zugriffs auf andere. Wie Denise Ferreira da Silva zeigt, verlangt diese Idee und Praxis zunächst nach der Verweigerung des Zugriffs anderer auf sich selbst, und erst dann nach der Herausbildung des Zugriffsrechts auf andere – im Besonderen auf das, was Hortense Spillers als unbestimmtes Fleisch der anderen bezeichnet. Falls meine Rede metaphorisch oder romantisch klingt, oder nach einem Optimismus des Willens: Ja, das ist sie, aber sie ist auch sehr materiell – in der Tat materieller als alle deplatzierten Aufrufe, „Rasse“ und Klasse zu verbinden (denn sie werden im Gegenteil nie getrennt sein). Genauer noch möchte ich sagen, dass Michael Browns Sabotage auf eine symbolische Art materiell war. Und um das zu verste4 hen, müssen wir auf die Entwicklungslinien des logistischen Kapitalismus zurückkommen und auf die Gründe, wieso die Verweigerung des Zugriffs und das Streben nach anderen Formen der Bewegung (wieder) in direkten Konflikt mit dieser Form des Kapitalismus gerät. Wir werden zum verborgenen Reich des Operations Management in den 1960er und 70er Jahren vorstoßen müssen, als der industrielle Kapitalismus begann, zu dem zu werden, als was wir ihn damals noch nicht erkennen konnten. Je nach Kontext bezeichnen wir ihn als postmodernen oder postindustriellen Kapitalismus, als Globalisierung oder als kognitiven Kapitalismus. Nun sehen wir aber, dass eine mögliche Bezeichnung auch die des logistischen Kapitalismus ist. Indem wir ihn so nennen, gelingt es uns auch zu erklären, wie die lange, grausame Geschichte von staatlicher und außerstaatlicher Gewalt gegen jene, die am meisten dieses psychotische Verlangen nach Zugriff verkörpern, in eine neue Phase der Intensität eingetreten ist. Das psychotische Verlangen nach immer mehr Zugriff war nie weg, es findet jetzt aber zu neuem Leben, einem neuen Leben, das es aussaugen kann, in der unwahrscheinlichen, verborgenen Stätte des Operations Managements. Verborgene Stätte In den 1970er Jahren geschehen zwei Dinge in Bezug auf das Operations Management. Das erste ist Kaizen, das zweite die Logistik. In den 1970ern war die japanische Praxis der ständigen Optimierung, Kaizen, im Operations Management äußerst einflussreich geworden wie auch in den Managementpraktiken, die ihrerseits vom Operations Management beeinflusst wurden. Mit Kaizen verschob sich der Blick des Managements weg von den Arbeiter_innen und Maschinen hin zum Fließband. Das Fließband war nicht mehr Mittel zur Fügung der Arbeiter_innen und der Maschinen, sondern die Arbeiter_innen und Maschinen waren da, um das Fließband zu organisieren, das zum Selbstzweck wurde. Wie es Deborah Cowen in ihrem großartigen Buch The Deadly Life of Logistics richtig beschreibt, ist das auch die Zeit, in der das Operations Management die Logistik zum ersten Mal zur Kenntnis nimmt. Das Resultat davon wird ein neues Verständnis davon sein, wie das Fließband gefügt ist, und in der Folge und in Verbindung mit Kaizen, wie es durch die Gesellschaft auseinandergenommen und wieder zusammengefügt werden kann, auf der Suche nach ständiger Optimierung durch die immer größere Nachfrage nach Zugriff. Wenn ich sage, dass das Operations Management die Logistik zur Kenntnis nimmt, meine ich, dass sich das Operations Management bisher darauf beschränkt hatte, was es innerhalb der Fabrikmauern überblicken konnte. 5 1 Anm. d. Ü.: Wir differenzieren die Figuren des Beraters, des Siedlers/ Kolonisten und des Bürgers in der Übersetzung gendermässig nicht aus und verwenden bewusst die männliche Form, weil sie abstrakte Figuren eines jeweils anders verfassten heteronormativen und patriarchalen Kontextes darstellen. Seine Aufmerksamkeit begann am Eingangsportal und endete am Ausgangstor. Seit aber Arbeiter_innen auf die Fabrik (und Bewegungen auf den Staat) Druck ausüben, begann sich das Operations Management dem Problem anzunehmen, die Versorgung am einen Ende und die Verkäufe am anderen zu gewährleisten. Und es begann, diese Probleme als Produktionsprobleme zu betrachten, als Erweiterungen des Fließbands über die Fabriktore hinaus, als durchgängige Optimierung einer durchgehenden Linie. Obgleich auch das wieder auf eine symbolische Weise materiell wäre, könnte man sagen: Das Operations Management folgte den Arbeiter_innen bei ihrem Exodus aus der Fabrik. Als man begann, alles Material, das in die Fabrik kam, als Teil der Kalkulation der Produktion zu sehen, und nicht nur als Kosten zu Beginn der Produktion, und umso mehr mit dem aufkommenden Glauben, dass diese Kalkulation selbst dem Prinzip von Kaizen unterworfen werden kann, führte das Operations Management, mehr als alle anderen kapitalistischen Wissenschaften, zur Entstehung der sozialen Fabrik. Aber dies erlaubt uns auch, die soziale Fabrik von einem anderen Winkel aus zu betrachten. Dafür müssen wir noch etwas länger beim Operations Management verweilen. Wir werden sehen, dass es auch am Ursprung von all dem steht, von der Private Equity Firma über die Derivate bis – und dies ist am wichtigsten – zur Figur des Beraters1, auf die ich später nochmals zurückkommen werde. Mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Arbeiter_innen und den Maschinen zur Fertigungslinie selbst verändert sich die Art und Weise, wie das Management über Wert spricht. Das Management sieht das Fließband nicht mehr als statischen Kostenfaktor an – während die Verbindung von Menschen und Maschinen den Mehrwert durch den relativen Zuwachs an Produktivität generiert. Es ist umgekehrt das Fließband, das dynamisch ist. Es ist der Prozess, in dem Wert geschöpft werden muss, und insbesondere im Potenzial der Fertigungslinie. Mit diesem Potenzial entsteht auch die Spekulation (die anderen Obsessionen des Managements verschwinden natürlich nicht gänzlich mit dem Auftauchen einer neuen Obsession. In der Tat könnten wir auch eine spekulative Verschiebung im Übergang vom Personalmanagement zum Human Ressource Management und von der statischen Buchhaltung zu dynamischen Formen der Buchführung in der andauernden Aufmerksamkeit gegenüber Arbeiter_innen und Maschinen sehen – in diesen beiden sich verändernden Feldern wird Spekulation, oder die Zukunft in der Jetztzeit, zum Objekt der Analyse.). Diese Spekulation mit der Produktionslinie wird durch die Einbeziehung der Logistik und durch Fortschritte bei den Algorithmen enorm verstärkt. 6 Das Management begann bald nicht nur in der Fabrik in der Optimierung der Fertigungslinie Wert zu schöpfen, sondern darüber hinaus in allen Aspekten der Versorgung, der Verteilung und des Konsums außerhalb der Fabriktore. Und der beste Weg dahin war die wachsende Leistungsfähigkeit von Algorithmen zu nutzen, erstens durch die Implementierung einer Reihe von internen Management-Systemen, und dann durch die Verbindung unterschiedlicher Algorithmen: zunächst die aus der Logistik, dem Transport und der Lagerung, und dann auch die aus dem Konsum – jene aus den Kund_innenbeziehungen und dann auch die, welche eines Tages zu Big Data werden würden. Dies kulminiert in Unternehmen wie SAP und 4G-Logistikfirmen, wo sich die Firma im Kern aufgelöst hat und weniger in die Finanz als in die Fertigungslinie aufgegangen ist. Die Idee, dass es immer eine bessere Möglichkeit geben würde, die Fertigungslinie anzuordnen, den Prozessfluss auszugleichen, den Prozess kontinuierlich zu optimieren, erhält eine enorme Stärkung durch den Algorithmus. Ein Grund dafür ist, dass der Algorithmus diese Aufgabe – die kontinuierliche Selbstoptimierung – zumindest teilweise selber durchführt, insbesondere im Fall von sogenannten genetischen und evolutionären Algorithmen. Der Algorithmus vermittelt den Eindruck, nie mit sich selbst zufrieden zu sein, und er scheint sich andauernd zu optimieren. In der Tat hat er kein anderes Ziel als dieses, und er treibt die Fantasie voran, dass das Fließband ebenso sein eigener Zweck sein soll – wer daran arbeitet und wie es mechanisiert oder computerisiert ist und sogar was es herstellt, das ist alles sekundär im Vergleich mit seinem eigenen Effizienz-Ziel. Und diese Idee eines Fließbands, das aus sich selbst heraus immer leistungsfähiger werden kann und dadurch immer mehr Wert produziert, bringt eine Spekulation mit dem Fließband hervor. Um dies zu illustrieren, müssen wir nur an die Führungspersonen denken, die sich von Institution zu Institution, von Firma zu Firma bewegen. Sie mögen nichts wissen über die Menschen oder die Maschinen, die an diesen Stätten wirken. Aber das ist egal. Sie wissen, wie sie das Fließband an diesen Orten immer effizienter machen können. Das ist ihre einzig notwendige Qualifikation. Auf der Ebene der Firma ist es Private Equity, das vorgibt, dies zu tun. Sie müssen nichts wissen über das Produkt der Unternehmen, die sie kaufen. Ja, sie verkaufen sich sogar genau aufgrund dieser Indifferenz gegenüber dem Produkt. Sie wissen, wie sie neuen Wert aus dem Fließband heraus generieren können. Ich füge auch gleich hinzu, dass wir zwar wissen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist, dass die diesbezügliche Verleugnung in der Geschäftswelt jedoch fast allumfassend ist. Das meine ich, wenn ich sage, es gibt eine Spekulation 7 mit dem Fließband – eine Wette, ein Investment, dass dieses Band immer schneller fließen kann, immer genauer, immer kreativer, immer mehr, unabhängig von Produkt oder Ziel. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Aber was für das Kapital eine neue Welt der Spekulation eröffnet, ist ein neuer Albtraum der Dekonstruktion für die Arbeit. Ich verwende den Begriff Dekonstruktion hier mit seiner philosophischen Konnotation. Derrida mag vergeben werden, dass er das Operations Management nicht interpretiert hat, aber sein Nicht-zu-Ende-Denken hat eine Parallele genau an dem Punkt in der Geschichte, nämlich im Nicht-zu-Ende-Kommen der Arbeit, des Arbeitsprozesses selbst. Es wurde zwar bemerkt, dass das Nicht-zu-Ende-Kommen die Eigenschaft der neuen, immateriellen Waren sei, jedoch beschreibt dies nur die Oberfläche der Dinge. Die Klassenmacht, die das Kapital im logistischen Kapitalismus entwickelt, kommt nicht oder nicht nur von der nicht zu Ende gekommenen Ware, sondern von der nicht zu Ende kommenden Arbeit, die ihren Abschluss verhindert und sie mit Unvollständigkeit heimsucht, ja sogar mit dem Gedanken eines Wertüberschusses, der in jedem Moment des Arbeitens noch eingefangen werden muss, in jeder Fertigung der Linie. Nicht nur Derrida, sondern auch Bataille. Oder Bataille durch Derrida: Die begrenzte Ökonomie der Fabrik trifft auf die verallgemeinerte Ökonomie der algorithmischen Gesellschaft. Die Arbeit wird durch ihr Potenzial an Überschuss zerlegt, welches für das Management, auch wenn es in der Kreativitätsrhetorik verkleidet daherkommt, faktisch ein äußerst materielles Mittel ist, um immer mehr Zugriff zu verlangen, ohne je einer Schließung oder Begrenzung des Arbeitsvertrages zuzustimmen. Für das Management gibt es nun immer das Potenzial, immer die Metrik, auf mehr zuzugreifen, um mehr quantifizieren zu können. Um es klar zu sagen: Das ist die Bedeutung von allem, vom Nullstunden-Vertrag für Kaffee-Baristas über die Deregulierung von Kaffeemärkten für Kaffeebohnensortierer und die Mikro-Arbeitsaufteilung des mechanical turk bei Amazon bis zur privaten temporären Butler-‘App’ mit dem Namen Alfred. Es stimmt, weder hört Arbeit je auf, noch kommt sie ihrer Mythologie nach, wie es Peter Fleming richtigerweise in seinem neuen Buch dargelegt hat. Aber sie hört nie auf, weil sie nie ans Ende gekommen ist. Oder genauer weil das Fließband, und dadurch der Arbeitsprozess, nie abgeschlossen ist. In der Tat ist der Arbeitsprozess in aktiver Weise nicht ans Ende gekommen. Und nicht nur muss dieser Prozess konstant zerlegt werden, sondern er muss auch kontinuierlich wieder zusammengefügt werden. 8 Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Produktionslinie in der sozialen Fabrik zu fügen. Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Fertigungslinie zu fügen, weil der Arbeitsprozess formell nicht mehr in der Verantwortung des Managements liegt (falls es informell je so war). Die Verantwortung liegt bei den über die soziale Fabrik zerstreuten Arbeiter_innen. Und was bedeutet diese Verantwortung? Welche Form nimmt sie an? Verknüpfung, Flexibilität, Verfügbarkeit, Umstrukturierung auf Abruf, Übersetzbarkeit, kurz, Zugriff, radikaler Zugriff auf die Arbeit. Aber nicht nur auf die Arbeit, es bedeutet den vollen und uneingeschränkten Zugriff auf die Erde, auf all ihre organische und anorganische Materie, und auch auf das Kapital, jedoch normalerweise in der Form von Schulden. Und daher sagen wir besser und vor dem Hintergrund von Randy Martins bahnbrechender Arbeit: Es bedeutet den Zugriff auf die Finanzialisierung, das heißt, eine radikale Offenheit, finanzialisiert zu werden. Der Berater Es gibt natürlich Widerstand gegen diese Logik, wie es auch eine andere, selbstbestimmte Logik und Logistikalität in den Undercommons gibt. Aber diese Logik des nicht zu Ende kommenden Arbeitsprozesses und des Verlangens, uns zu fügen, hat einen mächtigen Träger. Diesen Träger der Logik des logistischen Kapitalismus werde ich den Berater nennen. Ich meine mit dieser Bezeichnung nicht spezifisch jene, welche sich selbst Berater_innen nennen. Genauso wenig meine ich damit den Akt, Beratung anzubieten und beratende Dokumente zu produzieren. Ich meine all jene, die den Virus des Arbeits-Algorithmus in sich tragen und verbreiten. Um vom Berater sprechen zu können, muss ich kurz auf die davorliegenden Figuren zurückgreifen, deren Erbe er ebenso ist wie auch ein angsteinflößender Vorreiter des (extra) legalisierten Diebstahls und der Gewalt. Primitive Akkumulation, oder – wie ich vorziehe es zu nennen – Sklav_innen- und Kolonialkapitalismus ist durch das Aufkommen nicht des Zugriffs charakterisiert – Menschen leiden unter solcher Nachfrage, seit die Geschichte der Welt eine Geschichte des Klassenkampfes ist –, sondern durch diese radikale, unaufhörliche, psychotische Forderung nach dem Zugriff. Wenn man so will, könnte man etwas verkürzt sagen, dass dies auch die Differenz zwischen traditionellen Praktiken der Sklaverei, einschließlich derjenigen in Teilen Afrikas, und der ersten großen grauenhaften Logistik, des Afrikanischen Sklav_innenhandels ist. Totale Gewalt begleitete die irrsinnige Forderung nach totalem Zugriff auf das Fleisch der Afrikaner_innen, nach Arbeit 9 und Sex. Angekündigt oder begleitet von einer ähnlichen Nachfrage nach aboriginalen Bevölkerungen und gefolgt von Varianten von Zwangsarbeit und migrantischer Sklaverei bis zum heutigen Tag. Das ist der Kern der primitiven Akkumulation. Der Träger dieser wahnsinnigen Forderung nach Zugriff war der Siedler/Kolonist. Doch der Kolonist stellte sich natürlich nicht als Träger dieser Beziehung vor, sondern unverhohlen als Träger von Eigentum und „Rasse“. Mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus – der Kolonist verschwindet nicht, auch wenn er manchmal zum Jay wird, oder zur Tochter des Bauers, wie wir an der Figur des Handelsreisenden sehen werden – bekommen wir eine neue Herrschaftsfigur, den Bürger. Vom Bürger kann man sagen, dass er das nationalistische Heteropatriarchat als kapitalistisches Gesellschaftsverhältnis hervorbringt. In anderen Worten sind die Klassenverhältnisse unterschiedlich ausgebildet, auch wenn beide Kapitalismen und beide Träger überlappen und auf unterschiedliche Art und Weise fortbestehen. Es ist diese Abstammungslinie, der ich die Hervorbringung des Beraters zuordne. Der Berater trägt das uneingeschränkte, irrsinnige Verlangen nach absolutem Zugriff in sich, und dies tut er, indem er den Algorithmus bei sich aufnimmt. Aus diesem Grund begegnen sowohl dem Nationalismus als auch dem Eigentum neue Antagonismen mit dem Berater, da sie auf der Beschränkung des Zugriffs basieren. (Und in der Tat können wir sagen, dass es gewisse Veränderungen im exklusiven heteromännlichen Privileg gibt, auch wenn diese, wie in den Fällen von Eigentum und Nation, von einer gewalttätigen Reaktion auf jeglichen neuen Zugriff begleitet werden, einen Zugriff, der in jedem Fall selbst eine Form von Gewalt darstellt, wie wir uns in Erinnerung rufen sollten.) Der Berater ist gekennzeichnet durch einen doppelten Charakter, ähnlich wie die vorgängigen und immer noch wirksamen Figuren des Kolonisten/Siedlers und des Bürgers. Der Berater glaubt, er sei ein algorithmischer Agent, der aktiv Menschen, Firmen, Institutionen und sogar Länder umstrukturiert. Aber der Berater ist auch ein Problem für den Algorithmus, ein Hindernis für diese Umstrukturierung, obwohl sich der Berater dessen nicht bewusst ist, und sich als ein revolutionärer Agent versteht. Davon ist er allerdings weit entfernt. Wir können seinen doppelten Charakter erkennen, wenn wir die Herkunft des Beraters beim Handelsreisenden verorten. Der Handelsreisende wird wörtlich genommen zum Problem – zum ‘Handlungsreisenden-Problem’ in der kapitalistischen Wissenschaft der Logistik. Dieses Problem ist gut bekannt. Es handelt sich um die Frage, wie ein Handlungsreisender zu bewegen ist, oder ein Tanklastwagen, irgendetwas eben, das auf einer 10 möglichst effizienten Route bewegt werden soll. Aber noch wichtiger ist die Frage, wie dies auf eine Weise geschieht, die Veränderungen in der Bedeutung davon vorwegnehmen kann, was am effizientesten ist. Anders gesagt ist es die Suche nach einem Algorithmus, der die kontinuierliche Optimierung verkörpert. Nun ist der Punkt aber, dass der Geschäftsmann zu menschlichen Fehlern neigt und an menschliche Zeit gebunden ist, so wie der Lastwagenfahrer auch. Dasselbe gilt für den Berater. Letzten Endes sind sie dem Algorithmus im Weg, und keineswegs sein Träger. Das ist der Grund dafür, dass es nicht darauf ankommt, was ein Berater tut oder sagt (so wie es alle bestätigen können, die schon einmal einem zugehört haben). Der Berater ist ein Modellversuch, ein Experiment nicht in der Bewegung und Auslieferung von Gütern, sondern in der Bewegung und Dekonstruktion des Arbeitsprozesses. Der Berater ist wie ein Agent, der es gewohnt ist, etwas anderes aufzulösen, in diesem Falle eine existierende Fertigungslinie, und der dann letztendlich sich selbst auflösen sollte, sobald diese Aufgabe erledigt ist. Das ist der Grund, wieso der Berater ohne sich dessen bewusst zu sein, ein Problem darstellt, eine Lösung, aber nur in diesem spezifischen, chemischen Sinne. Natürlich hat der Berater, wie der Siedler und der Bürger auch, ein ‘Back-up’. Das, was Fred Moten und ich an einem anderen Ort Politik, Politik-Machen, Politik-Implementieren, Politik-Anschaffen genannt haben, das ist die Waffe der Wahl, wenn der Berater auf Widerstand stößt, wenn der Berater Planungen wittert in den Undercommons, eine andere Form des Zugriffs, eine andere Art des Fügens. Der Berater und seine Politik-Macher, seine Version von Night Riders erinnert uns daran, wieso Nahum Chandler Recht hat, wenn er auf die andauernde Bedeutung von Du Bois’ Begriff des demokratischen Despotismus pocht. Der Liberalismus hat nie den Staat von der Ökonomie getrennt, außer in der Ideologie, und genauso steht es um den Neoliberalismus. Diese beiden Figuren des Beraters und des Politik-Anschaffers sind im logistischen Kapitalismus nie inniger verbunden, als wenn sie nach Zugriff verlangen. Hands up Aber diese irrsinnige Forderung lässt wieder die primitive Akkumulation und ihr spezifisches, wenn auch ebenso psychotisches Verlangen nach Zugriff auf undifferenziertes Fleisch und Land in den Kolonien hervortreten. Damit kommt die Figur der Sklav_in, die nie verschwand, zurück mit erneuerter Kraft der Unverfügbarkeit, die nichts anderes ist als radikale Verfügbarkeit für andere. Dies führt dazu, 11 dass alle Träger_innen der Figur der Sklav_in und der damit verbundenen Geschichten des totalen Zugangs, also alle zwangsarbeitenden, migrantischen, weiblichen, queeren Figuren als eine direkte Bedrohung der Produktionslinie erscheinen, über die Fertigungslinie der sozialen Fabrik zerstreute Saboteur_innen. Logistischer Kapitalismus geht einher mit einer Staatsform, die nach derselben Form des unmittelbaren Zugriffs verlangt. Sie stellt dich aber nicht zur Rede und macht damit aus dir einen Bürger. Sie fragt nur nach deiner ID, falls sie überhaupt nach irgendetwas fragt, bevor sie mit ihrer Gewalt ihren Zugriff auf dein Leben demonstriert. Eine Form des absoluten Zugriffs zu erlauben, gegen und vor diesen gewalttätigen Forderungen nach Zugriff durch den logistischen Kapitalismus und seine psychotischen Vertreter, als radikal verfügbar, affiziert zu leben, wie Denise Ferreira da Silva es bezeichnen würde, das heißt, die andauernde Praxis auszuüben, ja zu erhellen, die Fred Moten und ich Haptizität nennen. Ein offenes Gefühl, als fühlend gefühlt zu sein. Sie konnten seine erhobenen Hände nicht sehen, aber sie waren erhoben, nur nicht zu ihnen, sondern zu uns. Sie hielten uns auf, diese hoch erhobenen Hände. Für sie sah es aus wie ein Dämon, zu viele Augen, zu viele Zungen, zu viele Hände. Aber für uns sieht es schön aus. ☁ 🚀 Stefa no Ha rney ist Professor für Strategic Management Education an der Singapore Management University und mit Tonika Sealy Mit-Begründer des Kollektivs Ground Provisions. Sein gemeinsam mit Fred Moten geschriebenes und 2013 bei Minor Compositions erschienenes Buch The Undercommons: fugitive planning and black study wird im Herbst 2015 bei transversal texts in deutscher Sprache erscheinen (transversal.at). 12 Tyna Frits chy Du mir (d)ein Körperteil Woher kommt das Fleisch, um die Löcher zu stopfen? � Einer der meist verbreiteten religiösen Texte des Mittelalters beschreibt die Wundertätigkeiten der beiden Ärzte und Heiligen St. Kosmas und St. Damian. Besondere Verblüffung rief die Schilderung hervor, wonach das Heiligenpaar eine Beintransplantation an einem Geistlichen vornahm, dessen von Krebs zerfressenes Bein keine Lebensfunktion mehr erfüllte: „Sprach der Eine zum Anderen: ‚Wo sollen wir frisch Fleisch hernehmen, das Loch zu füllen, da wir das faule Fleisch müssen ausschneiden?‘ Sprach der Andere: ‚Auf dem Friedhof zu Sanct Peter ist heute ein Mohr begraben, der ist noch frisch: von dem hole, was wir für diesen brauchen.‘ Also lief der Eine wol bald zu dem Friedhof und brachte des Mohren Bein; darnach schnitten sie dem Kranken den Schenkel ab und setzten des Mohren Schenkel an die Stelle, und salbten die Wunde mit Sorgfalt; das Bein des Kranken aber taten sie an des Mohren Leib. Als der Mann erwachte und keinen Schmerz empfand, griff er mit der Hand an die Hüfte und fand sie ohne Fehl.“ Die sogenannte Aurea-Legende stammt aus den 1250er Jahren und fasste die geglückte Beintransplantation als Wunder: das säuberliche und nahtlose Aneinanderfügen einer schwarzen Gliedmasse an einen weissen Körper. Die Aurea-Legende antizipierte die heute realen Möglichkeiten der Transplantationsmedizin und sicherte sich somit als Ursprungsmythos einen festen Platz in deren Register. Kaum eine Internetrepräsentation eines Transplantationszentrums, die nicht auf des Mohrs transplantiertes Bein Bezug nimmt. Dabei ist die Transplantationsmedizin als Teil der Spitzenmedizin eine junge Disziplin, und ihr Erfolg ist den rasanten medizinischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte geschuldet. Heute können paarig oder segmenthaft angelegte Organe wie Nieren, Leber und Lunge oder aber reproduzierbare Zellen wie Blut, Knochenmark, Samen und Eier fast uneingeschränkt in einer sogenannten Lebendspende von einem Menschen (in gewissen Fällen auch von Tieren) auf den anderen übertragen werden. Andere Organe wie das Herz können postmortal transplantiert werden. Die neue Möglichkeit der Übernahme von Organen und Zellen von fremden Körpern bringt nicht nur ein neues Heilsversprechen hervor – „sie rettet Leben“ – , sondern gleichermassen ein neues medizinisch-technisches Dispositiv: An die Stelle vom ausbeutbaren, aber integren Körper tritt ein segmentierter Körper, dessen nach Verwertbarkeit gegliederte 13 Funktionseinheiten eine neue Produktivität erlangen. Aufgeteilt und zerteilt, wird der Körper Teil einer neu organisierten Verwertungsmaschinerie. Körperorgane werden zur Handelsware, neue ökonomische Kreisläufe entstehen, oft am Rand der Legalität. Nicht weniger folgenreich: Kulturell und religiös überlieferte Vorstellungen von körperlicher Integrität, von der Grenzziehung zwischen Leben und Tod, aber auch von körperlichen Selbst- und Besitzverhältnissen verschieben sich in entscheidender Weise. Inwiefern sind diese Entwicklungen in rassistische Logiken verwickelt? Lässt sich am schwarzen Beintransplantat der Aurea-Legende der rassistische Kern der Transplantationspraxis ablesen, der sich bis in die Gegenwart perpetuiert? Ist das Produktivmachen fremder Körperteile durch das Eingliedern in einen neuen Organismus notwendigerweise eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper der anderen – rassistisch markiert und vergeschlechtlicht? Bringt der medizinischtechnische Apparat der Transplantationsmedizin eine weitere rassistische Operation hervor – eine, die die organische Begrenzung der Haut herausfordert und die Ressourcen des Körperinnenraumes nutzbar macht? Welche Rolle spielt es, ob die Organe und Körperteile kommerziell gehandelt oder aber ohne ökonomische Interessen gespendet werden? Lassen sich die sich verschiebenden Besitzverhältnisse am Körper in eine Linie bringen mit Besitzverhältnissen in Sklaven-, Frauen- und Menschenhandel oder dem Baby Broking? Zurück zur Aurea-Legende als historischem Ankerpunkt dieser Fragen. So verblüffend die Legende auch ist, ohne weitere Differenzierung hier Rassismus am Werk zu sehen würde eine ahistorische Leseart nahelegen, wonach der Begriff „Mohr“ immer schon und unterschiedslos Teil eines rassistischen Vokabulars ist. Diese Argumentationslinie verfolgen insbesondere Autor_innen aus den Reihen der kritischen Weissseinsforschung. Die Schwäche ihres Ansatzes liegt darin, dass er die Hautfarbe als isoliertes Merkmal zum rassistischen Marker gerinnen lässt, statt die komplexen und sich verändernden historischen Konstellationen und die mit ihnen korrespondierenden und changierenden Herrschafts- und Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen. Obschon Menschen mit dunkler Hautfarbe seit der Antike xenophober Diskriminierung und Prozessen des Othering ausgesetzt waren, wurde diese Differenz bis zur Neuzeit niemals systematisch begründet und in Stereotypen sedimentiert. In der Zeit, in der die Aurea-Legende entstanden ist, war der Begriff „Mohr“ besonders stark umkämpft; positive und negative Konnotationen traten in Konkurrenz miteinander. Tatsächlich hat sich der Begriff „Mohr“ erst im Kontext von 14 Kolonialismus und Imperialismus zu jenem Ausdruck gewaltsamer rassistischer Sprachhandlungen entwickelt, der bis heute ungebrochen Wirkung zeitigt. Als eindeutig rassistisch besetzt steht er erst am Ende eines sich über mehrere Jahrhunderte hinweg vollziehenden Sprachwandels. Drei grössere Umbruchphasen lassen sich hierbei festmachen. Die beiden jüngeren markieren das Projekt der kolonialen Weltaufteilung mit dem Eintreten in den transatlantischen Sklav_innenhandel im 16. Jahrhundert respektive die Ausarbeitung der modernen Rassenlehre im 19. Jahrhundert. Der erste Umbruch jedoch, der für das Verständnis der Aurea-Legende wesentlich ist, stellt die kriegerische Konfrontation zwischen Christentum und Islam am Ausgang des 12. Jahrhunderts dar. Die schwarze Haut war zu der Zeit nicht primär Marker der Differenz, sondern symbolisierte das Band zwischen Europa und Afrika, das das verfeindete Islamische Reich zu umspannen vermochte. Die Schaustellung der Universalität der christlichen Mission war der ideologischpolitische Beweggrund dieser Zeit. Entsprechend entstanden während der Kreuzzüge eine Reihe positiver Darstellungen von Afrikaner_innen, etwa König Balthasar oder der Heilige Mauritius. Manche Autor_innen ziehen als Beleg für das harmonierende Nebeneinander von Schwarzen und Weissen im Spätmittelalter gar die pietätvolle Transplantationsszene der AureaLegende heran – eine etwas pikante Belegführung, aber immerhin lässt sich die Szene auch als eine geglückte und im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte Vereinigung von Schwarz und Weiss lesen. Doch auch die Aurea-Legende selbst legt Zeugnis ab von den machtvollen Bedeutungsverschiebungen im Verlaufe der Zeit. Die unzähligen Variationen der Legende – meist repräsentiert in ikonografischen Darstellungen – verstellen den impliziten Bildinhalt bis aufs Unkenntliche und spiegeln das für die jeweilige Zeit charakteristische Vokabular an rassistischen Bildern und Einstellungen. Die cleane Transplantationsszene um den bereits toten «Mohren» wird in einer späteren Darstellung zu einer finsteren Gewaltschau: Das Relief aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigt das transplantierte Bein, das einem lebenden Schwarzen amputiert worden ist, der vor dem Operationstisch auf dem Boden liegt und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Kniestumpf hält. Doch warum greift die fingierte Transplantationsszene auf einen „Mohr“ zurück? Lässt sich das schwarze Bein als exemplifizierte Kompliz_innenschaft von Bewohner_innen des europäischen Festlandes mit Afrikaner_innen lesen? Und falls diese Kompliz_innenschaft zutrifft, trifft sie möglicherweise nur in Form eines herrschaftsstabilisierenden Aktes zu? 15 In dieser komplexen historischen Situation vermag die Legende des transplantierten schwarzen Beines keine Eindeutigkeiten herzustellen. Eine ursprüngliche Verbindung vom Topos der Transplantation zu diskriminierenden, (vor)rassistischen Praxen lässt sich jedenfalls nicht nachweisen. Dafür lässt der Blick auf den frisch Operierten eine monströse Unheimlichkeit aufscheinen: Hybrid aus Schwarz und Weiss, Eigenem und Fremdem, Mischgestalt obskurer Provenienz, dessen Körper – zusammengesetzt aus schwarzen und weissen Teilen – sich Logiken der Inklusion und Exklusion und dem rassistischen Gebot der Reinheit beispiellos verwehrt. Es triumphiert die verbindende Verkörperung über die Trennung und Segmentierung entlang nur scheinbar gegensätzlicher Elemente. Interessant ist, und dies nur als Randbemerkung, dass zur selben Zeit Wolfram von Eschenbach in Parzival mit Feirefiz, Sohn des weissen Königs Gahmuret und der schwarzen Königin Belacane, ebenfalls eine Figur entwickelt, die keinen ebenmässig gefärbten Teint aufweist, sondern schwarz-weiss gescheckt ist wie eine Elster. Die Imagination Eschenbachs handelt auch von einem Heilsversprechen. Vom Heilsversprechen nämlich, dass ein weltumspannendes Rittertum, das die Differenz dermassen einbegreift, die kriegerischen Konflikte zum Erliegen bringen könnte. Jenseits dieser utopischen Anklänge wirft die Legende eine elementare Frage auf: Woher kommt das Fleisch, um die Löcher zu stopfen? In zahlreichen Ländern des Westens wird seit einigen Jahren eine Debatte um die Liberalisierung des Organhandels geführt. Doch die meisten Argumente – egal ob pro oder kontra – leisten vor allem eines: Sie verabsolutieren den Organmangel. Beständig wird wiederholt, dass die Zahl der Spendeorgane konstant bleibt, während der Bedarf an lebensrettenden Organen rapide zunimmt. Damit wird der Organmangel rhetorisch begründet. Der Mangel wird zur grundlegenden Dimension in der Ökonomisierung der Organe. An ihm misst sich ihr Wert. Doch der Begriff des Organmangels bedarf dringend einer Dekonstruktion: Der Organmangel ist keineswegs Faktum, sondern raffinierte Fiktion von Medizinaltechniker_innen. Die Artikulation von Mangel verweist implizit immer schon auf die potenzielle Verfügbarkeit dessen, woran es mangelt. Das medizinisch-technische Dispositiv, aus dem das wirkungsmächtige Konstrukt des Organmangels hervorgeht, ist aufs Engste verknüpft mit westlichen Vorstellungen von Krankheit, die in Opposition zu einer lebenswerten Gesundheit stehen, vom Altern, das niemals eintreten darf, und vom Tod, den es bis in die letzte Konsequenz hinauszuzögern gilt. 16 Die wachsende Nachfrage nach Organen – wohlgemerkt geopolitisch im globalen Norden verortet – resultiert einerseits in der Herausbildung illegaler Märkte und andererseits in Verschiebungen im Paradigma der Biopolitik. Obschon der gewerbliche Handel mit Organen in allen Ländern ausser im Iran verboten ist, breitet sich im Schatten der staatlich kontrollierten Gesundheitseinrichtungen ein illegaler „Fleischmarkt“ aus, der sich nur in seiner globalen Dimension verstehen lässt. Dies führt schnell in dunkle Winkel des organisierten Verbrechens. Das Geschäft bezieht seine Anrüchigkeit vielleicht gerade aus dem Umstand, dass es der Kompliz_innenschaft des medizinischen Apparats und technologisch hochentwickelter Operationssäle bedarf. In China haben Menschenrechtsaktivist_innen aufgedeckt, dass in staatlichen Gefängnissen exekutierten Häftlingen ohne Einwilligung derselben oder deren Angehörigen im grossen Stil Organe entnommen worden sind. Die meisten der zahlreichen Geschichten, die von illegalen Organentnahmen handeln, sind jedoch schwer zu verifizieren und werden als Urban Legends gehandelt. So kursieren etwa Berichte über organisierte Banden in Mexiko, die in Überfällen ihren Opfern unter massiver Gewaltanwendung Organe entnehmen. Oder Berichte von Nieren, die für 300.000 Dollar gehandelt werden. Fakt ist: Der illegale Handel mit Organen findet statt, und er ist im Wachsen begriffen. Gemäss den letzten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2012 finden jährlich um die 10.000 illegale Nierentransplantationen statt. Fakt ist ebenfalls: Der Fluss von Organen folgt den Bewegungen des Kapitals. Vom Süden in den Norden, von der dritten in die erste Welt, von arm zu reich, von schwarz zu weiss und von Frau zu Mann. An der biopolitischen Front wird das Phantasma Organmangel ebenfalls produktiv. Zwar gilt in der staatlichen Organvergabepraxis das Prinzip des Altruismus: Organe sollen nur gespendet werden dürfen, wenn keine finanziellen Anreize die Spende motivieren. Dabei ist unerheblich, ob es sich um eine Lebendspende oder eine postmortale Spende handelt. Organe aus der Lebendspende dürfen sogar nur auf nahestehende und verwandte Personen übertragen werden. In diesem rechtlichen Rahmen laufen die biopolitischen Bestrebungen hauptsächlich darauf hinaus, die Entscheidung über die Verfügungsrechte am toten Körper zu forcieren. In Deutschland wird seit ein paar Jahren der „Zwang zur Entscheidung“ diskutiert. Dies ist implizit ein Zugeständnis daran, dass der tote Körper der Dingwelt zugehört und in Kreisläufe der Produktivität eingespeist werden kann. In anderen Ländern, namentlich in Brasilien, Belgien und Spanien, geht der Körper beim Eintritt des 17 Todes automatisch in den Besitz und die Verfügungsgewalt des Staates über. In diesem Kontext wird verständlich, dass Leben und Tod nicht nur wissenschaftliche, sondern immer auch politische Konzepte sind. Die Veränderungen in Diskurs und Praxis der Organvergabe bearbeiten den Horizont dessen, was sagbar ist. Obwohl die Forderungen nach einem staatlich regulierten Organhandel bisher ins Leere gelaufen sind, geraten tradierte Vorstellungen von körperlicher Integrität unter Druck. Gleichzeitig beunruhigende Realität als auch unrealisierte Zukunft ist die Vorstellung, dass nicht mehr nur die freie Arbeitskraft in die Kreisläufe der Ökonomie eingespeist werden soll, sondern dass auch die Zergliederung toter oder lebender Körper und deren Verschaltung zu neuen funktionalen Einheiten und Organismen mit Lebensfunktion kapitalisiert werden sollen. Zwar werden bereits heute Blut, Spermien und Eizellen kommerziell gehandelt und Körperfunktionen wie die Leihmutterschaft gegen Geld „verliehen“, doch (noch) steht der Ver/ kauf der Organe jenseits der Linie, die nicht überschritten werden soll. Im Zentrum der Liberalisierungsdebatte steht das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper. In diesem Verständnis ist der Körper Eigentum, über das verfügt werden kann. Dies schliesst die freie Entscheidung mit ein, die eigenen Organe zu verkaufen und eine Selbstschädigung in Kauf zu nehmen. Allerdings – das die theoretische Pointe – liegt die Warenhaftigkeit des Körpers nicht im realen ökonomischen Tauschverhältnis begründet, sondern in der Konzeption des Körpers als Eigentum. Es ist der folgenreiche liberale Trick des Staatstheoretikers John Locke, der eine notwendige Verbindung zwischen Körpereigentum und kapitalistischer Ökonomie behauptet. In den Zwei Abhandlungen über die Regierung hält Locke den Grundsatz vom Eigentum an der eigenen Person fest und macht ihn zur Grundlage der liberalen Ökonomie. Das heisst, historisch gesehen ist das Körpereigentumsprinzip ein Tauschprinzip und damit Teil und Voraussetzung von ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen. Doch das Ideologem des possessiven Individualismus, das den Rahmen des Selbstbildes als umfassenden Besitz vorgibt, ist durch seine konstitutiven Ausschlüsse charakterisiert. Es ist der weisse, heterosexuelle Mann, dem es privilegiert zugesteht, sich selber zu besitzen und über sich selbst zu verfügen. Jenseits davon sind die (Selbst-)Besitzverhältnisse ungewiss und brüchig. Im Szenario eines legalisierten Handels mit Körperteilen und deren freien Flusses sind es diejenigen, die ihre(n) Körper(teile) zum Kauf anbieten, die – so paradox das klingen mag – niemals die Chance gehabt haben, sich selbst zu besitzen. Es lässt sich leicht aufzeigen, 18 dass sich der Handel mit Organen nur dann abwickeln dürfte, wenn ein starkes Wohlstandsgefälle vorliegt. Damit verkehrt sich das Credo der Apologet_innen des freien Handels in sein Gegenteil: Wo der Handel stattfindet, ist das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper bereits empfindlich geprellt, wenn nicht ganz inexistent. Die Zeichen stehen auf Ausverkauf statt auf Selbstbestimmung. Leidtragend wären einseitig die ohnehin verletzlichen Gesellschaftsschichten, die in einer prekarisierten Gesellschaftsordnung bis in die Mitte reichen. Es ist indes bemerkenswert, dass es in der Debatte um die kommerzielle Organvergabe an jeder Selbstartikulation fehlt. Nirgendwo auf der Welt hat sich eine kollektive Organisierung für ein „Recht auf den Organverkauf“ formiert. Dies allein liefert einen entscheidenden Hinweis auf die Parteilichkeit der Forderung und auf die Verzerrung ihrer Darstellung. Doch im Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper schwingt auch das Versprechen einer emanzipatorischen körperlichen Selbstbestimmung mit. Die einprägsamen Slogans „Our Bodies, Ourselves“ respektive „Mein Bauch gehört mir“ waren in den feministischen Bewegungen der frühen 1970er Jahre wirksame Waffen gegen das Abtreibungsverbot und gegen die Beschneidung der leiblichen Selbstbestimmung durch den Staat. Wie wichtig und aufschlussreich diese Station in der Diskussion um Selbst- und Besitzverhältnisse am Körper auch ist, es wäre verfehlt, daraus einen grundlegenden Wert der körperlichen Autonomie abzuleiten. Die körperliche Selbstbestimmung aller ist gleichzeitig eine wünschenswerte Zukunft wie auch ein zweifelhaftes Ideal und Befreiungsversprechen. Indem Bezug auf den eigenen Körper genommen wird, verschleiert das Konstrukt der Autonomie, dass es de facto die Körper der anderen sind, auf die Anspruch und Zugriffsrechte erhoben werden. Doch auch diejenigen, denen dieser Zugriff auf den Körper der anderen gelingt und die einen Körperteil empfangen, bleiben in den Fängen des Besitzindividualismus. In seiner skurrilsten Ausformung zeigt sich das, wenn sich das Organ der anderen bemerkbar macht als Stück Fremdheit im eigenen Körper. Organempfänger_innen berichten, dass sie sich nach einer Transplantation vom fremden Organ ‚besessen‘ fühlen oder es in ‚Besitz‘ genommen haben, oder sie laborieren an der schwierigen Erfahrung, eine Person ‚beschädigt‘ zu haben. Die empfindliche Störung des postoperativen Selbstverhältnisses in jedem dieser Fälle zeigt an, wie hartnäckig sich der Besitzindividualismus hält und wie Ideologie in ein psychologisches Phänomen umschlägt. Es ist vielleicht in besonderem Masse die Perspektive derer, die 19 nicht geschädigt werden und in einem asymmetrischen Verteilungskampf nicht leer ausgehen, die erahnen lässt, wie schwer es ist, den Rahmen von Besitz und Übernahme zu verlassen. Die anderen, die ekstatischen Körper, die – unter welchen Umständen auch immer – Teile ihres Körpers aus der Hand gegeben haben, haben im Selbstzerteilungsakt das identitäre und intakte Selbst, das sich auch selbst besitzt, bereits hinter sich gelassen. Das ist der Umstand der Verletzlichkeit, der potenziellen Gewalt, aber vielleicht auch der Umstand, neue Körperlichkeiten und Existenzweisen hervorzubringen. Die Neuartigkeit dessen, was hier in Versatzstücken beschrieben wird, ist vielleicht genau, dass die asymmetrischen Zugriffe auf den Körper unter die Haut gehen. Die neue internationale Arbeitsteilung strukturiert sich zwar entlang der Linien rassistischer Asymmetrie, aber die zerteilten und neu zusammengesetzten Körper lassen – anders als der montierte Mensch der Aurea-Legende – die Hautfarbe als rassistischen Marker unangetastet. Um gewaltsame und verletzende Zugriffe zu vermeiden, ginge es vielleicht genau um bewusste Verhältnissetzungen zu den ungleich verteilten Verletzlichkeiten der Körper der anderen. Dies hiesse mitnichten die Möglichkeiten der Medizin zu negieren, sondern sie auf eine neue Weise nutzbar zu machen. Auf der Suche nach einer alternativen Ökonomie der Reparation ist die utopische Version des neu zusammengesetzten Mannes der Aurea-Legende, die antirassistische Cyborg, vielleicht das visuelle Emblem einer Widerstandsfigur, die sich nicht selber besitzt, sondern sich in Beziehung setzt zu anderen, wie auch immer zerteilten Körpern und die Zerteilung vom Teilen her denkt. ☁ 🚀 Tyna Fritschy ist Wissensarbeiterin, Cattiva Maestra und Collaboratrice und arbeitet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit Konzepten der Enteignung und Ekstase beschäftigt. 20 Ma rtina Ba ldinger, Ales s ia Conidi, La Spos a und Angela Wittwer mit einem Einleitungstext von Andrea Tha l und Angela Wittwer 🚀 Martina Baldinger ist Künstlerin und lebt in Olten 🚀 Alessia Conidi ist Künstlerin und Illustratorin und lebt in Basel 🚀 La Sposa ist Künstlerin und lebt in Zürich 🚀 Andrea Thal war von 2007 bis 2014 die Leiterin von Les Complices* und lebt derzeit in Kairo Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich 🚣 Der folgende Beitrag zeigt Ausschnitte aus der Publikation Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich, die im Anschluss an die gleichnamige Ausstellung bei Les Complices* (27.08. – 20.09. 2014), einem selbstorganisierten Ausstellungs- und Veranstaltungsraum, entstanden ist. Diese Ausstellung wiederum war Teil einer zweimonatigen Reihe, in der sich Les Complices* mit Sexarbeit auseinandersetzten. Die Arbeit ist sowohl ein Versuch der Annäherung an Sexarbeit in Zürich durch das Medium der Zeichnung, wie auch eine Untersuchung der Darstellungsmöglichkeiten und Grenzen der Repräsentation von Sexarbeit. Mit der per 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Prostitutionsgewerbeverordnung der Stadt Zürich hat der Kreis 4, in dem sich auch Les Complices* befinden, eine zunehmende Reglementierung, Verdrängung und Unsichtbarmachung von Sexarbeit erfahren. Die Anwerbung von Sexkonsumierenden im öffentlichen Raum ist verboten, der Strassenstrich fast gänzlich aufgehoben und mit dem Strichplatz am Depotweg in die städtische Peripherie verschoben. Die Sexarbeit im Quartier findet hauptsächlich in Etablissements mit Bewilligung für eine „sexgewerbliche Nutzung“ statt. Während Sexarbeit aufgrund von behördlichen Verordnungen zunehmend unsichtbar werden soll, erfordert die Ausübung ihrer Tätigkeit, dass sich Sexarbeiter_innen – etwa mithilfe von Kleidung, Make-up, Gestik oder Auftreten – eindeutig markieren. Die Spannung, die sich aus behördlich verordneter Unsichtbarkeit, den stereotypen Bildern von Sexarbeit in den Medien und den (Selbst-)Darstellungen von Sexarbeiter_innen ergibt, wirft grundsätzliche Fragen nach der Darstellung und Darstellbarkeit von Sexarbeit auf. Wird Sexarbeit als affektive Arbeit und affektive Arbeit wiederum als Bestandteil jeglicher Erwerbsarbeit begriffen, so sind auch Nicht-Sexarbeiter_innen verstrickt in die Darstellungsweisen von käuflichem Sex. Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich sucht nach Darstellungen, die einerseits zirkulierende Codes und Markierungen aufgreifen, aber auch Diskontinuitäten produzieren und Sexarbeit in einen gesellschaftlichen Kontext stellen, der eine Isolierung und Stigmatisierung von Sexarbeit verhindert. ☁ 🚀 Angela Wittwer ist Künstlerin und lebt in Zürich 21 22 23 24 25 26 27 28 Nis tima n Erdede in Zusammenarbeit mit RAF-Aktivist_innen Ein Teil dieses Konfliktes zu sein ist Teil dieses Kampfes Zum Konflikt über die soziale Veranwortung von Wissenschafter_innen anlässlich der Zürcher kritnet-Tagung 🚚 Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention. Er ist ein Versuch, aus meiner Erfahrung als politischer Aktivist im antirassistischen Kampf von einer ganz bestimmten Perspektive aus Kritik zu üben. Wenn ich von Erfahrung spreche, meine ich nicht nur meine persönliche Erfahrung, sondern auch kollektive Erfahrungen in verschiedenen antirassistischen Projekten. Meine Perspektive stammt aus der Reflexion dieser Erfahrungen, es ist die Perspektive eines Lernprozesses, der immer noch andauert. Anlass für diesen Text ist der Ausstieg von Aktivisten des RAF-ASZ (Raum für Autonomie und das Ferlernen in der Autonomen Schule Zürich) aus der Organisation des 11. Netzwerktreffens für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung vom 26. - 29. März 2015 in Zürich. Für diesen Ausstieg gibt es mehrere Gründe, auf die ich unten näher eingehen werde. Dazu möchte ich Alternativen für die Sensibilisierung im Umgang mit Rassismus und Ökonomie vorstellen. Die Alternativen basieren auf meinen aktivistischen Erfahrungen im Kampf gegen Rassismus als Kurde in der Türkei und als Flüchtling in der Schweiz. Mich interessiert dabei vor allem das Spannungsfeld zwischen Aktivismus und Akademie und dessen rassistischen Implikationen. Ziel dieses Texts ist es, auf eine Problematik aufmerksam zu machen und eine Diskussion anzustossen, die hilfreich für zukünftige Zusammenarbeiten sein kann. Die folgenden Ausführungen beschreiben das aktivistische Selbstverständnis der RAF-ASZ: „RAF-ASZ im Kochareal ist ein selbstverwalteter und selbstbestimmter Raum, der sich mit der Normalisierung von Herrschaft auseinandersetzen will. Dabei werden Kategorien wie Kultur, Ethnie, Herkunft, Geschlecht, Bürger_innenschaft, Bürger_innenrechte, Menschenrechte, Aufenthaltsstatus, annerkante_r Flüchtling, Wirtschaftsflüchtling, u.a. als Herrschaftsstrategien betrachtet. Sie strukturieren und normalisieren die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. RAF-ASZ besteht grundsätzlich aus Menschen, die sich durch Selbst- und/oder Fremdzuschreibung nicht in eine oder mehrere dieser Kategorien einordnen. Hier besteht kein Ausschlussprinzip, sondern eher die Bestimmung eines Kritikfelds und einer Handlungsorientie1 https://ferlernen. rung. Der Raum für die Autonomie und das Ferlernen versteht sich als wordpress.com/about/ ein politisches Bildungsprojekt im Sinne einer autonomen Schule.“1 29 2 Rubia Salgado, „Aufrisse zur Reflexivität“, http:// www.ifa.de/fileadmin/pdf/ edition/kunstvermittlung_ migrationsgesellschaft.pdf Ich beziehe mich oft auf Paulo Freire, einen brasilianischen Pädagogen, der hier in Europa mit dem Konzept der „Pädagogik der Unterdrückten“ bekannt geworden ist. Paulo Freire beharrt, wie auch Antonio Gramsci, auf dem Prinzip der Wechselseitigkeit im pädagogischen Verhältnis. Das heisst, es geht um Lernende wie auch um Lehrende. Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehrende und Lernende gleich oder auf Augenhöhe sind. Freire sagt, dass der Unterschied zwischen Lernenden und Lehrenden epistemologischer Natur sei und dass dieser Unterschied die Rechtfertigung aller pädagogischen Handlungen bilde. Die Lehrenden verfügen über hegemonial legitimes Wissen, das sie autorisiert, in einem bestimmten Lernsetting in der Funktion der Lehrenden aufzutreten, zu sprechen und zu handeln. Die Lehrenden sind in seiner Konzeption jedoch keine Wissensvermittler_innen, sondern sie strukturieren und begleiten den Prozess der Wissensproduktion. Die Lernenden verfügen ebenfalls über ein Wissen, das aufgewertet und anerkannt werden sollte, ohne es zu romantisieren oder zu idealisieren. Das heisst, dass auch der Umgang mit dem „marginalisierten Wissen“ mit Freire – wiederum im Einklang mit Gramsci – während des Lernprozesses einer kritischen, reflexiven Prüfung unterzogen werden soll.2 Mein Zugang zu Theorie kommt aus einer praktischen Notwendigkeit. Ich spreche mit Begrifflichkeiten, wenn ich versuche in meiner politischen Arbeit meine täglichen Erfahrungen als politischer Flüchtling in der Schweiz zu beschreiben. Das ist etwas anderes, als wenn man sich aus einem Interesse jenseits von Notwendigkeit mit solchen Erfahrungen beschäftigt. Ich wusste schon, was diese Begrifflichkeiten bedeuten, bevor ich theoretische Texte dazu gelesen habe, weil ich das, was sie beschreiben, erlebe. Die Kritik in diesem Text richtet sich an die Organisator_innen der Zürcher kritnet-Tagung als konkretes Beispiel eines eurozentrischen Verständnisses von Wissenschaft. Dieses Wissenschaftsverständnis trifft auch mich als Aktivist im Kampf gegen Rassimus. Ich möchte dies mit Beispielen erläutern. 2008, in meiner Anfangszeit im Exil, wurde die Verschärfung des Asylgesetzes diskutiert. Es war ein Höhepunkt des rassistischen Klimas und Diskurses in der Schweiz. Ich versuchte mich zu informieren, was die Verschärfung des Asylgesetzes für mein Asylverfahren bedeutete und ich wollte wissen, wie meine rechtliche Situation aussah. Es war schwierig, als Nicht-Deutschsprachiger den rassistischen und diskriminierenden Berichten der bürgerlichen Tagesmedien zu folgen und sie zu verstehen. Das zwang mich, alternative Wege zu gehen und sie führten mich zu Veranstaltungen in alternativen 30 Räumen zum Thema Rassismus. Die Inhalte dieser Veranstaltungen waren das, was ich gesucht hatte, aber die Struktur, die Sprache und die Diskussionen waren mir unzugänglich, was in mir Frustration und Enttäuschung auslöste. Die Fragen folgten dem wissenschaftlichen Interesse der Fragesteller_innen und Flüsterübersetzungen oder Handouts gab es nicht. Das bedeutete einen Ausschluss der von Rassismu betroffenen aus Diskursen über Rassismus. Durch das Sprechen über Flüchtlinge ohne Flüchtlinge werden Flüchtlinge zum Objekt des Gesprächs gemacht. Das zu verstehen war ein Lernprozess für mich. In der aktivistischen Praxis und im Kampf gegen Rassismus habe ich in der Interaktion mit Mehrheitsangehörigen bemerkt, wie Flüchtlinge zu Forschungsobjekten gemacht werden. Durch die Identifizierung als Flüchtling wurde ich in der Schweiz auch mit Kunst konfrontiert, jedoch nicht als Konsument, sondern als Stoff für diese Kunst. Ich habe Anfragen erhalten, in der Künstler_innen oder Gruppen Flüchtlinge für ihr Anliegen suchten. Immer wieder musste ich feststellen, dass sie das Stereotyp Flüchtling bedienen wollten. Das des Hilfesuchenden, des Opfers, doch ohne ihm eine Beteiligungsmöglichkeit zu geben. Ich realisierte, dass ihre Interpretation dessen, was ein Flüchtling ist, anders war als ich es selbst erlebte. Ich fühlte mich als Schablone eines exotischen, authentischen, hilfsbedürftigen Asylbewerbers, den die Künstler_innen als Schmuck für ihre Kunstwerke verwenden wollten. Ich habe dennoch an vielen Kunstprojekten teilgenommen oder mitgewirkt. Ich kämpfte dabei gegen Rassismus. Egal ob an einer Demo, an einer Vorlesung der Kunsthochschule oder auf einer Theaterbühne – für mich geht der Kampf weiter. Mich stört es, wenn Künstler_innen und Wissenschafter_innen ihre Position nicht selbstkritisch sehen, sondern sich weiter mithilfe von Methoden mit dem Thema Rassismus beschäftigen, die zu Identifizierung, Stereotypisierung und Viktimisierung führen. Die Wissenschaft sollte nicht nur politische Themenfelder erforschen, sondern auch in den Formen ihrer Forschung soziale Verantwortung übernehmen. Das heisst, gerade wenn Wissenschafter_innen sich mit dem Thema Rassismus beschäftigen, müssen sie ihre Gewohnheiten als Mehrheitsangehörige verlernen. Ein Beispiel für diese Gewohnheiten ist die Rollenverteilung bei Feldforschungen. Da taucht die Frage auf, wer die wissende Person ist: die Person, die das Wissen akademisch lernt oder die Person, die sich das Wissen durch Emanzipation und Erfahrung aneignet? Auch von Bedeutung ist die Frage, mit welchem Interesse das Thema einer Forschungsarbeit gewählt wird: als akademisches oder aus sozialer Verantwortung in Bezug auf das gewählte Thema? 31 Ich möchte vier Beispiele akademischer und selbstorganisierter Praxen anführen, die mir einfallen, wenn ich an Wissenschaft und soziale Verantwortung denke. Es sind vier Beispiele von vielen. Ismail Besikci, 1939 in einer türkischen Familie geboren, forschte an der Universität von Erzurum und Ankara. Er veröffentlichte die ersten soziologischen Untersuchungen über Kurd_innen in der Türkei. Dafür wurde er zu über hundert Jahren Haft verurteilt. Er hat 17 Jahre in verschiedenen Gefängnissen verbracht. Von 36 seiner akademischen Arbeiten wurden 32 durch das Anti-Terror-Gesetz verboten. Şirin Tekeli zählt zu den führenden feministischen Autorinnen und Aktivistinnen der zweiten feministischen Bewegung in der Türkei. Sie studierte zuerst in Ankara, dann setzte sie ihr Studium der Politikwissenschaft in Paris und an den Universitäten von Lausanne und Istanbul fort. Sie lehrte ab 1968 an der Universität Istanbul an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. 1973 promovierte und 1978 habilitierte sie. Tekeli legte 1981 ihr Amt aus Protest gegen Säuberungen und politische Beschränkungen nieder und startete ihre Karriere als feministische Aktivistin, Übersetzerin und Autorin. 1982 veröffentlichte sie ihre Habitilationsschrift als Buch Kadınlar ve Siyasal-Toplumsal Hayat, das erste Buch in türkischer Sprache, das sich mit der Marginalisierung von Frauen in der Türkei auseinandersetzte. 1996 wurde ihr in Frankreich die Auszeichnung Officier dans l’ Ordre des Palmes Académiques verliehen. Sie lebt als freie Wissenschaftlerin in Bodrum, Türkei. Ein weiterer Wissenschaftler, Nejat Suphi Agirnasli, ist in Deutschland als Sohn politischer Flüchtlinge aufgewachsen. Als sehr guter Schüler standen ihm mehrere Universitäten offen, er entschied sich aber, in die Türkei zu gehen, weil er dort mehr reale Möglichkeiten für seine revolutionären marxistischen Ideen sah. Er studierte Soziologie an der renommierten Bogazici Universität. In seinem Doktoratsstudium forschte er zu den Arbeitsbedingungen von Schiffswerftarbeiter_innen, um sie darin zu unterstützen, ein Bewusstsein für ihre Rechte zu erlangen. Als Aktivist der MLKP (marxistisch-leninistische kommunistische Partei) nahm er an zahlreichen Demonstrationen und Aktionen an der Uni und auf der Strasse an der Seite der Arbeiter_innen teil. Letzten Sommer verabschiedete er sich. Als türkischer Revolutionär und Internationalist ging er nach Kobane in Westkurdistan, um gegen den IS zu kämpfen. Im September 2014 ist er dort für seine Überzeugungen gestorben. Seit Februar 2010 entwickelt in Zürich eine Gruppe – zunächst unter dem Titel „Atelier“, nun als Anti Kulti Atelier – gemeinsam gestalterische, politische Projekte. Bei den wöchentlichen Treffen in institutionellen und autonomen Räumen in Zürich werden neue Ideen 32 3 http://www.papierlosezeitung.ch/2012/05/ fluchtlinge-als-stofffur-kunstprojekte-eingesprach-der-antikultiateliergruppe/ 🚀 Nistiman Erdede studiert im Bachelor Medien & Kunst in der Vertiefung Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er hat in Diyarbakir (Türkei) ein Studium als Chemietechniker abgeschlossen und war als freiwilliger Dolmetscher zu Menschenrechtsfragen tätig. Er ist politischer Flüchtling und Aktivist im Migrationsbereich in der Schweiz. diskutiert, Entscheidungen getroffen und es wird gearbeitet: z.B. an einem Schattenspiel, an alternativen Stadtplänen oder am Bleibeführer. Der Fokus der Projekte liegt auf dem Kampf für die Rechte aller Menschen, die hier sind.3 Durch diese Beispiele habe ich ein anderes Verständnis von akademischer Arbeit bekommen. Selbstverständlich stammen sie aus einem Kontext, der eine andere Dynamik hat als das universitäre Feld in der Schweiz. Trotzdem sind es Beispiele von Wissenschafter_innen, die in ihrer Arbeit Mut zeigen und zugleich weniger Sorge um ihre akademische Position haben: Kritisch, ohne Anpassung und ohne Angst sich mit politischen Themen zu beschäftigen, mit dem Ziel der sozialen Veränderung und der Erweiterung des Felds der Wissenschaft. Aus diesem Verständnis von Wissenschaft ergeben sich konkrete Kritikpunkte am Planungsprozess der kritnet-Tagung. Ab einem bestimmten Punkt der Planung war absehbar, dass die Tagung als Austausch zwischen Akademiker_innen aus verschiedenen Ländern konzeptioniert war und hauptsächlich Akademiker_innen von diesem Austausch profitieren würden. Und vor allem tauchte die Frage auf, was dieser Austausch auf lokaler Ebene bringen würde, was er beiträgt zum Kampf gegen Rassismus im Hier und Jetzt. Ich bin nicht einverstanden damit, dass mehrheitlich Mehrheitsangehörige und Akademiker_innen über Widerstandstraditionen von Flüchtlingen oder das Grenzregime sprechen. Wenn wir darüber sprechen, muss das gemeinsam erarbeitet werden von Aktivist_innen, Wissenschafter_innen und all jenen, die sich keiner dieser Kategorien zuordnen wollen. Das Thema betrifft gleichermassen Theorien wie Praxen, und nur wenn der ganze Prozess einen Austauschprozess darstellt, können alle davon profitieren. Meine Hauptkritik ist, dass sich die Organisator_innen des 11. Netzwerktreffens für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung zu wenig damit beschäftigten, die Machtverhältnisse, die spezifischen Ökonomien, die Mechanismen von Repräsentation und Viktimisierung aufzubrechen, Ver/Lernprozesse zu betreiben und soziale Verantwortung zu übernehmen. Es reicht nicht, die Kritik zu akzeptieren, sie muss auch umgesetzt werden. Gleichzeitig haben für mich die Gespräche und Diskussionen, die durch kritnet entstanden sind, einen Prozess angestossen, der mir geholfen hat, meinen antirassistischen Kampf zu erweitern. Ein Teil dieses Konfliktes zu sein, ist Teil dieses Kampfes. ☁ 33 Nina Bandi Wie „Freiheit“ und Rassismus zusammengehen Die Verbindung von Rassismus und ökonomisch-politischem Liberalismus am Beispiel der Schweiz 1 Vgl. Mittelbande, „Weltweit-Werden? Fragmente eines Diskurses über Ausschluss an der Kunsthochschule. Oder: Was heißt hier Internationalisierung?“, in: Kamion Nr. 0, S. 61. 🚡 Am 9. Februar 2014 war es soweit, die Initiative zur Begrenzung der „Masseneinwanderung“, lanciert von der Schweizer Volkspartei (SVP), wurde mit 50,3% angenommen. Die Initiative besagt, dass die Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente gesteuert und beschränkt werden, wobei explizit den gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen sei. Ein Erzittern, Entsetzen und ein Aufschrei waren in linken und migrantischen Kreisen zu vernehmen; in den Regierungsinstitutionen, in Hochschulen und Universitäten1, in Unternehmen und in den Medien war es in erster Linie Ratlosigkeit. Vielerorts blieb es auch einfach sehr ruhig, beunruhigend ruhig. Bis anhin hatte sich ein großer Teil der sogenannten wirtschaftlichen und politischen Elite versprochen, dass die Formel (die sich im Nachgang an die Ablehnung an der Urne des Beitritts der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 herausgebildet hatte), die bilateralen Verträge wären gut für die Schweizer Volkswirtschaft und somit im Interesse der gesamten (Schweizer) Bevölkerung, weiterhin funktionieren würde, trotz nun bereits jahrzehntelangem Nähren rassistischer und isolationistischer Tendenzen fast im gesamten politischen Spektrum. Nun hatte „der Souverän“ / „das Volk“ anders entschieden. Und sogleich (ver)beugten sich nicht nur Regierungsmitglieder vor dem Organe Supreme der schweizerischen Demokratie, von dem 25% der in der Schweiz lebenden Bevölkerung bereits ausgeschlossen sind, von deren Rest die Hälfte nicht an den Abstimmungen teilnimmt. Denn das Resultat sei zu respektieren, schließlich sind diese sogenannt direktdemokratischen Entscheidungen das Auszeichnungskriterium des schweizerischen politischen Systems. Diese Form der Entscheidungsfindung und vor allem die Entscheidungen, die daraus resultieren, dürfen gemäß „volksgläubiger“ Argumentation nicht in Frage gestellt werden. Dass sich diese so festgesetzt hat, ist übrigens durchaus als ‚Erfolg’ der SVP zu werten, da sie die Unangreifbarkeit der Abstimmungsmehrheit durch einen pseudo-antielitären Diskurs seit mehreren Jahrzehnten propagiert. Was hat es nun aber auf sich mit der Verbindung von direkter Demokratie, einem ausgeprägten ökonomischen und politischen Libe34 2 Vgl. Vox-Analyse 114 des gfs.bern, 10.04.2014 3 Wie es in Griechenland oder Spanien zumindest teilweise der Fall ist, wobei sich die Frage stellt, welche Rolle antirassistische Positionen innerhalb linker Bewegungen in Europa spielen, s. z.B. Bündnis von Syriza mit ANEL (vgl. die Artikel zu Griechenland und Spanien in dieser Ausgabe). ralismus und rassistischen Strukturen in Politik und Gesellschaft? Nach der Abstimmung gingen die Erklärungsversuche gemeinhin in eine Richtung. In ihrem Zentrum steht eine von Angst vor dem sozialen Abstieg geprägte (untere) Mittelschicht, „die Verlierer der offenen, fortschrittlichen Schweiz“, die sich gegen die Konkurrenz aus dem (europäischen) Ausland richten, und diese Angst sei ausgelöst durch sogenannten „Dichtestress“ in vollen Pendlerzügen, durch die Verdrängung aus den Städten in die Agglomerationen, die wiederum durch die steigenden Immobilienpreise etc. bedingt ist. Aus einer Untersuchung zum Abstimmungsverhalten lässt sich vor allem eine starke Verbindung zwischen Einkommen und Bildung und der Annahme bzw. Ablehnung der Initiative ausmachen.2 Aber was sollen wir aus diesen in den Medien weitherumgereichten Resultaten aus einer Meinungsumfrage schließen? Heißt das, dass die angeblich bildungsfernen und sozial unteren Schichten rassistisch sind und somit verantwortlich für diese Politik? Bestimmt nicht. Eine mögliche Erklärung könnte sich auf das Fehlen einer starken linken Bewegung stützen, die den Unmut hätte aufnehmen und in eine solidarische linke Politik ummünzen können.3 Wobei sich dann die Frage nach den Gründen für die Abwesenheit einer solchen Bewegung anschließen müsste. Ohne direkt darauf einzugehen, versucht dieser Text an diesem Punkt einzuhaken, nicht um eine schwache Linke für die Situation verantwortlich zu machen (denn linke Kämpfe gab und gibt es auch jetzt), sondern um das „System“ Schweiz etwas genauer zu beleuchten und darin nach Zusammenhängen zu suchen, die die Verbindungen von Rassismus und den politischen und ökonomischen Strukturen offenlegen. Als Reaktion auf das Abstimmungsresultat vom 9. Februar 2014 gründete sich unter anderem die Operation Libero. Wie einflussreich oder weitreichend dieser Thinktank (von Bewegung, wie sie sich selbst bezeichnen, kann nicht gesprochen werden) außerhalb einer bildungsbürgerlich geprägten, städtischen, akademischen Schicht ist, sei dahingestellt. Es wurde, vielleicht aus Mangel an Alternativen, in allen Mainstream-Medien darüber berichtet, und ihr ‚Manifest’ wurde weitherum abgedruckt, als Vorzeigebeispiel sozusagen. Interessant ist diese Gruppierung aber aus einem anderen Grund, und zwar, da sie exemplarisch darstellt, wie und wo das Problem der Verbindung von Rassismus und Ökonomie im schweizerischen Kontext verortet werden kann. Auf ihrer Webseite beschreibt sie sich wie folgt: „Operation Libero versteht sich als politische Bewegung, die sich für eine weltoffene und zukunftsgewandte Schweiz einsetzt. Eine Schweiz, die ein 35 4 Volksinitiative aus dem Jahre 2000, mit dem Ziel, den Anteil von Personen mit ausländischem Pass auf 18% zu begrenzen. Sie wurde abgelehnt. Chancenland ist und kein Freilichtmuseum. […] Die Operation Libero setzt sich ein für eine Schweiz, die Chancen bietet und Freiheiten schützt. Eine Schweiz, die Zuwanderung als Bereicherung erkennt und die ihre humanitäre Tradition hochhält. Eine Schweiz, die weiß, dass sie wegen, und nicht trotz ihrer Offenheit ein erfolgreiches Land ist. Wir wollen eine weltoffene, liberale, moderne und international vernetzte Schweiz.“ Zudem ist in ihrem Manifest zu lesen: „166 Jahre nachdem wir uns eine liberale Verfassungsordnung gegeben haben, droht das Land in eine vorliberale Vergangenheit zurückzufallen. [... ] Anstatt die Zukunft mit dem Geist von 1848 in Angriff zu nehmen, leidet die Schweiz an Selbstgefälligkeit, Besitzstandswahrung und Vergangenheitsromantik. Und kaum eine politische Kraft scheint fähig, sich gegen die Abschottungsgelüste zu stemmen.“ Anhand der Ausschnitte aus dem Manifest und ihrer Selbstbeschreibung lassen sich einige paradigmatische Aspekte dieses Diskurses erläutern. Als erstes Problem möchte ich die Gegenüberstellung von Fortschritt und Traditionalismus aufgreifen. Postuliert wird diesbezüglich, dass es eine Schweiz gibt, die in die Zukunft schaut, die „freiheitsliebend“ ist, „liberal, modern und international vernetzt“. Ebenso wird eine Offenheit gegenüber „Veränderungen“ vorausgesetzt, wobei eine sehr spezifische Form von Veränderung gemeint ist (Liberalisierung der Märkte). Demgegenüber wird eine Schweiz imaginiert, die sich in der Vergangenheit suhlt, die sich als Freilichtmuseum präsentiert, die sich gegen das „Fremde“ richtet, die traditionalistisch, isolationistisch und gegen „Veränderungen“ ist. Diese Gegenüberstellung basiert jedoch auf einem falschen Gegensatz, einer Differenz, die es in dieser Art nicht gibt und nie gegeben hat. Einerseits war der Traditionalismus immer auch Teil dessen, was die Operation Libero unter Fortschritt versteht (z.B. ihr Begriff von Freiheit), und andererseits ist die institutionelle Politik der Schweiz durch die Integration oppositioneller Parteien in das politische System geprägt, und somit von einer starken Konvergenz der politischen Parteien (vgl. die 18%-Initiative4 und deren Mitinitianten Philipp Müller, heute Parteipräsident der FDP, der ‚liberalen’ Partei). Dies geschieht nicht zuletzt als Folge der direkten Demokratie und des daraus resultierenden Konsensprinzips, worauf ich später zurückkommen werde. Für ihren Freiheitsbegriff bezieht sich die Operation Libero explizit auf 1848 und das Vermächtnis der ersten Bundesverfassung der Schweiz, die damals zur Gründung des Bundesstaates in Kraft getreten ist. Das liberale Erbe, das hier auf pathetische Art und Weise zu beschwören versucht wird, ist einem ideengeschichtlichen und 36 5 Vgl. Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012. 6 Eher anekdotisch lässt sich hier anfügen, dass gerade Henri Dunant, der Inbegriff der sogenannt humanitären Tradition der Schweiz (Gründung des IKRK), davor eine Kolonialgesellschaft in Algerien gegründet hatte und der Grund für sein Aufenthalt bei Solferino 1859 ein Treffen mit dem französischen Kaiser war, um über Landkonzessionen im französisch besetzten Algerien zu verhandeln. 7 Ich verwende hier dem historischen Kontext geschuldet bewusst nur die männlichen Formen. historischen Kontext entnommen, der vollständig ignoriert wird. Diese Form von Täuschung steht exemplarisch für den hiesigen politischen Diskurs, in dem sich die abstrakte Idee der individuellen Freiheit und eine daran gebundene Zweckrationalität als äußerst wirkmächtig erweisen. Es ist eine Anrufung an eine einerseits abstrakte und andererseits individualistisch ausgelegte Freiheit, und wenngleich in dem Zusammenhang meist von negativen Freiheiten gesprochen wird, ist es vor allem die Freiheit der Besitzenden, des Eigentums, und jener mit den richtigen Papieren. Die Bedingungen dafür werden vollständig außer Acht gelassen. Es wird diese glänzende Oberfläche deutlich, mit der sich die Schweiz sowohl gegen Innen als auch gegen Außen repräsentiert, unterhalb derer die materiellen Konflikte in den Hintergrund gedrängt oder komplett negiert werden (z.B. die Schweiz als Hort von Steuerfluchtgeldern aus der ganzen Welt oder als Steuerungszentrum des Rohstoffhandels). In dem liberalen Gebilde geht es nicht nur um fehlende Materialität, sondern um eine noch größere „Leerstelle“: Die Freiheit von 1848 ist in erster Linie die Freiheit des weißen (besitzenden) Mannes. Der Liberalismus als philosophische, politische und ökonomische Denkrichtung ist von Aus- und Abgrenzungen geprägt, was sich auch in der Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Allen voran zeigt sich diese Schlagseite des Liberalismus in der anderen, der „düsteren“ Seite der Moderne, der Aufklärung, des Fortschritts: Kolonialismus, Sklaverei sowie die Entwicklung und Einschreibung eines rassistischen Denkens. In der Schweiz, die als Staat keine kolonialen Ansprüche geltend machte, wurde diese andere, finstere Seite lange ignoriert. Wie jüngere Studien zur „postkolonialen Schweiz“ zeigen,5 ist die Schweiz auf unterschiedlichen Ebenen Teil dieser europäischen Geschichte. Es geht einerseits um ökonomische Verflechtungen von Akteuren6 aus der Schweiz (vom Söldner bis zum Unternehmer),7 aber auch um kulturelle Praktiken (von den Völkerschauen bis zum „Mohrenkopf“) und nicht zuletzt, aber umso wichtiger, um heutige Formen des Rassismus. Das vermeintliche Nicht-Betroffen-Sein wird wiederum exemplarisch, wenn ein weiterer Aspekt aufgegriffen wird, und zwar die Neutralität, mit der sich die Schweiz rühmt, sich von (bewaffneten) Konflikten zwischen anderen Staaten fernzuhalten (wobei Waffenlieferungen schweizerischer Rüstungsfirmen explizit nicht als notwendiger Bestandteil dieses „Fernhaltens“ gesehen werden). Die Neutralität, sowohl als nationaler (Gründungs-)Mythos als auch als (in einer spezifischen Form) effektiv praktizierte Politik hat aber vielmehr dazu geführt, dass sich die 37 8 Diese Argumentation wird in einer durchaus ambivalenten Art und Weise auch in anti-rassistischen Kämpfen augenommen, vgl. den Slogan „ohne uns geht nichts“ in einem Manifest der Organisation Solidarité sans frontières aus dem Jahr 2009. 9 Ich sehe das Zusammengehen von marktliberalen Positionen und rassistischer Politik, wie sie die SVP vereint, nicht als Widerspruch. Das GegenArgument, dass die Masseneinwanderungsinitiative der Wirtschaft ‚schadet‘, ist noch kein Argument dafür, dass die SVP nicht doch kapitalistisch-ökonomistische Positionen vertritt, So wird z.B. die freie Zirkulation von Kapital nicht in Frage gestellt. Schweiz als scheinbar homogenes Gebilde gegen Außen abzugrenzen vermochte, und zwar in dem Sinne, dass diese in der Schweiz sogar als eine Form der Selbstermächtigung, als Form der politischen Subjektivierung gegen „das Andere“, das „Außen“, das „Fremde“ gelesen bzw. auch bewusst in diese Richtung instrumentalisiert wird. Hier sind auch die Debatten, die derzeit um das 500-jährige Jubiläum der Schlacht von Marignano als Gründungsmythos für die Schweizer Neutralität geführt werden, aussagekräftig. Damals standen kämpfende Eidgenoss_innen auf einem Schlachtfeld südlich von Mailand dem französischen König gegenüber und mussten (oder wollten – je nach Interpretation) sich geschlagen geben und zurückziehen. An der Selbstbeschreibung der Operation Libero lässt sich auch eine starke Präsenz eines Nützlichkeitsbegriffs feststellen, der bei der Debatte um Migration sehr oft ins Feld geführt wird (vgl. die Argumentation zur Schweiz „als erfolgreiches Land“ in der oben zitierten Selbstbeschreibung).8 Es geht in erster Linie um ökonomische Verwertbarkeit, ökonomisch getriebene Kalkulierbarkeit von Kosten und Nutzen. Dahinter liegt aber ein unbegrenzt ausdehnbares Nützlichkeitsparadigma, das sich z.B. auch in Debatten um sozialpolitische Anliegen zeigt. Begleitet wird dieses von einer ausgeprägten Verbindung der Figur des Individuums mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“. Es ist also eine Nützlichkeit, die nicht nur der politisch-ökonomischen Ebene eingeschrieben ist, sondern eine Rationalitätsmaxime, die jede/r für sich selbst zu erfüllen hat, geknüpft an die jeweilige „eigene“ Freiheit. Und auch hier wird in erster Linie wieder vom besitzenden, weißen Mann mit den richtigen Papieren ausgegangen (vgl. z.B. die Debatten um die Einführung des Frauenstimmrechts vor knapp 40 Jahren oder einer allgemeinen Mutterschaftsversicherung vor 10 Jahren). Letztlich schlägt sich dies in einer konkreten Politik nieder, die einerseits von ökonomisch-politischem Opportunismus gekennzeichnet ist, andererseits jedoch nur im Zusammenhang mit rassistischen Einschreibungen verstanden werden kann. Der ökonomischpolitische Opportunismus tendiert dazu, seine Verwicklung mit einem „genuinen“ Rassismus zu verdecken.9 Ein wichtiges Beispiel dazu sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und Südafrika während des Apartheid-Regimes (1948-94). Unter dem Deckmantel der Neutralität und unter Anrufung der Wirtschaftsfreiheit hat sich die Schweiz den internationalen Sanktionen widersetzt und während dieser ganzen Periode intensive politische und vor allem ökonomische Beziehungen gepflegt. Noch erschreckender ist die Art und Weise, wie im Anschluss mit der Aufarbeitung umgegangen wurde. Obwohl 2000 ein nationales 38 10 Vgl. die Berichte zum Nationalen Forschungsprogramm (NFP) 42+ des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Die Archivsperre wurde erst kürzlich aufgehoben (Juni 2014). Forschungsprogramm zur Untersuchung dieser Beziehungen ins Leben gerufen wurde, verfügte die Regierung 2003 auf Druck von Banken und großen Unternehmen und vor dem Hintergrund drohender Sammelklagen in den USA per Notrecht eine Archivsperre und behinderte so massiv die Recherchen.10 Auffallend dabei ist: Es ist ein ökonomischer und politischer Liberalismus, der begleitet wird von einer totalen, und auch quasi natürlich erscheinenden Verflechtung von Ökonomie und (institutioneller) Politik. Anstatt diese Verflechtung aufzudecken wird ihr jedoch, und dies auf eine äußerst wirkmächtige Weise, eine falsche Gegenüberstellung von Politik und Ökonomie entgegengehalten. So ist dann jede Einschränkung, die scheinbar vom „Staat“ kommt, eine Einwirkung auf diese individuelle, abstrakte Freiheit. Und die Ökonomie wird zum Garant, um dies zu verhindern. Das Problem, wenn überhaupt, wird einem zu mächtigen Staat zugeordnet, der die wirtschaftliche und individuelle Freiheit einschränken könnte (vgl. z.B. die Ablehnung der von der christlichen Gewerkschaft Travail.Suisse lancierten Initiative für sechs Wochen Ferien 2012). Nun aber zum direktdemokratischen System. Dies basiert auf Vorläufern, die bereits vor 1848 in einzelnen Kantonen in Kraft waren. Nach und nach wurden das Verfassungsreferendum (1848), das Gesetzesreferendum (1874) und die Verfassungsinitiative (1891) auf Bundesebene eingeführt. Über Auswirkungen und die Rolle dieser Instrumente kann sehr viel gesagt werden. Ich greife drei Aspekte auf: einerseits die daraus resultierende Konsens-und Konvergenzmaschinerie, die sich auf das gesamte politische Spektrum bezieht, zweitens die Unmöglichkeit, auf dieser Grundlage linke Anliegen durchzusetzen, und zuletzt den Zusammenhang mit der Frage der Repräsentation. Die direktdemokratischen Instrumente haben auf institutioneller Ebene dazu geführt, dass nach und nach oppositionelle Strömungen in die repräsentative Demokratie einverleibt wurden. Dies geschah zuerst jeweils durch die Eingliederung ins Parlament und dann in die Regierung, da Gruppierungen, die „referendumsfähig“ sind, die Politik durch die Androhung von Referenden mitbestimmen können. In den letzten 50 Jahren hat dies vor allem zu einer Verschiebung nach rechts und der Verbreitung von rassistischer und anti-migrantischer Politik geführt. Die entstandenen Maximen des Konsenses und des Kompromisses verschleiern so politisch-materielle Konflikte, die erst gar nicht zur Sprache kommen. Das Problem kann auch nicht dadurch gelöst werden, dass die Grundfreiheiten verfassungsrechtlich gestärkt würden (wie es z.B. die Operation Libero vorschlägt), auch wenn das im Konkreten 39 die verheerenden Auswirkungen gewisser Vorlagen etwas beschränken könnte. Obschon die direktdemokratischen Instrumente helfen mögen, linke Themen überhaupt zur Diskussion zu stellen, sind Anliegen, die Kapital und Eigentum in Frage stellen sowie Arbeit und Umverteilung zum Thema haben, an der Urne jeweils komplett chancenlos. Eine Ausnahme bilden umweltpolitische Anliegen oder teilweise Gesetzesreferenden, wie z.B. die gewonnene Abstimmung gegen eine Revision der Altersvorsorge im Jahr 2004. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch Abstimmungskämpfe in erster Linie rassistische Positionen eine sehr große Sichtbarkeit erhalten, und das auch immer noch unter dem Deckmantel der demokratischen Legitimation. Ebenso ist nicht zu vergessen, dass jeder Abstimmungskampf die Aufwendung beträchtlicher finanzieller Ressourcen bedingt und nur schon dadurch ein großes Ungleichgewicht herrscht. Das „Hängen“ an diesen „Volksrechten“ und die damit einhergehende Verlangsamung und Zähmung führen zu einer Blockade der Linken und verhindern die Entstehung jedes politischen Moments. In diesem Zusammenhang stellt sich zentral auch die Frage der Repräsentation, denn gerade durch die direktdemokratischen Verfahren werden die Ausschlussmechanismen, die diesem System inhärent sind, auf eindeutige Art und Weise sichtbar. Eine ausschließende, selbst aber durch Konsens und durch direktdemokratisch legitimierte Homogenisierung geprägte „Mehrheit“ verstärkt die Ausschließung auf doppelte Weise, einerseits durch das Verfahren an sich und andererseits durch die daraus hervorgehenden Entscheidungen. So hat es bis 1971 gedauert, dass eine (männliche) Mehrheit zugestimmt hat, den Frauen das Wahl- und Stimmrecht zu erteilen. Im Kanton Appenzell Innerrhoden wurde dieses Recht erst 1990 eingeführt, nachdem Frauen vor dem Bundesgericht geklagt hatten. Die Operation Libero hat den einen Aspekt des Problems erkannt, nämlich die Nicht-Repräsentation eines Viertels der in der Schweiz lebenden Bevölkerung, und so spricht sie sich für die repräsentativ-demokratische Einbindung aller in der Schweiz wohnenden Personen aus, unabhängig vom Pass (ein Anliegen, das jedoch an der Urne, außer in ein paar wenigen französischsprachigen Gemeinden, wo das bereits der Fall ist, absolut keine Chancen hat). Jedoch tun sie das unter dem Stichwort „no taxation without representation“, was aufhorchen lässt, denn dieser Slogan wurde von den britischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste im Kampf um die Unabhängigkeit gegen das britische Mutterland verwendet. Damals hatten als „Indianer“ verkleidete Bostoner Bürger im dortigen Hafenbecken die Teeladungen englischer 40 Schiffe ins Wasser gekippt, mit dem Ziel, ihre Freiheit und politische Repräsentation zu erwirken – diese Form der Verkleidung bleibt jene des weißen Mannes vor dem weißen Mann. Indem die Infragestellung des vorab gegebenen politischsozialen Körpers verhindert wird, führt das direktdemokratische System somit dazu, dass um das Prinzip des Konsenses herum Politik im Sinne konflikthafter Auseinandersetzung verunmöglicht wird. Vor dem Hintergrund dieser klebrigen Gemengelage von verdeckten ökonomischen Interessen, Konsens statt Politik und den direktdemokratischen Mechanismen als Trigger für rassistische Diskurse, ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff Rassismus im öffentlichen Diskurs in der Schweiz wenig präsent ist – vielmehr ist von Fremdenfeindlichkeit die Rede, eben von der Fremdenfeindlichkeit jener, die nicht am „Fortschritt“ und der „Öffnung“ der Schweiz partizipieren können. Rassismus wird so auf ein klassenspezifisch markiertes und individualisiertes Problem reduziert, das kapitalistische Interessen genauso verdeckt wie das Phänomen eines Rassismus der mehrheitlichnormalisierenden Mitte. Die Tatsache, dass Rassismus dem liberalen Selbstverständnis und den politischen Institutionen eingeschrieben ist, wird damit verschleiert. Eine rassistische Logik, gepaart mit einem ausgeprägten politischen und ökonomischen Liberalismus – dies macht die Schweiz aus, aber ohne dass das eine auf das andere reduziert werden kann und auch ohne dass sie voneinander zu trennen wären. ☁ 🚀 Nina Bandi ist Philosophin und arbeitet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Begriff der Repräsentation im Kontext von Politik und Kunst. 41 Juri Scha den & Sophie Uitz Keine Perspektive Skizzen zum Abschiebeknast Vordernberg 🏭 Arbeitsplatz Schubgefängnis Wer den Wohnsitz nach Vordernberg in die Steiermark verlegt, bekommt seit Juli 2014 500 Euro Begrüßungsgeld von der Gemeinde. Es ist der Versuch einer Werbeaktion, zählt Vordernberg doch zu den am stärksten von Abwanderung betroffenen Regionen Österreichs. Das Dorf liegt in einem engen, abgeschiedenen Tal, umgeben von industriellen Ruinen und Relikten. Als Vordernberg noch ein Zentrum der Stahlindustrie war, umfaßte die Gemeinde dreimal so viele Bewohner_innen wie heute. Über Jahrhunderte wurde das aus dem steirischen Erzberg gewonnene Erz in mit Holzkohle betriebenen Hochöfen zu Roheisen verschmolzen und als veredelter Rohstoff weiter verkauft, bis die Vordernberger Öfen technologisch mit den koksbefeuerten Anlagen des benachbarten Leobens nicht mehr konkurrieren konnten. Erzimporte aus billigeren Abbaugebieten und die zunehmende Mechanisierung des Bergbaus trugen ebenfalls dazu bei, dass immer mehr Arbeitsplätze verschwanden und viele Menschen wegzogen. 2014 wurde in der Gemeinde ein Schubgefängnis eröffnet. Die Aussicht auf bis zu 200 neue Arbeitsplätze hatte den Anstoß dafür gegeben, sich beim Innenministerium als Standort zu bewerben. Das Gefängnis wurde als wirtschaftlicher Hoffnungsträger und Beitrag zur Lösung der mittlerweile chronischen Abwanderung präsentiert. Nach Erteilung des Zuschlags verzögerte sich die Realisierung aufgrund der Entdeckung einer unter Naturschutz stehenden Kolonie der roten Waldameise am designierten Gefängnisgelände. 42 43 44 Diktion der Verdrängung In einer Pressemitteilung des Innenministeriums hieß es zur Lage des Gefängnisses am Ortsrand, dass diese gewählt wurde um „eine für das Gemeinwohl verträgliche elementare Vollziehung der Schubhaft zu garantieren.“ Am Rand des Dorfes und somit am Rand der Gesellschaft sitzen Menschen ausgegrenzt und eingezäunt in Vordernberg ihre Schubhaft ab. Ausgegrenzt wird damit auch das Bewusstsein um die systematischen Illegalisierungen, Inhaftierungen und Abschiebungen von Menschen, die in ganz Europa tagtäglich an den Rändern der gesellschaftlichen Wahrnehmung vollzogen werden. Im Abschiebeknast Vordernberg manifestiert sich dies in einer in architektonischen Zynismus gegossenen Diktion der Verdrängung. Diese tritt schon dann zutage, wenn das zuständige Architekturbüro Sue die intendierte Wirkung ihres Gefängnisbaus beschreibt: „Obwohl alle geforderten Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, tritt das Gebäude nicht als Strafgefängnis in Erscheinung.“ Das Juryprotokoll des Architekturwettbewerbs hebt lobend hervor, dass es „als Gebäude in gewohnter Typologie“ die Straßenansicht prägt und „Normalität“ vermittelt. Mit gläserner Vorderfront, Seekiefer-Paneelen, lichtdurchfluteter Atmosphäre und einer Architektur, die sich selbst als modern und humanistisch bezeichnet, wurden in Vordernberg keine Mühen gescheut um das Wissen darüber zu verdrängen, dass es sich bei dem schmucken Neubau um ein Gefängnis handelt, dessen alleiniger Zweck es ist, Menschen einzusperren, auszugrenzen und abzuschieben. In einer Pressemitteilung der privaten Sicherheitsfirma G4S Secure Solutions AG wird das Leben (und die Arbeit) im Schubgefängnis zur ländlichen Urlaubsidylle verklärt: „Die Angehaltenen in Vordernberg fühlen sich in den Händen unserer MitarbeiterInnen bestens aufgehoben.“ Offener Vollzug, Freizeitangebote und ein Foto von lachenden „Angehaltenen“, verstärkt durch die Abbildung eines in arabischer Schrift verfassten Briefs eines Gefangenen, der sich laut Übersetzung beim Management für die „großartige Betreuung“ bedankt. Der Betrieb des Gefängnisses ist an G4S ausgelagert, womit in Vordernberg das erste privat geführte Schubgefängnis Österreichs steht. Für G4S ist der Betrieb von Gefängnissen nichts Neues. G4S ist eine international agierende Firma, die seit Anfang der 1990er Jahre weltweit die Arbeit von Militär und Polizei ergänzt. Sie ist bekannt für schlechte Besoldung ihrer Mitarbeiter_innen und deren Prekarisierung. 45 46 47 🚀 Juri Schaden lebt in Östereich. 🚀 Sophie Uitz ist freischaffende Theoretikerin und lebt in Wien. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation über Gewalt- und Autoritätskritik Gefangene zählen Abschiebung, Ausschaffung – Deportation? Möglichst frei von Konflikt und Bedenken versucht die Sprache der Behörden aufzutreten, die lieber von Rückführungen, Ausweisungen oder Überstellungen spricht, sofern nicht in euphemistischer wie zynischer Weise von freiwilliger Ausreise die Rede ist – deren suggerierte Freiwilligkeit darin besteht, sich für die sofortige Ausreise bei ansonsten drohender Schubhaft oder Illegalisierung zu entscheiden. Die neutralisierte und neutralisierende Sprache der Abschiebebehörden trägt zur Verdrängung des Zwangscharakters jeder Abschiebung und der ihr vorausgehenden Schubhaft aus dem Bewusstsein bei und war auch in Vordernberg von Anfang an am Werk. Vom neuen Abschiebeknast wird offiziell als „Anhaltezentrum“ (AHZ) gesprochen, der öffentliche Diskurs um das „AHZ“ adressierte in den Jahren der Planung und des Baus nur selten die Tatsache, dass es sich dabei um ein Gefängnis handelte. Seine Beziehung und Bedeutung für den Ort erhielt der Knast erst über seine Funktion als wirtschaftlicher Betrieb, der das Gemeindebudget durch Gemeindeabgaben und Kommunalsteuern aufbessert und neue Arbeitsplätze und Perspektiven für die Region schafft. Das Gefängnis nicht als Ort des gesellschaftlichen Strafens und Disziplinierens, des Ein- und Wegsperrens, sondern primär als wirtschaftlichen Betrieb begreifend, werden die Gefangenen auch sprachlich schnell zur Ware reduziert, die vor ihrer Überstellung verwaltet, verwahrt und gezählt werden muss. Gefangene heißen dann Angehaltene, die nicht eingesperrt sind, sondern verwahrt werden; Illegalisierte werden zu Ausreisepflichtigen, deren Inhaftierung nicht mehr als ein Sicherungsmittel ist. In der Logik des Zählens und Verwahrens zählen diejenigen, die inhaftiert sind, denn für jede_n gemeldete_n Gefangene_n bekommt die Gemeinde Geld im Rahmen des österreichischen Finanzausgleichs. Das Ineinandergreifen der Ökonomisierung von Migration mit dem sich in Vordernberg sprachlich und baulich manifestierenden Abdrängen in die kapitalistische Logik und Logistik, knüpft daran an, was in dieser Ausgabe auch Stefano Harney als „Urmoment der Logistik im Kapitalismus“ bezeichnet und Tyna Fritschy am Beispiel des Organhandels im Kontext kapitalistischer Logik diskutiert: Hinter der normalisierend wirken sollenden Glasfassade des Gefängnisses werden Flüchtlinge und Migrant_innen auf ihre zählbaren Körper reduziert und zur Ressource im kapitalistischen Warenfluss degradiert. Als Gefangene sind sie in den ersten Monaten nach der Eröffnung dennoch in Erscheinung getreten: Gleich mehrere Ausbruchsversuche aus dem Neubau wurden bekannt – zum Teil waren sie erfolgreich. ☁ 48 49 Niki Kuba czek Papiere teilen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gemeinsamen vor dem Hintergrund der Proteste gegen Politiken der Illegalisierung „Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst mit deinen FreundInnen teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir kämpfen müssen, werden 1 Muhammad, Numan. wir zusammenkommen, und es wird kraftvoller sein.“1 2013. Das Land ist für uns alle gleich. Gespräch mit Numan, geführt von Bue Rübner Hansen. Übersetzt von Manuela Zechner. http://transversal.at/transversal/0313/numan/de 2 Asyl Strike Berlin. 2012. Demo Flyer. http://asylstrikeberlin.files.wordpress. com/2012/08/2303-2013-demo-flyer-longenglish.pdf 🚴 Wie kann Teilen als politische Möglichkeit statt als romantische, gewaltblinde Figur hörbar gemacht werden? Wie also können die radikalen Unterschiede in den Lebensbedingungen und die Unmöglichkeiten des Gemeinsam-Werdens, die vorherrschende Verteilung von Rechten, Ressourcen und Möglichkeiten genau als die Bedingungen der Möglichkeit des Gemeinsamen verstanden werden? Verkettete Protest-Ereignisse „Lagers are often located in the middle of nowhere. No one sees us, we cannot see anyone. No one hears us, we cannot hear anyone. No one talks to us, we cannot talk to anyone! We are invisible.“2 Am 29. Jänner 2012 bringt sich Mohammad Rahsepar in seinem Zimmer im Würzburger Flüchtlingslager um. Darauf folgt ein kollektiver Hungerstreik im Zentrum von Würzburg und im März 2012 breiten sich die lokalen Platzbesetzungen von Refugees, Geflüchteten und Lagerbewohner_innen in Deutschland aus. Im September 2012 beginnen Refugee-Aktivist_innen zusammen mit nicht-illegalisierten Aktivist_innen einen 600km langen Marsch von Würzburg nach Berlin, wo sie am 7. Oktober ankommen und den Oranienplatz besetzen. Während Proteste in Ungarn, Italien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Schweden und entlang der EUAußengrenzen stattfinden, kommen am 24. November 2012 mehrere hundert Menschen im Wiener Sigmund-Freud-Park an, die gemeinsam die 35km vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien gegangen sind. Einige bleiben über die Nacht im Park, denn das Versprechen, dass der Park nicht „geräumt“ wird, besteht nur bis morgen. „Aber können Sie uns bitte nicht doch ein kurzes Interview geben, wir brauchen jemanden, der Deutsch spricht.“ Wer spricht wann im Plenum, wie tun mit den Übersetzungen, welche Sprachen werden überhaupt gebraucht? Mit welchen Methoden sollen gemeinsame Forderungen beschlossen werden und wer verteilt wie das Geld für die Badner-Bahn-Tickets? Viele müssen sich jeden zweiten Tag in Traiskirchen melden; heute hat wer gesagt, es ist jetzt auf einmal jeden Tag. Sonst fliegst du aus der Grundversorgung. 40 € im Monat. Ich muss mich nicht melden in Traiskirchen, werde auch 50 nicht abgeschoben. Kann mir hier nicht passieren. Radikale Unteilbarkeit. Radikal unterschiedliche Einsätze. Dass der Park nicht von der Polizei attackiert wird, gilt jetzt doch bis morgen. Die Zelte können also noch stehen bleiben. Gute Nacht. Gute Nacht? Durch deren Stattfinden erreichten die Protestmärsche, Platzbesetzungen und Organisierungsprozesse eine Medienpräsenz, die es zumindest für eine Weile erlaubte, die Lebensbedingungen und die Forderungen der Lagerbewohner_innen und Illegalisierten breit und massenmedial sichtbar zu machen. Den Protesten gelang es, die Medien dazu zu bewegen, auch andere Bilder von Migration und dem Begehren anzukommen, zu zeigen: Nicht mehr nur als Kriminelle oder als zu bemitleidende Opfer tauchten die illegalisiert-Gereisten hier und dort in den Mainstream-Medien auf, sondern auch als Subjekte, die sich artikulieren und organisieren. Auf die vielen und lauten Forderungen nach besseren Lebensbedingungen für Menschen ohne EU-Pass wurde von staatlicher bzw. europäischer Seite aber lediglich mit Repression, repressivem Schweigen und Sich-Taub-Stellen geantwortet. „Warum fragst du ihn um seinen Ausweis, mich aber nicht?“ „Einfach so.“ Wie reagierten die Proteste auf das vorherrschende Schweigen, was konnten sie den vorherrschenden Aufteilungen entgegenbringen? Was konnten sie andeuten, skizzieren? Auf welche Möglichkeiten des gemeinsamen Kämpfens und Lebens haben sie verwiesen, und auf welche Verhältnisse zwischen den Möglichkeiten und den Verunmöglichungen? Wie tun mit dem Umstand, dass viele der Protestierenden darauf angewiesen waren, nicht aufzufallen – im Lager, auf der Strasse, in den Datenerfassungsprogrammen. Angewiesen auf die Kunst und das Vermögen, unsichtbar zu werden – Sichtbarkeit, gesehen und erfasst werden, in vielfacher Weise alles andere als eine Errungenschaft, sondern sich der Einsperrbarkeit und Abschiebbarkeit aussetzen. Bedingung wie Folge der Proteste war ein Austausch zwischen denen ohne bzw. mit „falschen“ Papieren und denen, die die „richtigen“ Papiere besitzen. Dieser Kontakt zwischen Illegalisierten und denjenigen, denen hier Bürger_innenrechte gegeben wurden, steht einer strukturellen Verunmöglichung gegenüber: Durch die Isolation in abgelegenen Lagern oder privatgeführten Unterkünften, die sich als Gaststätten nicht mehr gelohnt haben. Durch Repräsentationspolitiken des Othering. Durch die meist radikal unterschiedlichen Alltagsverläufe, die der Beschäftigung von Illegalisierten und Migrant_innen in unsichtbaren, prekären und extrem unterbezahlten Jobs bzw. der Tätigkeit in kriminalisierten Ökonomien folgen. Durch die Normalisierung und 51 3 Germaine, Amine. 2013. Der Mann ohne Chancen. Gespräch mit Amine, geführt von Lisbeth Kovacic und Birgit Mennel. Übersetzt von Birgit Mennel. http://transversal.at/ transversal/0313/amine/de 4 Spivak, Gayatri Chakravorty. 2008. Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übersetzt von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Wien: Turia+Kant. S.53. 5 (S.74) Naturalisierung dieser Auf- und Ein-Teilungen. Der Nationalstaat marginalisiert also nicht nur räumlich und ökonomisch, indem er Menschen in abgelegene Gegenden verlegt, ihre Arbeitskraft illegalisiert und so noch effektiver ausbeutbar macht, sondern er bringt auch und genau dadurch die Stimmen der Marginalisierten zum Schweigen: Ihre Lebensbedingung werden unsichtbar gemacht sowie auch die staatlichen Praxen der Aus- und Einteilung. Der Kontakt zwischen Illegalisierten und denen, die als „von hier“ gelten, wird vielfach verunmöglicht. Die Stimmen, die vom Umgang mit der Gewalt und von den Überlebensstrategien erzählen könnten, werden unhörbar gemacht. Der Austausch und die Verkettung mit Menschen, denen hier vermeintlich natürlich Rechte und Ressourcen zukommen, be- oder verhindert. Gleichzeitig mit diesen mannigfaltigen, festen und weniger festen Verunmöglichungen, vorherrschenden Auf- und Einteilungen existiert aber das Vermögen, sich zu widersetzen, sich der Kontrollmechanismen zum Trotz zu bewegen, zu vernetzen und Grenzen zu überschreiten. „An der Grenze zwischen Serbien und Ungarn hat mich die Polizei aufgehalten. Weil ich in Ungarn nicht um Asyl ansuchen wollte, haben sie mich nach Serbien zurückgeschickt. Aber beim zweiten Versuch, nach Ungarn einzureisen, war ich dann erfolgreich.“3 Die Denormalisierung, Sichtbarmachung des Grenzregimes, der Nationalstaatlichkeit und deren Gewalt bedeutet auch, die Widerständigkeit, Autonomie der Migration gegenüber dem Grenzregime hörbar zu machen. Die Ambivalenzen des Zuhörens Wie kann die Widerständigkeit gehört werden, ohne von autonomen, heroischen, individuellen Subjekten auszugehen? Die Arbeit des Zuhörens, die Gayatri Chakravorty Spivak als Stimmhaft-Machen des Individuums4 und als Aufmerksamkeit für die andauernde Konstruktion der Subalternen5 umschreibt, ist von Ambivalenzen geprägt: Sie verweist auf ein Hinhören, Aufwerten, Wissen, Überlebensstrategien Anerkennen und impliziert gleichzeitig eine Verweigerung, die marginalisierten Stimmen zu homogenisieren, zu romantisieren, zu essenzialisieren und zu re-identifizieren. Es geht hier um eine Widersprüchlichkeit, die sich jedem Denken in Dichotomien entziehen möchtet: Den Stimmen der Marginalisierten zuzuhören heißt nicht, diese als autonom und von den Herrschaftsverhältnissen unabhängig vorauszusetzen. Dieses Zuhören heisst aber gleichzeitig, ihre Einzigartigkeit, die Kraft ihrer Singularität zu bemerken, durch die sie sich der universalisierenden Lesweise als Opfer, aber auch jener der heroisch-nomadischen Figur widersetzen. 52 Zuhören-Lernen bedeutet also die Vielstimmigkeit, Gleichzeitigkeit von Eingeschränkt-Sein und das Vermögen, sich der Einschränkung zu entziehen, zu hören. „Es gibt auf der einen Seite ein negatives Bild der MigrantInnen – als ausgebeutetes Subjekt, und auf der anderen Seite gewissermaßen ein positives Bild: MigrantInnen als kulturelle Avantgarde der Gegenwart, als diasporische Subjekte, ‚KosmopolitInnen von unten’. Ich 6 Mezzadra, Sandro. 2010. glaube, diese theoretische Polarität muss überwunden werden.“6 Autonomie der Migration – Kritik und Ausblick. Übersetzt von Martin Birkner. In Grundrisse. Zeitschrift für Linke Theorie und Debatte. Nr.34, S.22-29. S. 22 7 Kader, Simo. 2013. Ich lebe wie diese Tiere, die Fledermäuse … nur in der Nacht. Gespräch mit Simo, geführt von Birgit Mennel. Übersetzt von Stefan Nowotny. http://transversal.at/transversal/0313/ simo/de Wie Widerstand denken Widerständigkeit ist alles andere als ein heroischer, individueller Akt, sondern das lebendige Vermögen singulär und gemeinsam sich der Kontrolle und der Regierung zu entziehen. Die Widerständigkeit existiert also nur als im-Verhältnis-zu den Regierungstechniken, denen sie immer wieder zu entwischen versucht in der Erfindung neuer Überlebensstrategien. „Ich will ein ruhiges Leben führen. Aber hier in Europa muss ich es noch immer suchen, dieses ruhige und schöne Leben. Derzeit lebe ich wie diese Tiere, die Fledermäuse. Wie Tiere, die nur in der Nacht leben. Wenn ich die Polizei sehe, muss ich mir ständig die eine oder andere List ausdenken, damit ich nicht mit ihnen reden muss und die Kontrollen umgehe.“7 Die Autonomie der Migration liegt nicht in ihrer Unabhängigkeit, sondern im nicht-(völlig-)determiniert-Sein durch die Kontrollinstrumente: Das Vermögen, Wege zu finden, der Kontrolle auszuweichen, ihr zu entwischen, sie auszutricksen. Widerständigkeit ist das gelebte Angehen gegen Regierungsweisen, das immer gleichzeitig mit von Gewalt-betroffen-Sein, Schmerz und Handlungsvermögen, Potenzialität zu tun hat; eine Gleichzeitigkeit, die der Sprache vermutlich fortlaufend entwischen und ihr auf der Nase heru m tanzen wird. Vielleicht auch eine Gleichzeitigkeit, die der Sprache wie eine Karotte vor der Nase baumelt und sie so immer wieder aufs Neue zum Fortbewegen lockt. Konstruktionen und Ereignis des Gemeinsamen Manche besaßen Rückzugsorte, Schlafplätze, wo sie sich erholen konnten. Soziale und/oder physische Räume. Manche hatten wenig Zugang zu solchen Orten, andere noch weniger, wieder andere jetzt gerade für diesen Moment. Die vielen Proteste gegen die nationalstaatlichen und europäischen Illegalisierungspolitiken hätten sich nicht ereignen können, wäre da nicht das Begehren gewesen, die radikalunterschiedlichen Erfahrungen zu übersetzen, darauf zu beharren, gemeinsame Forderungen zu stellen, um ein wie auch immer fragmentarisches und unvollständiges Gemeinsames zu konstituieren. Formen des Zusammenseins und Formen des Dagegen-Seins. Judith Revel führt den 53 8 Revel, Judith. 2011. Das Gemeinsame konstruieren. Eine Ontologie. In Inventionen. Hrsg. Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig, S. 27-37. Zürich: diaphenes. S.29 9 Papadopoulos, Dimitris und Vassilis S. Tsianos. 2013 After Citizenship: Autonomy of migration, organisational ontology and mobile commons, In Citizenship Studies, Volume 17, Issue 2, S.178-196. Begriff des Gemeinsamen ins Feld, um einer allumfassenden Idee von Universalität etwas entgegenzuhalten. Die Konstruktion des Gemeinsamen siedelt sie inmitten der Dichotomie zwischen geschichtlichem Determinismus und menschlicher Erfindungskraft an, denn „wir haben es mit einem Pansch beider Modelle zu tun.“8 So wie die Migration der Kontrolle ausweichen kann und von ihr mitbestimmt ist, so ermöglicht sich das Gemeinsame trotz der Differenzen und ihnen entsprechend. Und so wie das Migrationsregime von der Regulierung der Formen der Sichtbarkeit abhängt, so ereignete sich fragmentarisch eine Hörbarkeit auf der Ebene der Massenmedien, den Regulierungen zum Trotz: Es war nicht ein bereits konstituiertes „Gehör“ der Massenmedien, das in Folge ermöglichte, die Stimmen, also die Forderungen, die Kritik und die Widerständigkeit der Illegalisierten, zu hören. Es war das Stattfinden der Artikulation und der Organisation allen Verunmöglichungen zum Trotz, das die Stimmen der Illegalisierten für einen gewissen Zeitraum in den Massenmedien hörbar werden ließ. So wie die Migration die Kontrollmechanismen zur Rejustierung zwingt, so nötigte das Sprechen-trotz-allem – als Ereignis – die Medien dazu, Bilder der Organisierung und der Artikulation der Illegalisierten zu zeigen – Bilder, die andeuten konnten, das etwas ganz grundsätzlich verkehrt läuft. Bilder, die womöglich das gegenwärtige Migrationsregime ein stückweit denormalisieren und denaturalisieren konnten. Und gleichzeitig hätte dieses Sprechen-trotz-allem, diese andere Form der Sichtbarkeit und der Hinweis auf mögliche Formen der Verkettung und des Gemeinsamen sich nicht so ereignen können, wäre ihm nicht eine lange, mannigfaltige und erkämpfte Geschichte um das Zuhören-Lernen in und jenseits antirassistischer Zusammenhängen vorher gegangen. Mobile commons, gemeinsames sich-Entziehen Entgegen einer individualisierten Vorstellung von Widerständigkeit beschreiben Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos9 die Autonomie der Migration genau als das Vermögen, Formen des Lebens jenseits der Regulierung der Migration hervorzubringen: Möglichkeiten, die in Netzwerken des Tausches von Ressourcen, Informationen und Affekten bestehen. Räume des Teilens, die sie die mobile commons nennen. Räume des Gemeinsamen, die es vermögen, sich der vorherrschenden Auf- und kapitalistischen Einteilung gegenüber immer wieder aufs Neue flüchtig zu verhalten. Mobile commons stellen eine Assemblage aus Affekten und Imaginationen der Bewegungsfreiheit dar, die sich mindestens so sehr den Regierungen der Migration entziehen, wie das die migrantischen Praxen als physische Bewegungen von Körpern im gerasterten Raum tun. 54 10 Negri, Antonio. 2011. Auf der Suche nach dem Common Wealth. In Inventionen. Hrsg. Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig, S. 38-53. Zürich: diaphenes. S.47. 11 Maghreb Arabisch für die, die ihre Papier verbrennen; aber auch im übertragenen Sinne, für die, die ihre Zukunft verbrennen, sich also aufs Ungewisse der Reise ohne fixe Ankunft einlassen. 12 Yassine Zaaitar, in: Enfin j’avais quitté le bled, aufenthaltsraum 2013. (Film, 23 min) 13 Refugee Tent Action. 2013. I rebel, therefore I exist. http://www.refugeetentaction.net/index. Die Autonomie der Migration können wir damit als Vermögen begreifen, sich dieser Begrenzung insofern zu entziehen, als sie immer wieder aufs neue soziale Netzwerke, affektive Bündnisse, Wahrnehmungsweisen und Imaginationsräume herstellen kann, welche der Beschränkungen des Migrationsregimes trotzen oder entfliehen können. In Erweiterung des Ansatzes von Papadopoulos und Tsianos, die die mobile commons nur zwischen Migrant_innen verorten, möchte ich vorschlagen, die Organisierungen und die mannigfaltigen Austauschprozesse der letzten Jahre, die als Refugee-, Non-Citizen- oder Flüchtlingsproteste stattfanden, als bzw. über die mobile commons zu begreifen: Fragmentierte und widerständige Räume, die von den singulären Erfahrungen der illegalisierten Migration ebenso abhängig waren wie auch umgekehrt. „Nichts würde sich konstituieren, wenn nicht das Gemeinsame den Singularitäten Sinn verliehe und wenn nicht die Singularitäten dem Gemeinsamen Sinn verliehen.“10 „Wir, die Harraga11 haben eine einzige Organisation: Ich kann mich selbst organisieren, ich kann meine Reise selbst organisieren.“12 Wenn die Autonomie der Migration im Gemeinsamen besteht, individualisiert und singulär überleben zu können, dann muss es darum gehen, von dieser Realität ausgehend ein anderes Gemeinsames zu schaffen, das ein Gemeinsam-Leben konstituieren möchte anstatt einem Gemeinsamen von Überlebensformen. „ … in order to transform our survival into actual living“13. Formen des verstetigenden Teilens entwerfen, die den Austritt aus dem Überleben und den Eintritt ins Leben möglich machen. Der Romantisierung der Überlebensfähigkeit entgegen muss es also darum gehen, die Möglichkeiten des Gehens und des Bleibens für alle zu schaffen. Praxis des Teilens, der Aufteilung und Rasterung von Nationalstaat und Kapitalismus, sich-widersetzend und ihnen-entwischend. Zuhören-um-zu-Antworten als Praxis des Teilens Wenn wir dieser Rasterung, Individualisierung etwas entgegensetzten wollen, dann heisst das nicht einfach diametral für eine möglichst allgemeine Veränderung zu kämpfen, sondern die Effekte der individualisierenden Illegalisierung, Wegsperrbarkeit und Abschiebbarkeit so weit wie möglich weiter zu teilen: Solange es das Grenzregime in dieser Form gibt, sind Kämpfe dagegen unter anderem auch immer Kämpfe um Papiere und ein besseres Leben für Einzelne. Denn das Gemeinsame kann nirgendwo anders erprobt und erfunden werden als in, in Ablehnung von und hinaus aus den gegenwärtigen sozialen Realitäten, die das Recht zu bleiben und das zu gehen immer noch nur individuell vergeben: Um das Leben Einzelner kämpfen als Kampf 55 14 Spivak, Gayatri Chakravorty. 2000. Translation as Culture In Paralax 6:1, S.13-24. London: Routledge. 15 Linda’s friends from planet10. 2014: Share your privileges. To be remembered: Linda Nkechi Louis. http://www.malmoe.org/ artikel/alltag/2856 16 Muhammad, Numan. 2013. Das Land ist für uns alle gleich. Gespräch mit Numan, geführt von Bue Rübner Hansen. Übersetzt von Manuela Zechner. http://transversal.at/transversal/0313/numan/de 🚀 Niki Kubaczek lebt in Wien. Er hat Soziologie studiert, studiert noch immer an der Akademie der Bildenden Künste und ist Teil von transversal texts. Die letzten Jahre haben ihn u.a. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Allianzen zwischen postkolonialer und postfaschistischer Kritik, zwischen antirassistischer und antifaschistischer Praxis beschäftigt. um ein gutes Leben für alle. Differenzen sehen, hören, übersetzen. „It is this act of hearing-to-respond that may be called the imperative to translate.“14 Formen der Übersetzung, die sich nicht linear und sukzessive entwickeln, sondern als Ereignisse des Gemeinsamen stattfinden. Formen der Hörbarkeit, die die Unterbrechungen und die möglichen Verbindungen sichtbar werden lässt. Manche kämpften und kämpfen um die Verbesserung der Bedingungen, unter denen sie gezwungen waren, ihr Leben zu organisieren. Manche gegen Bedingungen, die sie ZUM KOTZEN finden. Manche um bessere Lebensbedingungen ihrer Freund_innen. Die Proteste als Orte der Vernetzung können wir somit auch als kleine Raum-Glättungs-Maschinen verstehen, die der Verzögerung und Rasterung Vernetzungsmöglichkeiten entgegenhalten konnten; nicht als Lösung aller Probleme, sondern als Moment der teilweisen Beschleunigung: eher und früher ankommen können oder leichter und schneller abhauen können; Kohle, Kontakte und Infos zur Verfügung stellen, wenn wer sein Glück in Italien oder Deutschland versuchen möchte; Kohle, Kontakte und Infos zur Verfügung stellen, wenn wer ankommen möchte, einfach mal schlafen möchte. Wenn wir Migration nicht nur als Bewegung von autonomen Körpern im Raum begreifen, sondern versuchen, sie auch entlang ihrer Fähigkeiten der Vernetzung zu lesen und hier einen wesentlichen Aspekt ihrer Widerständigkeit verorten, dann kann das auch zur Möglichkeit werden, nichtidentitäre, transversale Assoziationen, Allianzen und Formen der Widerständigkeit zu imaginieren und diese zum Wuchern zu bringen. Das Migrationsregime und die Politiken der Illegalisierung zu denormalisieren heisst also ein Zuhören zu entwickeln und zu ermöglichen, das Gewalt und Widerständigkeit bemerkt, Differenzen nicht romantisiert, essenzialisiert oder reidentifiziert, sondern da-durch Formen des Gemeinsamen, des Zuhörens-um-zu-Antworten (er)findet: Praxis des Teilens verstetigt und weiter teilt. „With Linda this space learned that sharing privileges is a daily reinvented and developed political practice. With Linda this space learned about the political importance of differences in privileges – and that searching for ways to collectively struggle, fight, resolve, let it go unresolved and go on with what we agree is central.“15 „Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst mit deinen FreundInnen teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir kämpfen müssen, werden wir zusammenkommen, und es wird kraftvoller sein.“16 ☁ 56 Arbeiter_in aus der K.u.k. Monarchie, Proletarier_innen, Zwangsarbeiter_in, Gastarbeiter_in, „Tschusch“, Ausländer_in, Migrant_in, Saisonarbeiter_in, undokumentierte(r) Arbeiter_in. 🚀 Carlos Toledo ist Grafik Designer und Teil von Toledo i Dertschei. Das Plakat Arbeiter_in zeigt die Unmöglichkeit auf, ein antirassistisches Plakat zur Kontinuität der Überausbeutung in Österreich zu gestalten. 57 Christoph Brunner 1 Siehe Brian Massumi, „Fear (The Spectrum Said)“, in Positions 13:1 (2005), S. 32-47. 2 http://www.dhs.gov/ national-terrorismadvisory-system 3 Hito Steyerl verfolgt ähnliche Interessen in ihrer Arbeit zu Bildpolitiken. Siehe Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008. Insbesondere auch: Dies. „Das Reich der Sinne: Polizei-Kunst und die Krise der Sinne“, transversal (Juni 2007), http://eipcp. net/transversal/1007/steyerl/de sowie ihre Arbeit Red Alert auf der documenta 12. Die Farbe des Territoriums: Umwertung und existenzielle Territorien � Affektive Atmosphären der Angst Kalifornien befindet sich im Ausnahmezustand. Dieser wurde am 17. Januar 2014 vom kalifornischen Gouverneur aufgrund der anhaltenden Dürre ausgerufen. Das visuelle Pendant zur diskursiven Proklamation findet seinen deutlichsten Ausdruck in den territorialen „drought monitor“-Grafiken, die das Gebiet in Orange- und Rottöne einfärben. Es handelt sich um eine affektive Politik der Visualisierung, die die Bewohner_innen zur Partizipation und Wachsamkeit anhalten soll. Das Territorium wird zu einem sinnlich aufbereiteten Nährboden für eine Politik der Angst, wie sie spätestens seit der unter der G.W. Bush-Administration nach 9/11 eingeführten Terrorwarnskala Teil des US-Alltags ist. Von 2002 bis 2011 verwies die Farbskala auf den Status der nationalen „Sicherheit“ bzw. Unsicherheit im Bezug auf mögliche Terrorattacken.1 In beiden Fällen lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen sinnlicher Aufmerksamkeit, dem Aufruf zur Partizipation an der Sicherheit der Nation und der individuellen Verantwortung. So formuliert das Homeland Security Office auf seiner Website in der Sektion National Terrorism Advisory Board: “Das Board geht davon aus, dass alle Amerikaner [sic] die Verantwortung für die Sicherheit der Nation tragen”.2 Aufmerksamkeit, Partizipation, Verantwortung – so lautet die Diktion einer Regierungsform, die den möglichen eintretenden Ernstfall vorwegzunehmen versucht. Im Folgenden geht es um die Einfärbung von Territorien und deren affektive Wahrnehmungspolitik. Partizipation wird zu einem logistischen Instrument, das territoriale Setzungen mit einer Verteilung von Angst und Verantwortung zusammenbringt. Es ist diese logistische Form der Moral, die in ihrer bildlichen Abstraktion Territorien eingrenzt und mit einer bestimmten Wertigkeit, eben der Sicherheit, verknüpft.3 Innerhalb dieser sinnlichen, logistischen Kreisläufe changiert Sicherheit angefangen von Ressourcensicherung bis hin zu Migrationspolitiken und der Terrorismusprävention. Demgegenüber stehen mögliche Praktiken der „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche), die das Territorium in seiner materiellen und sozialen Realität begreifen und so einer homogenen moralischen Logistik der Angst widerstehen. Kalifornien dient hier als Kristallisationspunkt an dem die territorialen Fragen der Migration zwischen Mexiko und den USA mit denen einer Umweltkatastrophe zusammenlaufen und so 58 4 Einen guten Überblick über Cruz‘ Arbeiten gibt seine Website: estudioteddycruz.com eine übergreifende Logistik mit dem Ziel der Partizipation und Verantwortung hervorbringen. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA gehört zu einer der meistbewachten und am häufigsten durchkreuzten Demarkationslinien unserer Gegenwart. Wo sind die existenziellen, sprich materiellen Territorien, die ein Überleben im Gebiet der extremen Überwachung zwischen Mexiko und USA ermöglichen? In Zeiten des logistischen Kapitalismus, wie ihn Stefano Harney oder Sandro Mezzadra und Brett Neilson unter anderem auch in diesem Heft ausarbeiten, stellt sich die Frage, wie sich neue Territorien, abseits der abstrakten Einfärbungen, eröffnen. Als mögliche Antwort auf diese Frage möchte ich auf die (gegen-)logistischen Strömungen eines „informellen Urbanismus“ eingehen, die sich in Tijuanas Shantytowns und San Diegos Vororten, bzw. „the great transnational metropolis San-Diego-Tijuana“, ereignen.4 Es handelt sich um Territorien, die sich je nach materieller, sozialer und immaterieller Strömung von Dingen und Menschen einfärben, die sich aber vor allem auch als Teil einer materiellen Umwertung konstituieren – als mögliche Gegenaktualisierung zum logistischen Kapitalismus. Political Equator 2007 wurde die letzte Publikation der Ausstellungsserie inSite mit dem Titel „A Dynamic Equilibrium: In Pursuit of a Public Terrain“ herausgegeben. inSite ist ein über mehr als 15 Jahre andauerndes Projekt zu politischen, ökonomischen und sozialen Prozessen entlang und quer zur Grenze zwischen Mexiko und den USA, Tijuana und San Diego. Der Grund für mein Interesse an dieser schon fast zehn Jahre zurückliegenden Ausstellung ist die Beständigkeit, mit der sich künstlerische Praktiken transversal mit der Fragen der Grenzpolitiken auseinandersetzen. Anstelle einer umfassenden Retrospektive der Ausstellungsserie möchte ich hier insbesondere auf die darin gezeigten Arbeit des Architekten Teddy Cruz eingehen. In seiner Arbeitsweise verbindet Cruz materielle, visuelle und architektonische Strategien, Raum als soziale Intervention zu begreifen. In den dynamischen Strömungen zwischen Tijuana und San Diego lassen sich nicht nur die Problematiken einer globalen Nord-Süd-Grenze, die Cruz Political Equator nennt, auf der Ebene menschlicher Arbeitsmigration ausmachen. In seiner Arbeit mit lokalen aktivistischen Gruppierungen in San Diego und Tijuana verfolgt Cruz insbesondere den infrastrukturellen, materiellen und affektiven Verkehr von Bewegungen entlang dieser vermeintlichen Grenzlinie. Der Political Equator ist für Cruz ein globales Phänomen, das sich entlang einer Linie zwischen dem 59 5 Teddy Cruz, „Border Postcards: Cronicles from the Edge“, in Sally Yard (Hg.), A Dynamic Equilibrium: In Pursuit of Public Terrain, San Diego 2007, S. 70. 6 Teddy Cruz, „Mapping Non-Conformity: PostBubble Urban Strategies“, in: Emisphérica 7.1 (Sommer 2010), http://hemisphericinstitute.org/hemi/ en/e-misferica-71/cruz 33. und dem 28. Breitengrad um die Erde spannt. Das Projekt verdeutlicht die Zusammenhänge von lokalen Konflikten in Grenzregionen mit Migrationsströmen Arbeitsuchender von Süd nach Nord und dem Outsourcing der Produktionsstätten von Nord nach Süd. Diese Beobachtung fußt auf Thomas P. M. Barnetts Schema der „Neuen Weltkarte des Pentagons“, die den Süden als „Non-Integrating Gap“ (Kluft der Nichtintegration) und den Norden als „Functioning Core“ (funktionierender Kernbereich) bezeichnet. In seiner Arbeit als Architekt und Aktivist greift Cruz die globalen Effekte von Migration und Ökonomie auf und faltet sie in den verdichteten urbanen Raum zwischen Tijuana und San Diego. Er beschreibt die Entwicklung des Grenzübergangs San Ysidro als die sukzessive Verfestigung einer vorher unsichtbaren Linie und als gigantisches infrastrukturelles Projekt, „des längsten Überwachungsinstruments der Geschichte“.5 Cruz sieht diese lokalen Entwicklungen vor dem Hintergrund globaler Linien der Trennung und Kontrolle entlang des Political Equator im Zuge des Sicherheitsdiskurses nach 9/11 und den Polarisierungen von Terrorismus und Angst in ihrer direkten Verbindung zu Formen des Rassismus. Das Territorium des Political Equator wird zur Zone eines Überwachungsdiskurses, das sich auf der Ebene von Wahrnehmung und visueller Darstellung abspielt. Zugleich findet eine Verhärtung der Grenze auf physischem Wege statt, die den Fluss der Körper und Materialien reguliert. Wie, so fragt inSite 2005, erzeugt man ein öffentliches Terrain? Teddy Cruz’ Praxis nimmt an dieser Frage nach dem öffentlichen Terrain, oder besser: nach dem existenziellen Territorium und den komplexen Verwicklungen zwischen globalen, infrastrukturellen Agitationen kapitalistischer Ausbeutung seinen Ausgangspunkt. „Informal Urbanism“ ist der Begriff, mit dem sich die Dialektik von lokal und global, aber auch innen und außen durchbrechen lässt. „Ich sehe das Informelle nicht als Substantiv, sondern als Verb, das traditionelle Verständnisse von Ortsbezogenheit und Kontext explodieren lässt und den Blick auf ein komplexeres System eines verborgenen sozial-ökonomischen Austauschs eröffnet. Ich betrachte das Informelle als Ort einer neuen Interpretation von Gemeinschaft, Bürgerschaft und Praxis, in der aus sozialen Verhältnissen auftretende urbane Konfigurationen eine performative Rolle von Individuen, die ihre eigenen Räume erschaffen, suggerieren“.6 Urbanismus wird hier zur Figur einer Taktik gegen transnationale Logistiken der Überwachung und ihren Formen der Gewinnschöpfung. Im grenzübergreifenden Urbanismus entwickeln sich Möglichkeiten neuer Werte jenseits des moralischen Kontrolldispositivs des logistischen Kapitalismus. 60 7 Ein Beispiel der aktivistischen transborder-Selbstorganisation von Arbieter_innen lässt sich hier finden: Michelle Téllez, Cristina Sanidad, „Giving Wings to Our Dreams“, in: Nancy A. Naples, Jennifer Bickham Mendez (Hg.), Border Politics: Social Movements, Collective Identities, and Globalization, New York 2015, S. 323-354. 8 Der Neologismus der „Transgrenzprojekte“ ist dem englischen Begriff „transborder“ geschuldet, der die Frage der Grenze von der der Nation im deutschen Begriff „transnational“ löst. Die Verhärtung der Grenze, wie sie sich materiell immer stärker manifestiert, ist einer Logistik der Kontrolle geschuldet, die den Fluss von Werten – insbesondere finanziellen Mehrwerten – überwacht. Im Zuge des NAFTA-Freihandelsabkommens wurde die Südseite von sogenannten Maquiladoras – Produktionstätten multinationaler Konzerne – überzogen. Diese Fabriken führten zu einem erhöhten Strom von Binnenmigrant_innen, die sich bessere Löhne erhofften, sich jedoch sehr bald mit der Willkür der Arbeitgeber_innen und der Absenz rechtlicher Zuständigkeiten seitens der mexikanischen Regierung konfrontiert sahen.7 Die Urbanisierungsbewegungen sind hier vierfach: Zum einen verweilen immer mehr Migrant_innen aufgrund der Gefahren bei der nicht-registrierten Einreise in die USA in den Randbezirken Tijuanas, die sich zu Shantytowns entwickelt haben. Zweitens ist dieser Raum Anziehungspunkt für Maquiladoras, da die unmittelbare Verfügbarkeit von Arbeitskraft eine Kontrolle von außen unterbindet. Drittens beobachtet Cruz in San Diego einen zunehmenden Urbanismus der Homogenisierung und Gentrifizierung in den Vororten und dem Stadtzentrum. Viertens verlaufen parallel Prozesse der illegalen Mehrfachnutzung von Wohnraum, die Cruz als „non-conforming program“ bezeichnet. Die informellen Mikroökonomien, die aus den sozialen Verhältnissen der Migrationsgruppen in San Diego hervorgehen, stehen in direkter Korrespondenz mit den informellen Urbanisierungen der Shantytowns in Tijuana. Als weiterer Verdichtungseffekt liefern die Maquiladoras die entsprechenden Waren für die makroökonomische Nachfrage des Nordens, während im Süden überschüssiges Baumaterial für Shantytowns wiederverwertet wird. Es sind diese materiellen und sozialen Strömungen auf mehreren Ebenen, die ein vielfarbiges urbanes Territorium des Stadtgebietes San Diego-Tijuana ausmachen, das heterogen, spontan und improvisierend wächst und so die Makroebene der Grenzziehung herausfordert. Cruz nennt denn auch die Politik, die er verfolgt, einen Urbanismus, der die Eigentumsgrenze sprengt („urbanism beyond the property line“). In diesem materiellen Zirkulieren bildet sich eine Zone der Umwertung, die sich einer rein abstrakten logistischen Verwertung entzieht. Spannend finde ich hier die vielschichtigen Formen der Intervention, die zugleich die radikale Trennung durch die militarisierte Grenze anerkennt. In „Transgrenzprojekten“ gemeinsam mit NGOs versucht Cruz diese radikale Trennung anzugreifen, indem er die mikroökonomischen Flüsse, Fluchtlinien und sozialen Praktiken in Verbindung mit Policy-making bringt.8 So sieht er sich in seiner Arbeit oft als Fürsprecher, der sich auch in den Stadtrat der Grenzgemeinde San Ysidro wählen ließ, um über acht Jahre hinweg 61 eine Veränderung der Bauregulierungen zu erwirken, damit mehrere und erschwinglichere Wohneinheiten pro Parzelle gebaut werden können. In der Vielschichtigkeit dieser Prozesse geht es oft darum, die urbanen, materiellen Infrastrukturen außerhalb der logistischen Einbindung von Mehrwehrt zu aktivieren und diese neu zu besetzen. Dies steht in einem harschen Kontrast mit den affektiven Politiken der Überwachung und Angst. 9 Siehe zu diesem und den folgenden Ausführungen, Hille Koskela, „’Don’t mess with Texas!’ Texas Virtual Border Watch Program and the (botche) politics of responsibilization“, Crime Media Culture 7:1 (2011), 49-65. Überwachung und Abstraktion 2008 startete das Texas Border Watch Program, das es US-Bürger_innen ermöglicht, mittels 26 Webcams die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überwachen. Es bedarf nicht mehr als einer Onlineanmeldung, und schon ist man Teil eines hoch technologisierten Überwachungsapparats. Über eine Hotline können die „Teilnehmer_innen“ (participants) lokalen Sheriffs Hinweise zu illegalen Grenzüberschreitungen übermitteln. Das Texas Virtual Border Watch Program ermöglicht eine Logistik des verdeckten Blicks (die Kameras sind getarnt), die sich an die unterstellte moralische Verantwortung aller „guten Bürger_innen“ anschließt („see something, say something“) und die affektive Angstzirkulation fortschreibt. Im Zuge von 9/11 wurde Migration mit Terrorismus in Verbindung gebracht und findet seinen Ausdruck in der Angst vor der Bedrohung der nationalen, aber auch privaten, Sicherheit.9 Eine Angst, die nicht mehr bedarf als einer Farbskala oder eines Tanzes grauer Pixel auf einem Bildschirm fern der nächtlichen Grenze zwischen Mexiko und Tijuana. Es wird deutlich, dass der Blick durch die Kommunikationsnetzwerke das Territorium auf den häuslichen Bildschirmen abstrahiert, während das Territorium zugleich – meist dürr und gräulich – von möglichen polizeilichen Kontrollakten heimgesucht wird. Die 26 Kameras befinden sich in ländliche Gegenden, und diese wirken oft wie ausgetrocknete Stillleben. Die Grenze wird durch die Überwachung immer wieder neu, und zwar abstrakt, konstituiert. Sie existiert nicht mehr nur als physischer Ort der möglichen Transgression, sondern als immanente Potenzialität des alltäglichen Blicks. So hat es doch für die Beobachter_innen keine Konsequenzen, wenn man eine Grenzüberschreitung berichtet, umso mehr aber für die Individuen, die dadurch der Polizei ausgeliefert werden. Zudem wurde durch die Operation Gatekeeper der Migrationsstrom bewusst von städtischen Zonen in ländlichere Gegenden verschoben, in denen der Grenzübergang oft weitaus gefährlicher ist. Diese am Bildschirm langweilig anmutenden Bilder von Landstrichen und die erhöhte Gefahr des Übergangs bringen die zynische Situation der Überwachungslogistik „at a distance“ auf den Punkt. 62 Wie die Verfahrensweisen eines logistischen Kapitalismus, der sich minutiös in die Alltagspraktiken einschreibt und jede Geste zur Wertschöpfung umfunktioniert, so ist das Texas Border Watch Program eine Indienstnahme der Bevölkerung mithilfe eines Sicherheits- und Angstdiskurses. Durch die modularen und abstrakten Prozesse der computerisierten Bilderwelten entstehen neue Formen des Rassismus, der sich mittels Überwachung an globalen und lokalen Strömungen orientiert, an Kadenzen und Grafiken, an Einfärbungen und Farbskalen. Das Territorium wird zu einer Pixellandschaft, die sich nach Belieben einfärben lässt und somit als Werkzeug der Affektion dient. Durch diese Techniken der Abstraktion wird die Grenze nicht mehr rein physisch konstituiert, sondern es entstehen immer neue Grenzziehungen und deren Modulation, auf Basis abstrakter Darstellungsformen. Zugleich schöpft die Einbindung von freiwilligen Beobachter_innen Arbeitskraft ab, und generiert durch die technologisch-logistische Modulation einen Mehrwehrt an (potenzieller, affektiver) Sicherheit. Die Modulation der visuellen Grenzkontrolle paart sich mit einer vorbeugenden Logistik der Kontrollstrategien, die aus Sammlungen transnationaler biometrischer Datenbanken und Profilen potenziell gefährlicher Nationen besteht. Big Data at its best. Fluchtlinien hin zu existenziellen Territorien Cruz bezeichnet San Diegos Homogenisierung als „beige“ Kultur. Man könnte auch vom klassischen Standardgrau von Elektronikgeräten sprechen, das eine Resonanz zwischen homogenisierter urbaner Struktur und technologischer Infrastruktur nahelegt. Gegen diese homogenisierenden Darstellungen wendet sich Cruz’ Begriff der „urban pixelation“. Mit diesem Begriff beschreibt er Mikrointerventionen, die sich den Bedürfnissen der lokalen Migrationsgruppen anpassen. Das soziale Bauprojekt Casa Familiar in San Diegos Grenzort San Ysidro beinhaltet flexible Räumlichkeiten, die sich je nach sozialen und familiären Umstände anpassen lassen und zum Teil als Büros oder Student_innenstudios dienen können. Soziale Bedürfnisse fließen hier in die materiellen Formungen der Architektur ein. Der Ort bietet Platz für kleine Zusammenkünfte und beinhaltet einen Garten, dessen Erträge für lokal entstehende Mikroökonomien genutzt werden. Die Struktur passt sich den Umständen eines verdichteten sozialen Lebensraums an. Zugleich wird die Pixelisierung auch zur visuellen Strategie, um einer homogenisierten Darstellung – z.B. rot für Alarm – entgegenzuwirken und auf heterogene, jedoch eng miteinander verwobene, materielle und soziale Verhältnisse zu verweisen. Cruz produziert Landkarten 63 mit tausenden kleinster Farbpixel, die nicht einer diskreten Ordnung oder Funktion entsprechen, sondern auf die intrinsische Differenz von molekularen, sozialen und ökonomischen Strömungen verweist. Diese Karten machen keine Unterschiede zwischen Mexiko oder San Diego, sondern forcieren deren Untrennbarkeit als urbanes Kontinuum. Pixelisierung kreiert einen Umgang mit dem Territorium, der die Abstraktion eines homogenisierenden Blicks und den logistisch glättenden Zugriff nicht mehr zulässt, sondern die Notwendigkeit einer primären Heterogenität als existenziell hervorhebt. Gleiches gilt für Cruz‘ künstlerisches Ausstellungsprojekt Border Postcard – Bildcollagen von Sperrgutelementen die kunstvoll zu architektonischen Konstrukten geformt werden. Diese Collagen beziehen sich auf die dynamischen Kreisläufe der materiellen Wiederverwertung und Umwertung, die sich transversal durch San Diego-Tijuana hindurch manifestieren. Der Strom von Sperrgut erstreckt sich bis auf ganze Wohnbungalows, die Mit Trucks über die Grenze direkt in Tijuanas Shantytowns transportiert werden. Cruz und sein Team arbeiten stetig an intelligenten Formen der Wiederverwertung. So haben sie Wege gefunden aus aufgeschnittenen und neu zusammengeklemmten Autoreifen Befestigungswände zu entwickeln, die als Baugrund neu entstehender Konstruktionen in Tijuana fungieren. Wert entsteht hier nicht aufgrund einer moralisch-logistischen Codierung sondern durch immanente materielle Kapazitäten und deren Aktivierungskraft. San Diego-Tijuana mag auf abstrakter Ebene von einer harten Grenzlinie durchzogen sein. Diese Linie wird jedoch zu einer Zone informeller Zirkulation ausgeweitet. Die materiellen Prozesse werden hier von sozialen und politischen Organisationsformen transnationaler Arbeiter_innenrechtsbewegungen und Aushandlungsprozessen mit Maquiladoras begleitet. Die mikroökonomischen Bewegungen werden von Cruz immer in Relation zu möglichen Interventionen auf politischer Ebene mit den entsprechenden Regierungsstrukturen verknüpft und entsprechend durch einen Aktivismus transversal zur vermeintlichen Grenze vorangetrieben. In seinen Talks und Darstellungen (z.B. für Stadtverwaltungen) wählt Cruz bewusst vielfarbige heterogene diagrammartige Visualisierungen zur Kommunikation komplexer Verhältnisse. Das Territorium besteht hier nicht mehr aus tief eingefärbten Blöcken der Abgrenzung und logistischer Zuschreibung, sondern wird zu einem heterogenen existenziellen Territorium, dessen Farbcode nicht 🚀 Christoph Brunner nach Partizipation und Kontrolle trachtet, sondern neue materielle ist Forscher, schreibt zu Kollektivität und Affekt und Handlungsperspektiven eröffnet. ☁ lebt in Zürich. 64 Sandro Mezzadra und Brett Neilson Aus dem Englischen von Christoph Brunner und Nina Bandi Dieser Text ist eine leicht gekürzte Übersetzung von Sandro Mezzadra, Brett Neilson, „Operations of Capital“ , The South Atlantic Quarterly 114:1, Winter 2015. 1 Finanzialiserung bezeichnet in diesem Zusammenhang die zusehende Abstraktion von ökonomischen Aktivitäten der Marktwirtschaft aufgrund von Derivaten und deren (spekulativen) Kalkulationen. Christian Marazzi, eine hier zentrale theoretische und politische Position, beschreibt mit Finanzialisierung eine Form der Finanzwirtschaft die "Produktion von Geld mittels Geld" bedingt und den herkömmlichen Handel von Geld für Waren ersetzt. Siehe auch: Christian Marazzi, The Violence of Capitalism, Cambridge Mass. 2010. Zu Verfahrensweisen des Kapitals und der Entnahme 🚍Entnahme (extraction), Finanzwesen (finance) und Logistik (logistics) liefern strategische Analysekanäle, um zentrale Mechanismen und Tendenzen aufzudecken, die in gegenwärtigen Diskursen über Kapitalismus verborgen bleiben. Diese Bereiche sind überaus wichtig für die Beobachtung von aufkommenden Dynamiken, welche den derzeitigen kapitalistischen Wandel und seine ungleiche globale Ausdehnung prägen. Viele Analysen, die sich auf den Begriff des Neoliberalismus beziehen, verweisen auf das hegemoniale Zirkulieren einer ökonomischen Doktrin oder auf Deregulierungs- und Steuerungsprozesse, ohne auf die grundlegenden Transformationen des Kapitalismus einzugehen, um die es uns mit den Begriffen Entnahme, Finanzwesen und Logistik geht. Ausschlaggebend für unsere Analyse ist der Begriff der Verfahrensweisen (operations) des Kapitals, der unsere Aufmerksamkeit auf die materiellen Aspekte der sowohl in spezifischen Situationen stattfindenden Intervention des Kapitals als auch auf ihre breitere Artikulation in systemischen Mustern lenkt. Die Notwendigkeit einer solchen Analyse wird insbesondere vor dem Hintergrund der Krise von 2007/2008 deutlich. Während die turbulente Geschwindigkeit der Krise die Hegemonie der neoliberalen ökonomischen Doktrin in Frage gestellt (und teilweise sogar zerschlagen) hat, haben sich die von uns hervorgehobenen Entwicklungen bis anhin nur verstärkt. Die Verbindung der Begriffe Finanzwesen, Entnahme und Logistik bedeutet keineswegs eine Synthese ihrer Verfahren. Viel eher möchten wir die Notwendigkeit einer Arbeit mit diesen und durch diese unterschiedlichen Perspektiven hervorheben. Ebenso geht es uns darum, analytische Untersuchungen in ihrer konzeptuellen und empirischen Durchdringung zu verkomplizieren und zu bereichern, um zu verstehen, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus durch und über die wiederkehrende Krise hinaus verändert. Die Analyse der Finanzialisierung1 eröffnet einen privilegierten Zugang zum Verständnis neuer Elemente und Mutationen in kapitalistischen Regimen der Akkumulation, der Distribution, der Ausbeutung und der Entnahme. In ihrem Vorgehen muss sie die materiellen Schnittstellen und die facettenreichen Apparaturen beleuchten, durch welche (die) Finanzialisierung in der Realität andockt. Durch die Fokussierung auf die Techniken des Finanzwesens und seine Beschränkungen, die bei dessen gierigem Versuch der Durchdringung von Nicht-Finanzialisiertem hervortreten, wird zusehends deutlich, dass es zur kritischen Analyse des heutigen 65 2 Sandro Mezzadra, Brett Neilson, Extraction, Logistics, Finance. Global Crisis and the Politics of Operations, Radical Philosophy 178, S. 8–18. Kapitalismus einer Vervielfältigung empirischer Zugänge ebenso wie eines komplexeren Begriffsgerüsts bedarf. Gleich der Finanzialisierung, die die Grenzen eines spezifischen ökonomischen Sektors überschreitet, können auch Entnahme und Logistik nicht auf klar definierte Bereiche eingegrenzt werden. Wir haben bereits an anderer Stelle hervorgehoben, dass Entnahme und Logistik für die Funktionsweisen des gegenwärtigen Kapitalismus äußerst wichtig sind.2 Ihnen gemeinsam ist eine globale Reichweite, die ihnen zugrunde liegende Rationalität sowie die Fähigkeit, gewaltsam Raum, Territorien und Leben zu unterbrechen und hervorzubringen. Wörtlich genommen bedeutet Entnahme die erzwungene Gewinnung von Rohstoffen und Lebensformen von der Erdoberfläche, ihren Tiefen und ihrer Biosphäre. Auch wenn diese Aktivitäten historisch nichts Neues sind, so haben sie ein gefährliches und bisher nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Mit der Bevölkerungsexpansion, mit neuen Technologien, und den grünen Horizonten des Kapitalismus spitzte sich auch der Ansturm auf die Umwandlung von sowohl organischen als auch anorganischen Materialien in Werte zu. Der radikale Anstieg des Landraubs – mittels Zwangsenteignung kultivierbaren Ackerlands und der Waldrodung zur Produktion von Biokraftstoff und Nährstoffen – ist nur ein Aspekt der gegenwärtigen Landschaft der Entnahme, die sich weit über die Bereiche des Bergbaus, der Ölbohrungen und der Fischerei hinaus erstreckt. Ebenso lassen sich wichtige Prozesse kapitalistischer Inwertsetzung wie die Gentrifizierung urbaner Räume kritisch als Formen der Entnahme analysieren. Im Gegenzug beschreibt Logistik die Kunst und Wissenschaft der Umwandlung von Kapital zur Effizienzmaximierung im Transport, in der Kommunikation, der Vernetzung und der Distribution. Auch wenn die Koordination von Produktion und Distribution immer schon Teil des Kapitalismus war, so haben die globalen Ketten und Netzwerke der Produktion und Zusammenfügung die Linien zwischen Produktion und Distribution aufgrund der Bewegung von Komponenten, Menschen und Wissen entlang heterogener globaler Standorte verschwimmen lassen. Die technische Bestimmung industrieller Orte, Zonen und Knotenpunkte mithilfe von Berechnungen, die die Arbeitskosten gegen Transportkosten aufrechnen, wurde zu einem maßgebenden Mittel zur Erstellung von Arbeitsund Produktionstopographien. Die Ermöglichung solcher logistischer Prozesse durch infrastrukturelle Einrichtungen und Interventionen, als Hardware und Software, entwickelte sich zu einem lebhaften Bereich kapitalistischer Aktivität mit dem Vermögen, ökonomische und soziale Zukünfte zu formen. Diese Prozesse vollziehen sich anhand von unter66 schiedlichen Mustern entlang von Pfadabhängigkeiten und einer Alchemie von Algorithmen, Daten, Beton und Stahl. Ein wichtiges Werkzeug für die Analyse von Entnahme und Logistik ist der Begriff der Verfahrensweisen des Kapitals. Die Dynamiken der Enteignung, Ausbeutung und Akkumulation werden deutlich durch die verkürzte Geschwindigkeit zwischen Öffnung und Schließung, Inklusion und Exklusion, die den Austausch zwischen Kapital und einer heterogenen Anordnung von sozialen und räumlichen Formationen bestimmt. Wir sind daran interessiert, wie hoch entwickelte Techniken und Technologien des Wissens und der Kalibrierung in die soziale Realität des Kapitals eindringen, das trotz seiner vielschichtigen Mutationen und Brüche die gegenwärtigen Lebens- und Kooperationsweisen weiterhin dominiert. Auch wenn eine Verfahrensweise als Teil eines weiteren Netzwerks von Verfahrensweisen existiert, so ist es doch heuristisch möglich, den Moment spezifischer materieller Verfahrensweisen zu isolieren, um analytisch die Gewalt hervorzuheben, die uns heimsucht und die aus den verfeinerten und abstrakten Methoden und Paradigmen der Inwertsetzung hervorgeht. In diesem Sinne ist die Verfahrensweise ein Moment der Verbindung und Vereinnahmung, der die Materialität von noch so ätherischen Kapitalformen ausstellt. Hier eröffnet sich für uns ein neuer Weg zur Annäherung an gegenwärtige Abstraktionsprozesse und globale Verknüpfungen des Preises und der fortlaufend gegenseitigen Bedingung von „abstrakter Arbeit“ und Geld im Weltmarkt – so wie sie 3 Karl Marx, Theorien über Marx effektiv beschrieben hat.3 Die Analyse des Finanzwesens und der den Mehrwert, in: MEW Logistik wird zu oft von ihren materiellen Effekten getrennt, während 26/1, S. 253 Diskussionen zur Entnahme die brutalen Momente des Landraubs, der Ölbohrung oder des Aneignens hervorheben. Der Begriff der Verfahrensweise erlaubt uns die „entnehmende“ Dimension des Finanzwesens und der Logistik ebenso wie die rechnerischen und immateriellen Bedingungen der Entnahme zu sehen. Genau in dieser Verflechtung heterogener Modi der Entnahme mit den scheinbar metaphysischen Qualitäten gegenwärtiger Abstraktion zeigt sich der Charakter der gerade entscheidenden Verfahrensweisen des Kapitalismus. Trotz der Betonung der Verknüpfungen von Abstraktion und Materialität sollte deutlich werden, dass wir Entnahme, Finanzwesen und Logistik als zusammenhängende und sich in Wechselbeziehung befindende Bereiche verstehen, um den gegenwärtigen kapitalistischen Übergang zu verstehen. Mit dem Begriff „Übergang“ verweisen wir auf eine offene Zukunft, die trotz alledem gehemmt wird durch systemische Aspekte, deren kritische Beschreibung mehr bedarf als einer Ansammlung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten auf Grafiken und 67 Tabellen. Es ist durchaus möglich, lang andauernde Kontinuitäten der Entwicklung des Kapitalismus neben den Diskontinuitäten und Unterbrechungen seit den frühen 1970ern und 1990ern zu verdeutlichen. Sehr wohl lassen sich das Ende des Bretton-Woods-Abkommens oder der Zusammenbruch des heutigen Sozialismus beschreiben, jedoch besteht zugleich die Notwendigkeit, sich den auftretenden Dynamiken der Enteignung und Ausbeutung zuzuwenden. Es geht hierbei nicht nur um die fortlaufende Mutation der ursprünglichen Akkumulation, die sich durch das Krisenmanagement beschleunigt hat – sei es durch Subprime-Kredite, Landraub, oder die Einschließung „öffentlicher Güter“ im Wohlfahrtsstaat oder aber durch die logistischen Verschiebungen von Arbeitsplätzen und Lebensgrundlagen an billigere Produktionsstätten. Die Verwendung des Begriffs der Verfahrensweisen des Kapitals eröffnet einen neuen Zugang zur kritischen Analyse der Beziehungen zwischen Kapital und Kapitalismus. Eine Verfahrensweise bezieht sich immer auf einen bestimmten kapitalistischen Akteur, während sie gleichzeitig in ein weiteres Netzwerk von Verfahren und Verhältnissen mit anderen Akteuren, Prozessen und Strukturen eingebunden ist. Hierdurch ergeben sich zwei analytische Stoßrichtungen zur Untersuchung der Funktion einer Verfahrensweise. Eine erste, mit Verweis auf spezifische kapitalistische Akteure, enthüllt die Arbeitsweisen des Kapitals und insbesondere seine materiellen Konfigurationen. Sie beleuchtet sowohl die Wertschöpfungsprozesse als auch die Reibungen und Spannungen, die sie wiederholt in gelebten und geerdeten Umständen durchkreuzen. Eine zweite Stoßrichtung fokussiert auf die Artikulation von Verfahrensweisen in größere und sich verändernde Formationen, die den Kapitalismus als ganzes umfassen. In dieser zweiten Perspektive sind Fragen der soziologischen Beschreibung, der Ideologie, der Rolle des Staats und andere Kräfte der Macht und Regierung, sowie kulturelle Dimensionen der Hegemonie relevant. Jedoch kann die durch die Verfahrensweise des Kapitals hervorgerufene interpretative Unterscheidung nicht auf dieser Ebene fixiert werden. Viel eher führt die unterbrechende Öffnung, die dadurch hervorgerufen wird, dass die Aufmerksamkeit auf die spezifischen materiellen Effekte und Kontexte der Verfahrensweisen des Kapitals gerichtet werden, hin zu anderen Dimensionen und Linien der Untersuchung. Dieser Moment der Unterbrechung hebt konstitutive Bruchlinien und Kämpfe hervor, die eine andere Form der Analyse nahelegen, als es die Annahme eines Netzwerk- oder Assemblage-Modells von Gesellschaft oder die Vision des Kapitalismus als totales System tun. Die Art und Weise wie Kapital und Kapitalismus ineinanderwirken, beeinflusst beide sich aus dem 68 Begriff der Verfahrensweise eröffnenden Analysewege. Zudem lassen sich diese Verfahrensweisen durch Aspekte charakterisieren, die mit anderen Verfahren des Kapitals außerhalb von Entnahme, Finanzwesen und Logistik in Verbindung stehen. Die oben genannte Verflechtung der entnehmenden Dimension von Kapital mit der Verstärkung der Abstraktion verweist genau auf diese Merkmale. Logistik, und Finanzwesen im Besonderen, sind getrieben von einer geglätteten Welt ohne Reibung und Widerstand, und sie produzieren Fantasien davon. Die absolute Herrschaft des Kapitals, die sie suggerieren, ist wohl die hartnäckigste und übertriebenste dieser Fantasien. Sogar die Entnahme, die zutiefst im Morast der Bohrung und Aushöhlung verwurzelt ist, wird zusehends mit einer Versprechensrhetorik der Sauberkeit und Umweltfreundlichkeit verbunden. In den jüngsten Ausformungen des Daten-Mining, sei es in Anlehnung an Social Media oder Industrie- und gar Militäranwendungen, sehen wir einen Entnahmeprozess, der Verhaltensweisen und Trends vorwegnehmen und somit eine nahtlose Eingliederung der Gegenwart in die Zukunft erreichen möchte. Entnahme, Logistik und Finanzwesen anhand ihrer Verfahrensweisen kritisch zu betrachten, erlaubt uns nicht nur zu erkennen, wie sie für unterschiedliche Reibungs- und Verzahnungsprozesse empfänglich sind. Ein solches Vorgehen verweist auch auf die Ungleichheit ihrer Verteilung und Funktionsweise entlang heterogener Maßstäbe und Grenzen globaler Formen von Raum und Zeit. Es besteht kein Zweifel an der Existenz von Zonen, Zentren, Regionen und sogar kontinentalen Räumen, in denen die Intensität dieser Verfahren auf spezifische sowie strategische Art und Weise konzentriert ist. Für uns ist es essenziell, in diesen variablen Geometrien zu navigieren, um sowohl konzeptuelle als auch empirische Untersuchungen von Entnahme, Logistik und Finanzwesen vorantreiben zu können. ☁ 🚀 Sandro Mezzadra ist Professor für politische Theorie an der Universität von Bologna. 🚀 Brett Neilson ist Research Director am Institut für Culture and Society an der University of Western Sydney. 2013 erschien ihr Buch Border as method, or, the multiplication of labor. 69 Christian Berkes Airbnb, Wohntourismus Ein Essay in Streit-Thesen 🚄 Airbnb ist die größte Online-Vermittlungsplattform privater Reiseunterkünfte. Die Firmengründer in San Francisco stilisieren ihr Unternehmen als Vorreiter einer neuen Tauschökonomie, die unsere Gesellschaft zum Besseren wandelt. Davon ausgehend plädieren die hier versammelten Unterstellungen für einen reflektierten Umgang mit den Grundformen unseres Daseins: dem Wohnen und dem Arbeiten. Sie verstehen sich als Kritik des Alltäglichen. Die Zahlen zu Berlin sind einer Pressemitteilung von Airbnb entnommen. Post-Rhetorisch. 1. Airbnb ist ein Finanz-Marktplatz – kein „Community-Marktplatz“. Das „Gastgeben“ wird offensiv mit der Möglichkeit beworben, durch die Einnahmen die eigenen Rechnungen decken zu können. Es geht nicht darum, Menschen kennen zu lernen (Social Networking) oder Dinge zu teilen (Sharing Economy). 2. Airbnb (von airbed and breakfast) spricht räumlich mobile und finanziell immobile Nutzer_innen an – „cost-sensitive visitors“. Die kleine Vorsilbe wird passend von der Luftmatratze zum Billigflieger umkodiert. Von airbed zu airberlin. 3. Der betont freiheitliche Werbejargon von Airbnb versucht nicht, über diese finanzielle Realität hinweg zu täuschen. Im Gegenteil, er nimmt sie auf und wandelt sie in eine soziale und wirtschaftliche Utopie um: „Das Auskommen, das dir deine Arbeit nicht sichert, sichert dir dein Wohnen“. Utopien haben keine Wirklichkeit. Regierungsform: Mensch. 4. Das Phänomen Airbnb ist die vollendete Zuspitzung und vollkommene Internalisierung wirtschaftlich neoliberaler Gesellschaftsorganisation. Die Airbnb-Vermieter_in ist die Kapitalist_in ihrer eigenen Lebensressourcen und ihres bloßen Daseins. 5. Airbnb ist eine Verwaltungsform von Unsicherheiten. Und damit Teil heutiger Gouvernmentalität: Unser Regiertsein findet nicht mehr durch eine souveräne Staatsgewalt, sondern in einer (sich selbst) verwaltenden Biomacht statt. Das Prinzip Airbnb basiert auf der Selbstausbeutung prekarisierter Lebensläufe. Fast 50% der Berliner Gastgeber_innen 70 verdienen weniger als das mittlere Haushaltseinkommen (unter 1.650 Euro pro Monat). 6. Airbnb ist ein freiwilliger Zwang, dem sich die Mehrheit der Nutzer_innen nicht aus einer romantischen Vorstellung von Hospitalität und Nachbarschaft hingeben, sondern aufgrund von finanziellen Nöten oder Notwendigkeiten. In Berlin sind 44% der Gastgeber_innen „Freiberufler_innen“, „Unternehmer_innen“ oder „Selbständige“. Sich eine Bohrmaschine teilen wollen ist eben etwas anderes, als sich eine Wohnung teilen müssen. In Berlin werden 48% des durch Airbnb erzielten Zusatzverdienstes (der Gastgeber_in) für notwendige Grundausgaben wie Miete oder Lebensmittel verwendet. 7. Das Wohnen ist politisch. Unabhängig davon, ob man die Vermietung als erzwungenes oder freiwilliges Preisbieten, als Eingriff in die Intimsphäre oder als Freiheit im Selbstdesign versteht – das Wohnen ist eine für die Selbsterhaltung essenzielle psychosoziale Praxis. 8. Als Alltagsstrategie definiert Airbnb ihre Gastgeber_innen: Wird ein Wohnungsverlust (wenn auch vorübergehend) durch das Übernachten bei Freund_innen oder Familie kompensiert, dann nennen die Sozialwissenschaften diesen Status „verdeckte Obdachlosigkeit“. Neue Bio-Ware: das Wohnen. 9. Die historische Linie der Kommodifizierung unserer Wohnumwelt beschreibt zwei gegenläufige Tendenzen. Die Skala der Ware wird immer kleiner (Grund, Haus, Wohnung, Zimmer, Mensch), während sich die Skala des Marktes zusehends vergrößert (lokal, regional, national, international, global). Das Ergebnis ist die kosmopolitische Vermarktung unserer Psyche. 10. Mit Airbnb wird die ohnehin problematische Konstellation eines von Renditeaussichten bestimmten Wohnungsmarktes zugespitzt. Die Grenze zwischen „Tourismus“ und „Wohnen“ lässt sich hier nicht scharf ziehen. Nicht mehr nur Häuser oder Wohnungen – auch das Wohnen als Praxis ist zur Ware geworden. Das Angebot von Airbnb zielt nicht auf marktfähige Objekte (Wohn-Container), sondern auf warenförmige Subjektivitäten (Wohn-Innenwelten). Biotourismus. 11. Von Wohnungsmangel, Verdrängungsangst und steigenden Mieten geprägte Wohnungsmärkte erpressen viele Stadtbewohner_innen und 71 fordern Reaktionen. Eines der Lösegeldversprechen heißt Airbnb. Wir wissen: Erpressungen enden selten schön. 12. Der Wohnungsmarkt ist kein „idealer Markt“. Das Verhältnis zwischen dem Gebrauchswert einer Wohnung und ihrer Preisgestaltung gerät schnell in Schieflage. Gründe dafür sind ihre Immobilität, die geringe Anpassungselastizität (des Marktes), fehlende Gleichartigkeit (der Ware) sowie mangelnde (rechtliche) Transparenz und Diskriminierung bei ihrer Vergabe. Diese Bedingungen macht sich die Airbnb-Gastgeber_in zunutze. Das führt zu der paradoxen Situation, dass weder sie noch ihre Gäst_in in ihren Entscheidungen souverän sind. Souverän ist der spezifische Markt. 13. Die Airbnb-Nutzer_in ist nie privat. In touristisch attraktiven Städten ist es rentabel, Wohnungen allein für die Vermietung als AirbnbUnterkunft zu erwerben. Damit wird dem Wohnungsmarkt Wohnraum entzogen. Die Airbnb-Nutzer_in wird Spekulant_in an einem immer schon politischen Wohnungsmarkt. 14. Wenn das Wohnen als psychosoziale und politische Praxis kommodifiziert ist, dann kann man dies „Biopolitik“, „das unternehmerische Selbst“, „immaterial labour“, „gouvernmentale Prekarisierung“ oder „kognitiven Kapitalismus“ nennen. Die Begriffsvielfalt kennzeichnet einerseits die historischen Problemkontexte, andererseits eine fragmentierte Kritik. 15. Airbnb trägt Züge einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Der Online-Marktplatz spült Kapital in lokale Ökonomien (Verzehr, Einzelhandel, Dienstleistungen, Unterhaltung, Transport etc.) und trägt damit – „in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt“ – zu Aufwertungsprozessen bei, die keinen Gleichverteilungsgrundsatz kennen. Davon profitiert die Stadt als wirtschaftlich geführtes Unternehmen, aber nicht als soziale Gemeinschaft. Innerhalb eines Jahres wurden von Airbnb-Gäst_innen in Neuköllner Geschäften über 2 Millionen Euro ausgegeben, ohne dass damit auch nur eine Wohnung langfristig gegen Spekulation und Mietenwahnsinn abgesichert worden wäre. Airbnb schafft die Bedingungen für den eigenen Erfolg selbst. 16. Das Unternehmen Airbnb reproduziert und begünstigt das Branding urbaner Räume und wird damit zum Akteur im Feld einer marktwirtschaftlich organisierten Stadtentwicklung, die unsere Stadt als 72 Beute begreift. Schon bald wird auch die Wohnung (und ihr Interieur) zur Beute geworden sein. (Lücken) im Recht. 17. Das Geschäft Airbnb floriert gerade in rechtlichen Grauzonen. Viele Vermietungen sind praktisch illegal – in New York waren 64% aller Übernachtungsangebote im Januar 2014 nicht rechtskonform (laut einer Studie der dortigen Staatsanwaltschaft). Nur die wenigsten Nutzer_innen kennen oder berücksichtigen die Untermietklauseln ihres Mietvertrages oder die Bestimmungen in den Städten. In Berlin ist seit Mai 2014 ein Gesetz gegen die Zweckentfremdung von Wohnraum in Kraft. Airbnb-Anbieter_innen müssten nun zuerst eine Genehmigung vom Bezirksamt einholen. 18. Das Überschreiten rechtlicher Schranken durch das Nutzen von Airbnb findet suggestiv und zuweilen unreflektiert statt. Vermieten sei einfach, kostenlos und sicher. Stimmt das, wenn ich dabei gegen wohnungspolitische Maßgaben meiner Stadt verstoße? Stimmt das, wenn ich dafür meinen Mietvertrag brechen muss? Derartige Kleindelikte mit Renditeaussicht sind vor allem auf individueller Ebene irrwitzig: Die Airbnb-Nutzer_in macht sich kündbar und verkauft das, was sie durch das in Aussicht stehende Kapital zu verbessern versucht. 19. Angebote wie Airbnb eröffnen neue und auch positive Möglichkeitsräume. Die Freude darüber sollte uns die bereits umkämpften aber nicht vergessen machen. Wir sollten unser „Recht auf Wohnen“ nicht aus Versehen verjubeln. ☁ 🚀 Christian Berkes ist Stadtplaner und Buchhändler. Er gibt Workshops zu Formen zeitgenössischer Raumaneignung und radikaler politischer Theorie und hat die Plattform botopress gegründet. Dort erscheint in 2015 ein kritischer Sammelband zu Airbnb. botopress.net weiterführende Literatur: Lienhard Wawrzyn (Hg.): Wohnen darf nicht länger Ware sein (1974) Franco „Bifo“ Berardi: The Soul at Work. From Alienation to Autonomy (2009) Isabell Lorey: Die Regierung der Prekären (2012) Airbnb: Reisetrend »Privatunterkunft« stärkt lokale Wirtschaft (2013) Andreas Folkers & Thomas Lemke: Biopolitik. Ein Reader (2014) Andrej Holm: Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert (2014) Vielen Dank an alle, die diesen Text kritisiert und kommentiert haben. 73 Sofia Bempeza Darth Vader ist da und darf bleiben Der griechische Skywalker oder wie ein linkes Szenario an Boden gewinnt 🚢„Wann, wenn nicht jetzt?“, fragen die Figuren im gleichnamigen Roman Primo Levis. „Wann, wenn nicht jetzt – Wer, wenn nicht wir?“, lautet die Appropriation und Ergänzung des Satzes von Levi auf Plakaten der Partei Syriza in Griechenland. Aus Athen kommt der Aufruf für einen notwendigen Politikwechsel zur Beendigung der Austeritätspolitik in Europa. Syriza ist nach den Neuwahlen an die Macht gekommen und will sowohl im eigenen Haus aufräumen als auch die Finanzpolitik der EU infrage stellen. Schluss mit dem Irrsinn, als gäbe es keine Alternative zum neoliberalen Imperativ. Ob sie nun linksradikal oder altsozialistisch, europakritisch oder europafeindlich, patriotisch oder populistisch, antioligarchisch oder wirtschaftsfeindlich genannt wird – Syriza ist da und leitet eine neue Ära Griechenlands ein. Let the games beginn! Der Wahlsieg Syrizas klingt, als riefe die „wahnsinnige“ Stimme Südeuropas den „vernünftigen“ Vertreter_innen der EU ihre Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik entgegen. Die Metaphern und die Szenarien variieren je nach Medien und Interessen: Armageddon, Godzilla oder Darth Vader sind nur einige der bildhaften Darstellungen der vermeintlich kommenden Katastrophe namens Syriza, welche in der politischen Blogosphäre Griechenlands das Aufkommen von Syriza beschreiben. Die Szenarien, die in den unterschiedlichsten Medien europaweit erscheinen, erzählen wiederum von einem künftigen Grexit, von turbulenten Jahren für den Euro-Gigant und obskuren oder vermeintlich realistischen Optionen zum Schuldenabbau in Griechenland. Ein paar einführende Worte zur ideologischen Verortung des linken Bündnisses Syriza und seiner Akteur_innen. Syriza als Zusammenschluss der radikalen Linken umfasst verschiedene Positionen, Fraktionen und Strömungen. Syriza setzt sich primär aus dem linksreformistischen Bündnis Synaspismos und einer Reihe linker politischer Organisationen unterschiedlichen Hintergrunds (wie Ökosozialist_innen, Trotzkistische Kommunist_innen, Maoistische Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, Antikapitalist_innen, aktive Bürger_innen) zusammen. Die Existenz verschiedener Fraktionen, Flügel und Strömungen stellt keine Neuigkeit für die Zusammenstellung dieser Partei dar, sondern kennzeichnet sie seit ihrer Gründung 2004. Hinzu kommt die Vielfalt der Gruppierungen, die Syriza wählen: Viele sehen sich selbst als politisch links und sind sehr wohl im Lager der Sozialdemokrat_innen, der demokratischen Linken oder auch innerhalb der links74 autonomen Szene und im Kontext der sozialen Bewegungen zu verorten. Andere sind eher konservativen und nationalistischen Strömungen zu zurechnen. Für die Anhänger_innen Syrizas bildet die ideologische Polyphonie eine der Stärken der Partei. Für die Skeptiker_innen stellen die verschiedenen Fraktionen und Strömungen Zeichen eines tief sitzenden Sektierer_innentums der politischen Linken dar. Musikalisch gesagt, produziert Syriza eher eine Kakophonie als einer Polyphonie – oder ein grelles, kitzeliges Rauschen. Syriza als Bündnis linker Gruppierungen und als regierende Partei verspricht so auch keine einheitliche kollektive Identität für alle ihre Lager. Syriza kann als eine in einem konfliktuellen Terrain entstandene politische Partei angesehen werden. Sie eröffnet eine Bühne, auf welcher sich sowohl das kollektive Begehren nach Reformen, wie die Radikalität ihrer Sub-Bewegungen entfalten, die mit der Konformität einer Staatsregierung einer noch-nicht-ganz linken Hegemonie zusammenprallen. Oder anders formuliert: Die zentrale Herausforderung für Syriza ist es nun, sich nicht in eine Situation bringen zu lassen, in welcher die Konflikte zwischen ihren Sub-Positionen den Rahmen des linken Bündnisses sprengt. Syriza politisiert einmal auf der Seite des radikalen Aktivismus und der sozialen Bewegungen, ein anderes Mal linkspatriotisch und populistisch und dann wiederum im Namen des guten alten Sozialismus oder des Kommunismus. Metaphorisch gesprochen, fußen Syrizas Ansätze auf paradoxen Bezüglichkeiten. Syriza versteht sich gleichzeitig als David und Goliath, als Dienstherr und Knecht und als Regulator und Reformator; sie will gleichzeitig zivil und ungehorsam sein. Syrizas große Mehrheit im Parlament sorgt für Euphorie und Hoffnung. Sie löst aber auch Unbehagen aus. Kritisiert wird etwa die schnell anberaumte Regierungskoalition mit der rechtspopulistischen ANEL, welche allein auf den gemeinsamen Positionen in Sache Verhandlung des Memorandums, Ablehnung von Sparauflagen und Lohnkürzungen beruht. Das politische Problem, das dieser taktische there-is-no-alternative Schritt birgt, zeigt sich insbesondere an klar entgegengesetzten Positionen der beiden Parteien hinsichtlich wichtiger Fragen, wie beispielsweise das Verhältnis von Staat und Kirche oder die staatliche Migrations- und Genderpolitik auszusehen hat. Syriza erscheint gerade innenpolitisch um einer Durchsetzung seiner Agenda willen schlau zu taktieren. Das „Sorgenkind“ Syriza soll im Folgenden mit Blick auf zwei Teilbereiche behandelt werden: Das Verhältnis der Partei zu den sozialen Bewegungen sowie die kulturpolitische Agenda Syrizas. Mit einem 75 griechischen Sprichwort könnte man fragen: Was ist eine Krabbe und was schon ihr Saft? Oder, was ist Syriza und was schon der Gewinn aus ihr für die Menschen vor Ort? Es lässt sich kaum bestreiten: Die sozialen und politischen Bewegungen in Griechenland haben seit 2011 einen großen Aufschwung erlebt. Nach der initialen Occupy-Zeit auf dem Syntagma Platz wurden dezentral neue Stadtteilversammlungen und Netzwerke ins Leben gerufen. Aus den ersten Impulsen sind in den Großstädten und auf dem Land zahlreiche aktive Basisbewegungen und politische Organisationen hervorgegangen. Es sind Kooperative und Kollektive, selbstorganisierten Sozial- und Kulturräume sowie Netzwerken für soziale Solidarität entstanden. Ebenso zeichnen sich die sozialen Kämpfe der letzten zwei Jahre gegen die von der rechts neoliberalen Nea Dimokratia vorangetriebene Reform der Bildungspolitik, die Privatisierung des öffentlichen Dienstes und die Veränderungen im Gesundheitswesen durch eine hohe Kontinuität aus. Den heutigen Bewegungen stehen also zahlreiche organisatorische Ressourcen zur Verfügung, obschon der Bestand an Mitteln seit 2013 immer knapper geworden ist. Gemeinsam mit informellen Kräften der Zivilgesellschaft agieren die Bewegungen und Organisationen selbstständig beziehungsweise autonom und zeigen sich in ihren Strukturen zwar kontingent aber nachhaltig. Neben vielen Akteur_innen aus dem links-autonomen Spektrum, die in den Bewegungen involviert sind, bleiben in diesen Strukturen linke Parteien (aktive Mitglieder von Syriza und Antarsya) nach wie vor präsent. Zwei eng verknüpfte Fragen sind im Hinblick auf die Regierung Syrizas zu stellen: Inwiefern werden aktive „Human Resources“ aus den Bewegungen von der Parteiorganisation absorbiert oder vereinnahmt? Und wie sollte ein künftiges Vorgehen bezüglich Forderungen und Basismobilisierungen von Seiten der Bewegungen unabhängig von Syriza (also nicht parteiisch opportunistisch) weiterhin in seiner Radikalität umgesetzt werden? Die Schulen, Universitäten und Kulturinstitutionen leiden in Griechenland seit einigen Jahren unter inkompetenter Verwaltung und extremer Unterfinanzierung und müssen dringend neu strukturiert werden. Die ersten Töne aus dem Kultur- und Bildungsministerium Syriza richten sich gegen eine weitere Privatisierung des Bildungswesens und versprechen Investitionen in Human Resources und eine Verbesserung der Infrastruktur. Den neuen Richtlinien des Kulturministeriums ist vonseiten der organisierten Kulturarbeiter_innen affirmativ aber mit Skepsis zu begegnen. Daher zum Abschluss noch drei Kommentare zu möglichen Konfliktfeldern innerhalb der Kulturpolitik(en). 76 🚀 Sofia Bempeza ist Künstlerin und Kunsttheoretikerin aus Athen. Sie lebt und arbeitet in Zürich und Wien. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind: politische Interventionen im Feld der Künste, Selbst-Organisation und Kulturproduktion in der post-fordistischen Ära, Gender-Öffentlichkeit(en) Erstens: Kreativität in Zeiten knapper Kassen – wie sollte das gehen? Es ist Common Sense, dass die gegenwärtige Theater-, Tanz-, Film- und Kunstproduktion in Griechenland unter einer ausgesprochenen Prekarisierung leidet. Nichtsdestotrotz sind viele Kulturarbeiter_innen bereits auf dem Weg neue Strukturen und eigene Netzwerke zu schaffen. Neue Formen von Produktion, Vermittlung und Austausch werden somit erprobt. Das Institute for Live Arts Research, das Projekt Salon de Vortex und das selbstorganisierte Embros Theater in Athen, um hier nur einzelne Beispiele zu nennen, streben an, institutionelle wie freie Räume zu etablieren und eigene Netzwerke zu pflegen. Parallel dazu existieren Initiativen, die auf Open Source Technologien wie Praktiken bauen und auf der Basis von Commons organisiert sind. Je mehr man jedoch auf die Nachhaltigkeit dieser Netzwerke pocht, umso stärker zeigt sich die Notwendigkeit, effektive Strategien gegen die Prekarität der kreativen Arbeit zu entwickeln. Zweitens: Syriza deklariert in ihrer kulturpolitischen Agenda, dass Kultureinrichtungen künftig öffentlich und transparent finanziert werden sollten. Es existieren jedoch Grauzonen im Bereich „staatlicher“ Kulturinstitutionen wie zum Beispiel das Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) und das neue Konzert- und Theaterhaus Lyriki, deren Finanzierung halb von der öffentlichen Hand und halb von privaten Großstiftungen getragen wird. Es ist in dem Fall lohnend zu beobachten, wie sich eine staatliche (linke) Kulturpolitik von den materiellen Abhängigkeitsverhältnissen und Profilierungen ihrer Gönner tangieren lässt. Drittens: Die anvisierte „innovative Kulturpolitik“ Syrizas klingt teilweise auch nach einer zweifelhaften Adaptierung der Knowhow-Modelle der spätkapitalistischen Kreativindustrie. Dabei verlangen die kulturpolitischen Stimmen aus der freien Szene nach neuen Konzepten für Kunst- und Kulturinstitutionen und fairen Förderinstrumenten, durch welche die materiellen Ressourcen breiter verteilt werden sollten. Diese Akteur_innen drängen auf nachhaltige Strukturen, wie eine grundlegende Umorientierung der institutionellen Kulturpolitik. Es wird sich bald zeigen, ob das Kulturkabinett auf jene Expert_innen des Feldes hört, die sich gegen paternalistische institutionelle Strukturen wenden und neue Institutionalisierungsformen austesten. Denn eins muss noch abschließend betont werden: Eine emanzipatorische, in Dissens verhaftete Kunst- und Kulturproduktion fördert den gesellschaftlichen Widerstreit – und diese sollte der linksradikalen politischen Tradition Syrizas nahliegen. ☁ 77 Manuela Zechner Stadt- und Kulturpolitik von unten: Barcelona en Comú � Die Stadt zurückgewinnen; Politik dort machen, wo wir Tag für Tag mit Händen und Füssen aktiv sind; die lokalen Institutionen zurückerobern; und das Ganze von unten, radikal demokratisch. Is it a bird, is it a plane, is it Schäume und Träume? Nein, es ist Barcelona en Comú: eine zivilgesellschaftliche Plattform, die sich vorgenommen hat, die 1 Barcelona en Comú, kommenden Kommunalwahlen zu gewinnen.1 katalanisch für „Barcelona Gemeinsam“, vormals Guanyem Barcelona. Das Guanyem Manifest auf Deutsch: https://guanyembarcelona.cat/gewinnenwir-barcelona/ Kleine Geschichte In Spanien hat die 15M Bewegung von 2011 den politischen Horizont gesprengt und durch drei Jahre sozialer und politischer Mobilisierung („Wir schliefen, jetzt sind wir aufgewacht!“ war ein Slogan der Bewegung) einen Zyklus von Kämpfen um Institutionen eingeleitet. So gewann Podemos, eine im Frühjahr 2014 aus der Bewegungslinken entstandene überregionale Partei, bei den EU-Wahlen im Mai 2014 schnurstracks fünf Sitze. Sie hat in den Meinungsumfragen nun den katholisch-konservativen Partido Popular (PP) und den sozialdemokratischen Partido Socialista überholt und damit dem Zwei-ParteienSystem, das Spanien seit Franco im Griff hatte, Adios gesagt. Zur mehr oder weniger gleichen Zeit, als Podemos auftauchte, begann sich in Barcelona eine Plattform für die (spanienweiten) Kommunalwahlen im Mai 2015 zu formieren. Eine zivilgesellschaftlich und von sozialen Bewegungen geprägte Plattform, die sich der elitären und austeritätswütigen Politik des regierenden PP sowie der katalanischen Lokalregierung (Generalitat) entgegenstellen will. Sie nannte sich Guanyem Barcelona, „Gewinnen wir Barcelona“ und wie es seit der 15M Bewegung üblich geworden ist, hatten sich in rhizomatischer Manier bald auch „Ganemos“-Strukturen in Madrid und Malaga formiert. Voraussetzung für den Start von Guanyem Barcelona im Sommer 2014 war es, mindestens 30.000 UnstertützerInnenunterschriften zu sammeln. Die wurden schnell erreicht, und so machten sich VertreterInnen der Plattform daran, die Plattform im Parteiregister des Innenministeriums einzutragen. Da war ihnen allerdings ein obskurer katalanischer Stadtrat zuvorgekommen – der sogleich anbot, den Namen zu übergeben, wenn er die überregionale Koordination von Guanyem-Plattformen übernehmen könne. Guanyem verzichtete dankend und verklagte den Mann, der die Partei unter anderem mit einer falschen Adresse registriert hatte. Diese Klage wurde vom Innenministerium – in der Hand des konservativen PP – allerdings abgelehnt. So wurde aus 78 Guanyem Barcelona im Februar 2015 Barcelona en Comú. In diesem Text beziehe ich mich auf beide Namen, wenn auch ab sofort nur noch letzterer gilt. 2 Organigramm von Guanyem Barcelona: http://commons.wikimedia. org/wiki/File:Guanyem_ Organigram.png 3 Der Codigo Etico von Guanyem: https://barcelonaencomu.cat/sites/ default/files/pdf/codi-eticeng.pdf 4 Die Arbeitsgruppen und deren Positionspapiere: https://guanyembarcelona. cat/es/ejes-tematicos/ Arbeitsweise und Struktur Zur Methode von Barcelona en Comú gibt es unendlich viel zu sagen, denn Grundbaustein dieser Initiative ist ein radikal demokratischer Ansatz, der Stadtpolitik von unten möglich machen will. Das bedeutet offene Plena, eine transparente Organisation von Stadtteilversammlungen mit thematischen Arbeitsgruppen und Versammlungen, vertreten in einer Koordinationsversammlung und zusammengeschlossen mit Arbeitsgruppen für Logistik, Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, usw. Ein komplexes Organigramm, das einer wilden sozialen Maschinerie eher gleichkommt als einer still geordneten (flachen oder vertikalen) Hierarchie.2 Hier wird Politik und Organisation täglich neu erfunden, denn es handelt sich um ein Experiment kollektiven Denkens und Tuns – ohne Vorlagen, ohne Förderung, ohne Lobby, aber mit vielen Köpfen, Händen und Füssen. So trafen im Oktober 2014 über 300 Menschen zusammen und stellten einen beeindruckenden Ethik-Kodex zusammen, der Barcelona en Comú als politischer Leitfaden dient.3 Die Struktur der Barcelona en Comú-Plattform wird mit jeder Arbeitsphase verbessert und verändert. Die thematischen Arbeitsachsen (Gesundheit, Migration, Kultur, Tourismus, Arbeit, Wirtschaft, Urbanismus, Gender, lokale Regierung, Bildung, Information ...) formierten sich als offene Versammlungen und haben seit Oktober intensive Arbeit an Leitfäden und Grundbedingungen geleistet, die zur Orientierung der Plattform beitragen und deren eventuelle Politik im Rathaus leiten sollen.4 In den Arbeitsgruppen treffen ExpertInnenAktivistInnen verschiedener Bereiche zusammen und teilen ihr Wissen: Guanyem bedeutet nicht zuletzt eine ungeheuere zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und Umarbeitung von Wissen und Erfahrung, ausgehend von der (grossteils deklassierten) Mittelschicht, lokal-nachbarschaftlichen Netzwerken und sozialen Bewegungen. Hohe Arbeitslosigkeit und Deklassierung spielen dabei eine wichtige Rolle. Und es sieht gut aus für Guanyem: gemeinsam mit Podemos, Proces Constituent, ICV/EuiA und Equo treten sie bei den Wahlen an. Die Beliebtheit der Kandidatin für das Amt der Bürgermeisterin Ada Colau (frühere Sprecherin der PAH - Plattform der Betroffenen von Verschuldung und Räumung) und die zunehmend sichtbare Korruption des regierenden PP sowie der katalonischen autonomen Regierung gibt 79 dieser Allianz starken Rückhalt. Erste Wahlumfragen sagen Barcelona en Comú äusserst gute Ergebnisse voraus. 5 Ada Colau bei der Guanyem Kulturtagung: http://www.europapress. es/catalunya/noticia-colaudice-reto-echar-mafia-lograr-cambio-cultural-largoplazo-20150118205229. html ODER http://www. catalunyapress.cat/cat/ notices/2015/01/ada-colau-la-cultura-del-gran-esdeveniment-ha-fracassat.fa-falta-potenciar-la-barcelona-creativa-116727.php 6 Jornadas Economia Cooperativa de la Cultura : https://guanyembarcelona. cat/es/jornada-economiacooperativa-de-la-cultura/ Die Kulturpolitik zurückgewinnen Dabei geht es vor allem darum, die Schäden des Creative Industries- und Smart City-Modells rückgängig zu machen und Räume sowie Ressourcen für Kultur von unten freizugeben. Als „kreative Stadt“ hatte Barcelona seit den 1990er Jahren seinen Boom und seine Blase, mit der Krise sind tausende Kreativindustriebetriebe eingegangen und öffentliche Kulturinitiativen zugemacht worden. Es gibt aber auch eine andere Geschichte, einen anderen Alltag der Kulturproduktion in Barcelona und das sind die vielen gemeinschaftlichen Projekte und Räume, die Tag für Tag kritische und soziale Kultur produzieren. Katalonien hat eine lange und dichte Geschichte des Cooperativismo und in Barcelona gibt es unzählige selbstverwaltete Buchläden, Medienplattformen, Kunst- und Bildungsprojekte. Aus ihnen soll die neue Kulturpolitik entwachsen, in die Institutionen hineinstrahlen und dort neue Fenster aufmachen. Kultur, die von unten kommt, aber nicht aus dünner populistisch-banaler Suppe, sondern aus der Selbstorganisierung und Selbstrepräsentation heraus. Denn die Kultur ist nicht nur in der Krise, weil sie als erstes weggekürzt oder weil sie kommerzialisiert wird. Vielmehr geht es um eine Wertschätzung von Kultur aus einem neuen Blickwinkel, der jenseits von geringer Wertschätzung, Privatisierung, Prekarisierung und Banalisierung auch die Rolle von Kultur neu denkt. Kulturinstitutionen, die demokratisch funktionieren; Kulturerbe, das jenseits der Fassadenwirtschaft auch etwas mit sozialer Geschichte zu tun hat; Selbstermächtigung und schlaue minoritäre Kulturformen jenseits von neutralisierendem und touristischem Multikulturalismus. „Kultur“ soll nicht nach Tickets klingen, sondern nach Nachbar_innenschaftsräumen. Ada Colau bringt das auf den Punkt, wenn sie vermutet dass in Zeiten wie diesen, in der europäischen Krise mit ihren vielen Rassismen und Polarisierungen, die Produktion intelligenter und kritischer Kultur eine zentrale Rolle spielt.5 Für eine kooperative Kulturwirtschaft Im Jänner organisierte die Kultur-Arbeitsgruppe von Guanyem eine Tagung, um die Grundlinien der neuen Kulturpolitik auszulegen.6 Das begann mit einem Arbeitsnachmittag im Sedeta-Stadtteilzentrum, wo um die 60 erfahrene KulturaktivistInnen verschiedener Bereiche zusammentrafen, um in vier Arbeitsgruppen zu diskutieren. Dabei 80 7 Guanyem-TourismusPositionspapier: https:// guanyembarcelona.cat/ docs/Esborrany-EixTurisme.pdf überschnitten sich Perspektiven von Kultur als Arbeits-und Lebensfeld, das mit fairen Bedingungen und Rechten verbunden sein muss, und Kultur als alltäglichem Gemeingut, als Commons, das keinerlei Expertise bedarf und von allen geschaffen wird. In der Gruppe zu „Kulturarbeit und Prekarität“ wurden verschiedene Modelle der Kulturförderung, der Budgettransparenz, des Arbeitsrechts und der kollektiven Organisierung von KulturarbeiterInnen besprochen, mit dem Beschluss, einen Ethik-Code für Kultur zu schreiben. Dort sollen Prinzipien der Anstellung und Finanzierung sowie Förderung verankert werden, an denen sich eine entprekarisierende und transparente Kulturpolitik orientieren kann. In der Gruppe zu „Sozialer Ökonomie der Kultur“ wurde der Reichtum selbstverwalteter und kooperativer Kulturinitiativen besprochen sowie mögliche Massnahmen zu deren Stärkung und zur Förderung der sozialen Netzwerke, die ihnen zu Grunde liegen. Die soziale Ökonomie ist in ihrer informellen wie formellen Dimension zentral für ein gutes Leben in der Stadt und schafft im Gegenteil zur marktbasierten und zentralisierten Kulturökonomie nachhaltige Initiativen und Netzwerke. In der Gruppe zu „Kultur und Stadt“ ging es um die vielen Räume und Infrastrukturen, die Institutionen und das Kulturerbe (das ja in einer vom Tourismus abhängigen Stadt wie Barcelona eine zentrale Rolle spielt – aber keine Sorge, auch für Tourismus hat Guanyem eine emanzipatorische Vision, und es gibt eine Arbeitsgruppe dazu7). Zentrale Frage war, welche Art von ‚Software’ denn eine Bewegung wie Guanyem in Bezug auf die reichhaltige existierende ‚Hardware’ schaffen müsste, um deren Infrastrukturen und Räume zugänglich zu machen. Das führte zum selben Ergebnis wie in der Arbeitsgruppe zu Prekarität, nämlich dass jenseits von finanzieller Förderung das Bereitstellen von Infrastruktur zentral fürs Kulturschaffen ist. In der Gruppe zu „Neuen Kulturökonomien“ wurde im Sinne von peer to peer, open source und cultura libre weitergedacht. Welche Formen von infrastrukturellem Crowdfunding sind möglich, und welche Forme(l)n der Wertschätzung und –messung? Projekte sollen nicht nur nach ihrer Sichtbarkeit oder Rentabilität beurteilt werden, sondern nach ihrer Kapazität, soziale Beziehungen zu schaffen. Es braucht einen offenen Code für Kulturinstitutionen, der leicht Einsicht in deren Funktionieren gibt und veränderbar ist, damit sich Institutionen als Prozess verstehen können. Am zweiten Tag des Treffens standen die Türen offen und nach kurzen Podiumsinputs zu diesen Bereichen trafen nochmal verschiedene Menschen in diesen vier Themenbereichen zusammen. Fast 300 Menschen waren da, die diskutierten und Notizen für die Zusammenstellung 81 eines Leitfadens mit konkreten Vorschlägen für kommunale Kulturpolitiken sammelten. Dabei sind die Inputs von bestehenden Initiativen zentral: wie die der Cooperland-Konvergenz zu sozialer Kooperation, die politische Massnahmen erarbeitet und der Stadt Vigo sowie der EU vorgelegt hat, oder der Floc Society, die in Ecuador auf der Basis von Open Source Ethik ein neues kulturpolitisches Modell umsetzt. Denn Modelle und Experimente gibt es schon genug: die Herausforderung ist, aus ihnen zu lernen und sie politisch und institutionell umzusetzen. 8 Ich verzichte hier auf detaillierte Ausführungen zum Kampf um nationale Unabhängigkeit, der in Katalonien mit der Krise neue Kraft gewonnen hat. Die Angelegenheit ist so komplex und widersprüchlich, dass sie hier keinen Platz hat. Das Kommunale: Nähe und Differenz im Triebwerk Wenn auch das Niveau sozialer Mobilisierung und Solidarität in Barcelona recht einzigartig ist, stellt Barcelona en Comú trotzdem keinen Einzelfall neuer Bewegungen für radikal demokratische Stadtpolitik dar. In anderen Städten Spaniens und Europas – ja sogar auch in deutschsprachigen Ländern – tut sich was. Mit der momentanen politisch-institutionellen Krise scheint klar: Wir müssen politisch-soziale Handlungsräume neu denken, wenn wir aus der Klemme zwischen staatlicher bzw. nationaler und überstaatlicher Erpressung entkommen wollen. Die Stadt ist dabei ein wichtiges Spielfeld, als Handlungs- und Erfahrungsraum, dessen Gewebe wir kennen und täglich mitbeleben. Die Stadtviertel verstehen sich in Spanien seit der 15MBewegung als wichtige Gestaltungsräume. Der Kampf für demokratische Selbstbestimmung spielt sich nun nicht mehr nur auf hyperlokaler (Plätze, Strassen) oder staatlicher Ebene (Demos gegen Kürzungen, Rücktrittsforderungen) ab,8 sondern zunehmend auch auf kommunaler. Die Rückeroberung der Institutionen (soziale Rechte und Einrichtungen, demokratische Mechanismen) und der Selbstbestimmung (über sozialen Reichtum, Leben und Lebensraum) landet so im Sand der Infrastrukturen und wird als gemeinsames Problem greifbarer. Wie wollen wir unsere Schule, unseren Platz, unser Frauenhaus – nicht irgendeines, sondern das hier, in unserer Strasse? Für eine tiefgreifende Veränderung und Partizipation ist diese Nähe unentbehrlich. Die Frage nach Selbstbestimmung wird im Kommunalen ganz konkret, und gleichzeitig führt sie schnell über Selbstreferenzialität hinaus. Denn die Stadt ist ein wirres Faden- und Triebwerk unterschiedlicher Interessen, Bedürfnisse und Lebensstile – exklusiv-subkulturelle wie nationalistisch-kulturalistische Ideen haben hier keinen Platz. Vielschichtigkeit steht auf der Tagesordnung, steht aber keinerlei in Widerspruch zur Nähe oder zu den urban-kommunalen Commons. Die grosse Herausforderung ist momentan wohl, lokale Prozesse und Intelligenzen zu stärken, ohne dabei den Blick auf die Anderen 82 und das Anderswo zu verlieren. Das betrifft das externe, europäische und global konstituierende Aussen sowie auch das interne (MigrantInnen und jene ohne Papiere, TouristInnen, minoritäre Bewegungen, usw.). Dem kann sich Stadt nur stellen, wenn sie als heterogener Raum gedacht wird, der verschiedene „Aussen“ und „Andere“ schon in sich trägt: global vernetzt, dissensfähig, hospitabel, „afectada“ (offen-betroffen), sich selbst in Bezug auf die Welt ständig umwühlend und schlau machend. 9 Angela Davis, Hrant Dink Memorial Lecture, Istanbul, 2015 http://vimeo. com/116635676 10 Vgl. Precarias a la Deriva, Was ist dein Streik?, Wien: transversal texts 2014, 98-110 11 Siehe das zweite Seminar des Kurses „Cuidados, cuidad y infraestructuras de lo comun“ den wir (La Electrodoméstica, la Hidra und Synusia) im Frühling 2015 in Barcelona organisiert haben: http:// nocionescomunesbcn. net/2014/11/15/curso-como-cono-se-sostiene-esto/. 12 Die Relation zwischen Stadt und Staat wäre damit auch am Tisch. Das geht zwar über diesen Text weit hinaus und wird auch mit einer Podemos-Staatsregierung keine selbstverständliche Angelegenheit sein, aber Thema wird es zunehmend werden. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der Zwiespalt zwischen Provinz und Staat mit einer solchen Erstarkung der Stadt auflockert und damit neue und alte Nationalismen abflauen. Die Stadt als Prozess mit sozialhistorischer DNA Was heisst es, die Stadt als Prozess zu sehen und diesem Prozess zu vertrauen? Als auf Differenz aufbauender Prozess hat Stadt natürlich viel mit Demokratie zu tun, und wenn man hier jenseits von patriarchalen, kolonialen und kapitalistischen Mustern denkt, kann man sich einen ganz schönen Prozess vorstellen. Dabei müssen wir mindestens drei Prozesse gleich mitdenken: die Vertreibung vom Land, die Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus, und die Unterwerfung der Frauen. Das meine ich nicht im Sinne von Identitätspolitiken oder um Intersektionalitätspunkte einzusammeln, sondern um allen Ernstes einer radikalen Vision von Stadt nachzugehen und kritische Elemente in der DNA der Stadt anzudenken. Wie Angela Davis sagt, „an intersectionality of struggles, not of identities”9 – and of imaginaries, könnte man hinzufügen. Erstens: Stadt hat einen Hegemonieanspruch gegenüber dem Land, und der Widerspruch zwischen Stadt und Land ist im Kapitalismus um nichts weniger stark als jener zwischen Arbeit und Kapital. Vom Blickwinkel der Ökologie sowie der Klasse kann man sagen: die Stadt hat sich mit der Industrialisierung zu einem Monster entwickelt, das für ein Modell des Lebens und Umgehens steht, dem man weder Nachhaltigkeit noch Gerechtigkeit nachsagen kann. In Barcelona gibt es eine Menge von Genoss_innenschaften und anderen Initiativen, die an ökologischer Landwirtschaft, nachhaltiger Planung, lokalen Handelsnetzwerken und Besetzung von Land arbeiten und Impulse für neue Stadt-Land Beziehungen setzen. Diese müssen über Smart City Marketing und Nachbar_innenschaftsgärten hinausgehen. Zweitens: die Frage nach der „ciudadania“, der StaatsbürgerInnenschaft, die ja die „Stadt“ in vielen Sprachen im Namen trägt, muss in Bezug auf die Stadt neu gedacht werden. „Cuidadania“, eine neue, auf Sorge (cuidado) basierende BürgerInnenschaft oder Sorgegemeinschaft,10 und buen vivir-Modelle jenseits des Sozialstaats sind Teil dieser Diskussion.11 Dabei geht es darum, das Rechtssubjekt jenseits von Staatsangehörigkeit – und im weiteren auch von Lohnarbeit – zu positionieren.12 Wenn Entscheidungen dieser Ebene auch dem Staat 83 13 In diesem Sinne haben wir den oben erwähnten einen Kurs zu „Stadt, Sorge und Infrastrukturen der Commons“ organisiert, in dem diese Fragen und konkrete feministische Politiken diskutiert wurden . 14 David Harvey, „ The Right to the City“, New Left Review No. 53, 2008. Übersetzung der Autorin. http://newleftreview.org/ II/53/david-harvey-theright-to-the-city obliegen, so liegt die Voraussetzung für ein Umdenken des politischen Subjekts nichtsdestotrotz in den Beziehungs- und Positionsgeflechten der Stadt. Damit kommen wir zum dritten Punkt: die Stadt als Raum der Reproduktion und die Rolle von Sorge und Gemeinwohl darin. Wie können wir Stadt und Infrastruktur aus feministischer Sicht neu denken? Mit der Politik als Männerclub zu brechen ist ein Teil der Antwort – Barcelona en Comú hat diesbezüglich gute Ansätze. Weiters geht es darum, das urbane Subjekt neu zu denken – unsere Städte wurden für lohnarbeitende, häuslich Umsorgte, autonome und konsumfähige Menschen gedacht. Da braucht es nicht nur urbanistische Interventionen, sondern auch genderpolitische und allgemein partizipationsfreundliche.13 Hier liegen die grösseren und gröberen Herausforderungen, denen man nachgehen kann, wenn man von einer neuen Möglichkeit der Stadt ausgeht. Das mag grössenwahnsinnig klingen, ist aber Grundlage einer soliden Kommunalpolitik, die mehr als kosmetische Veränderung will. Die Analysen und Vorschläge der Arbeitsgruppen von Barcelona en Comú arbeiten auf genau solch tiefgreifende Veränderung hin – wenn auch Schritt für Schritt. Denn das Recht auf Stadt ist eine Frage der Beziehungen: Wenn wir fragen, was für eine Stadt wir wollen, müssen wir immer auch fragen, welche Art von sozialen Beziehungen, Verhältnissen zur Natur, welche Lebensstile, Technologien und ästhetischen Werte wir uns wünschen. Das Recht auf Stadt ist weit mehr als die individuelle freie Nutzung städtischer Ressourcen: es ist das Recht, uns selbst zu verändern, in dem wir die Stadt verändern. Weiters ist es ein gemeinschaftliches statt nur individuelles Recht, denn die Veränderung hängt von unserem kollektiven Vermögen ab, Prozesse der Urbanisierung zu bestimmen.14 Deshalb ist die richtige Methodologie für die Stadt eine des Prozesses und der Ethik: sie geht von Differenz und produktiver Heterogenität aus und kann ohne Identität, Moral und Autentizitätsanspruch auskommen. Barcelona en Comú erarbeitet in diesem Sinne eine einzigartige Vision der Stadt, die abgesehen von ihren unzähligen innovativen und restaurativen Massnahmen auch Teil eines grösseren Umdenkens – und Mitdenkens – ist, das heute möglich zu werden scheint. ☁ 🚀 Manuela Zechner ist Forscherin, Kulturarbeiterin und Übersetzerin. 84 Javier Rodrigo Aus dem Spanischen von Nina Höchtl 1 https://firaeconomiafeminista.wordpress.com/ Auf Deutsch empfehlen wir hier Käthe Knittlers Intro Feministische Ökonomie, erschienen 2014 beim Wiener Mandelbaum Verlag (Anm. d. Ü.). Können wir uns eine feministische Ökonomie der Kultur vorstellen? ⛵ Die Definition von feministischer Ökonomie, die von der Messe der feministischen Ökonomie am 14. und 15. Oktober 2014 in Barcelona erarbeitet wurde, ist kurz aber präzise: „Wir verstehen Ökonomie im weiten Sinne als all jene Beziehungen, die es uns ermöglichen, ein würdiges Leben zu führen, ein Leben, das sich zu leben lohnt. Das schliesst Formen von Produktion, Distribution und Konsum ein, die auf Bedürfnissen und Wünschen beruhen, aber auch Arbeitsverhältnisse, die Ungleichheit und Machtverhältnisse meiden, und stattdessen auf Reziprozität, Solidarität und gegenseitiger Unterstützung aufbauen.“1 Warum gibt es nicht mehr Praxen und Debatten, die sich mit den Schnittpunkten zwischen Feminismen, Sozialökonomie und Kultur auseinandersetzen? Zur Organisierung von Kulturarbeiter*innen, zu unseren affektiven Kulturen und zur Frage des immateriellen Kapitals gab es schon Diskussionen. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre, die Verteilung von Macht, Bekanntheit und Gehältern im Kulturbereich zu überdenken, sich also mit der bereits bekannten Feminisierung der Arbeit nicht nur zu Hause, am Arbeitsplatz oder in Alltagsbeziehungen auseinanderzusetzen, sondern auch in kulturellen Institutionen. Es gibt im kulturellen Bereich deutliche Ungleichheiten und eine patriarchale Ökonomie des sozialen und symbolischen Kapitals (vieles davon basiert auf der exzessiven Sichtbarkeit und Hyperausbeutung der Ich-AG). Das Problem ist jedoch nicht gelöst, indem einfach quotenmässig mehr weibliche Direktorinnen und Künstlerinnen in Mussen repräsentiert sind, wenn auch eine Arbeit an den Geschlechterverhältnissen unumgänglich ist (besonders in den öffentlichen Institutionen!). Es ist genauso wenig richtungsweisend, wenn es Direktor*innen oder “queere” Kurator*innen gibt, aber das gleiche Profil oder die gleiche männliche Position in Anspruch nehmen und den institutionellen Habitus so weitertragen. Es reicht nicht, eine gewisse radikale Avantgarde mit ins Boot zu nehmen. Mit Geschlechterquoten werden nicht automatisch die Bedingungen und realen Strukturen der Praxis verändert, denn die Arbeitsteilungen und die Verteilungen des Reichtums bleiben oft genauso einseitig. Ein Beispiel: Auch wenn “Vermittlung” und “Pädagogik” oftmals zentrale Themen für Museen und Kultureinrichtungen zu sein scheinen, geben diese Institutionen in Spanien nicht mehr als 10% ihres Budgets für Bildung, die Schaffung von Öffentlichkeiten und Vermittlung aus. 85 2 englische Zusammenfassung unter http://www. sostenibilitatbcn.cat/index. php/angles 3 Die fábricas de creación sind von der Stadt Barcelona seit 2007 geförderte Kultureinrichtungen in grösstenteils ehemaligen Fabriken, die das kulturelle Schaffen und die kulturelle Produktion unterstützen: http://fabriquesdecreacio. bcn.cat/en 4 Das Ateneu Popular de 9 Barris ist ein 1500m2 grosses Kulturzentrum, das sich aus einem Kampf von Nachbar*innenschaftsgruppen für den öffentlichen Gebrauch des Fabriksgeländes entwickelte und von ihnen auch unterstützt wird, um eine soziale Transformation zu ermöglichen: http://www. ateneu9b.net/ 5 Der Autor bezieht sich hier auf die allgemeine Erarbeitung eines EthikKodex der Stadtbewegung Guanyem Barcelona. Siehe auch den Text von Manuela Zechner zur kulturspezifischen Tagung von Guanyem Barcelona in diesem Heft. Das Problem besteht hier vor allem in der üblichen Perpetuierung einer obsoleten entwicklungs- und produktivitätsorientierten Arbeitsstruktur in der Kultur. Diese Perpetuierung wirkt sich auf jede mögliche Umverteilung des Reichtums aus, die die politische Ökonomie der Kunstinstitutionen und der Kulturpolitiken untergraben müsste. Es wäre notwendig, die Rahmen dieser Ökonomien zu sprengen, um über die üblichen entwicklungsorientierten und meistens auch globalisierenden Diskurse der Gegenwart hinauszugehen. Zum Beispiel in Bezug auf die Regenerierung des Stadtgefüges (siehe auch die Agenda 212 in Barcelona), auf den entstehenden Diskurs der fábricas de creación3 (Kreativfabriken) oder auf die übliche Verherrlichung des gemischten Modells öffentlich-privater Finanzierung als Allheilmittel des neoliberalen Markts und der Kulturindustrien. Warum muss es ein*e Direktor*in sein, der*die als einzelne Person eine Kulturinstitution oder ein Programm führt oder koordiniert und nicht eine gemischte Gruppe von Menschen, eine Bürger*innenversammlung oder andere politische Experimente, die die patriarchale Ökonomie untergraben können? Wir leben untertänig in einer globalisierten Ökonomie der Kultur, die von großen Namen und Stars abhängt. Der gängige Kodex guter Kulturpraxen baut auf der Figur der Direktor*in auf, einer von „Expert*innen“ auserwählten Person mit Verwaltungsautonomie. Keine Spur von Modellen gemischter Teams oder anderer Konstellationen. Und doch kennen wir einige Experimente, die in diese Richtung hin arbeiten: das Ateneu Popular de 9 Barris4, Astra Gernica (soziales Zentrum und kooperative Kulturfabrik im Baskenland) oder der partizipative Finanzhaushalt, der von der Diputación Foral de Álava organisiert und fast drei Jahre lang durch eine Bürger*innenversammlung namens Amarika verwaltet wurde. Ein weiterer Knackpunkt, bei dem feministische Denkweisen nützlich sein können, ist die Verwaltung von Lohn und Umverteilung sowohl des konkreten also auch des symbolischen Kapitals, das ja eine beständige Einnahmekomponente in der Kultur ist. So wie in Barcelona kürzlich ein Ethikkodex in der Politik formuliert wurde5, so sollten die dort diskutierten Vorschläge und Fragen alle Kulturpolitiken und Institutionen gleichermaßen durchströmen. Es wäre zum Beispiel interessant, die Gehaltsschemata in kulturellen Institutionen – von den Direktor*innen über die Saalaufsicht und die Schulgruppenbetreung bis hin zu den Toilettenputzer*innen – neu zu entwerfen. Was sind die Gehälterscheren? Können wir sie benennen? Wie können wir sie verändern? Ein*e Direktor*in eines Kunstmuseums in einer Großstadt kann in Spanien fast 100.000€ pro Jahr verlangen, während diejenigen, die 86 6 https://carrotworkers. wordpress.com/ 7 http://nosotras denunciamos.wordpress. com/tag/vitoria/ 8 Vgl. Transductores (2012) Decrecimiento cultural: Otras formas de políticas culturales, http://transductores.net/ es/content/decrecimiento-culturalotras-formasde-pol%C3%ADticasculturales die Tickets verteilen, die Saalaufsichten oder Führungen machen, nicht mehr als 5 oder 6 € pro Stunde verdienen. Sie werden über Teilzeitarbeitsagenturen in absoluter Prekarität und ohne alle Rechte ausgelagert. Oftmals sind sie Scheinselbständige, teilweise mit Berufsbildern, die mit Bildungsaufgaben zu tun haben. Beispiele von konkreten Kämpfen in diesem Bereich sind jenes der Kunsterzieher*innen der 53. Biennale in Venedig, die 2009 gemeinsam mit der Plattform Pirate Bay und SALE docks (einem Sozialzentrum in Venedig) einen Vermittlungsstreik und eine militante Recherche über die prekären Arbeitsbedingungen der Praktikant*innen durchführten; die Arbeit des Carrotworkers Collective in London, die das Tate Britain zwang, ihre Praktikant*innen zu bezahlen und dabei die Begehrensökonomie der Freiwilligenarbeit in der Kultur demontierte6; oder die juristischen Fälle im staatlichen Kontext, die in Institutionen wie dem MUSAC oder dem Artium Vitoria7 von Kunsterzieher*innengruppen gewonnen wurden. Die feministische Ökonomie stellt das Leben und das Recht auf ein würdiges Leben ins Zentrum. So fragen wir in Bezug auf Kultur: Wo finden die Hausarbeit und die weniger glamourösen Aspekte der Arbeit in den Kulturinstitutionen statt? Wer macht sie? Wie werden sie entlohnt? Warum werden sie bei den transformativen oder materialistischen Diskursen über Kultur nicht mitgedacht? Sind diese Berufe so erbärmlich und verwerflich, dass über sie nicht einmal geredet werden kann? Selbst in den „radikalsten“ Kreisen? Warum sehen wir in den Museen keine Gruppen von stillenden Müttern? Wo sind die Räume der gemeinsamen Bildung in diesen Zentren? In wenigen Debatten im staatlichen Kontext werden diese Fragen so niedrig eingeschätzt wie im Kulturkontext, werden sie so wenig als kollektive Care-Aufgaben zur Sprache gebracht – ungeachtet des großen Booms etwa von Silvia Federici. Ebensowenig wird gefragt, wie diese „schmutzigen“ Jobs kollektiviert und horizontalisiert werden könnten ... und die Fragen gehen weiter: Wie können Räume der Kooperation und gleicher Arbeitsbedingungen zwischen diesen Bereichen geschaffen werden? Warum werden in Krisenzeiten bis zu 300.000 € teure Ausstellungen produziert, in denen nicht einmal 10% des Projektbudgets in Bildungsprozesse und lokale Arbeitsnetzwerke fliessen? Wo bleiben Reproduktion und Hausarbeit in Kulturinstitutionen? Mit einer feministischen Ökonomie der Kultur geht ein Ansatz zum degrowth der Kultur einher.8 Wenn die Sozialökonomie kulturelle Praktiken durchläuft, sollte ein erster Schritt sein, den Extraktivismus und das Monopol bestimmter Serviceunternehmen in Museen, 87 Kulturinstitutionen und -praktiken zu vermeiden. Wozu diese Monokultur von Unternehmen wie Focus, Ciutart oder Magma? Wer sagt, dass deren Dienste wirklich effektiv sind? Wer sind die Manager*innen und Funktionär*innen, die die Ausschreibungsvoraussetzungen kalibrieren? Sind wir in der Lage, grüne Gütesiegel wie jene von agro-ökologischen Kooperativen zu generieren? Vorrichtungen, die faire Arbeitspolitiken und Rahmenbedingungen in der Kultur gewährleisten? Können wir Bürger*innenvereinbarungen und Ausschreibungen erproben, die auf den Prinzipien und den Politiken der sozialen und lokalen Ökonomie basieren? Wie würden sich diese in Gemeindezentren, kulturellen Projekten und Events wie einem Filmfestival oder einem Musikfestival auswirken? Können wir von den Produktionsökonomien auf „langsame“ Ökonomien des aktiven Zuhörens übergehen, so dass wir Politiken des kulturellen degrowth generieren? So wie die feministische Ökonomie das gute Leben sucht, bringt sie auch das gute Teilen mit sich. Für diesen kollektiven Aspekt ist die Würde der Teilung zentral: Wie gehen wir diese Frage in kulturellen und politischen Räumen an? Warum müssen wir für Kultur bezahlen, Eintritte in Museen oder hohe Preise für den Konsum bestimmter kultureller Produkte? Warum schaffen wir nicht Bedingungen dafür, dass öffentlich subventionierte Produktionen und Materialien immer mit freien Lizenzen zirkulieren und commonsbasierten Kulturmodellen folgen? Warum regenerieren wir nicht andere Kulturmärkte und Formen der Verbreitung, durch das Experimentieren mit Zeitbanken, Dieser von Nina Höchtl Gemeinschaftswährungen und Kooperativen des Konsums und der übersetzte und von Kulturproduktion? ☁ Manuela Zechner überarbeitete und leicht gekürzte Text findet sich im (castillanischen) Original auf der (katalanischen) Nativa-Webplattform: www.nativa.cat/2014/11/ es-posible-una-economiafeminista-de-la-cultura/ 🚀 Javier Rodrigo lebt in Barcelona und ist Forscher und Kunstvermittler. 🚚 Nina Höchtl arbeitet als Artist Researcher, an queerfeministischen Fragen und ist Vorstandsmitglied der VBKÖ. 88 Antonio Negri und Raúl Sánchez Cedillo Die mögliche Emanzipation in Spanien und Europa (1) Heute ist die Demokratie eine wilde und konstituierende Demokratie Aus dem Italienischen von Gerald Raunig 1 Mit „Vorhängeschloss“ ist die seit 1978 andauernde Blockadepolitik der etablierten Parteien in Spanien gemeint, die jede progressive Verfassungsreform verhindert. Der Ausdruck zirkulierte schon länger, wurde aber von Pablo Iglesias in seiner ersten Rede als Generalsekretär von Podemos aufgegriffen und popularisiert. https://www. youtube.com/watch?v=_ aCG6sSzypQ 🏇 Die GenossInnen, die Podemos ins Leben gerufen haben, sagen: Es ist uns gelungen, in positiver Weise der begrenzten Horizontalität der Bewegung zu entkommen, die so reich ist und zugleich oft auch so fruchtlos. Es ist uns gelungen, und zwar mit einer politischen Geste der Selbstkonstituierung, der Organisation und der Repräsentation. Wir hatten den Verstand zu begreifen, dass der Raum zwischen den Kommunal- und den Parlamentswahlen, zwischen Mai und Ende des Jahres 2015, die einzige Möglichkeit ist, „das Vorhängeschloss von ‚78“1 aufzubrechen: In der Zeit der Wahlen ist der Gegner gezwungen, sich über das ganze Territorium auszudehnen – die verfassungsmäßigen Garantien der Freiheit funktionieren besser als unter anderen Bedingungen, sie werden zu möglichen Zonen des Bruchs mit dem gegenwärtigen Regime, das zutiefst diskreditiert und gespalten ist. Dann aber wird die kapitalistische Front Ende 2015 vielleicht in der Lage sein, ihre Offensive neu aufzustellen und sich neu zu organisieren, nachdem sie auf unseren Widerstand auf harte Weise reagiert, ihn vielleicht sogar vernichtet haben wird. Die historische Chance wird dann für lange, für zu lange Zeit vorüber sein. Das alles räumen wir ein. Die GenossInnen von Podemos sind die einzigen in Europa, die ernsthaft versucht haben, diesen Übergang zu unternehmen: Sie waren es, die, ausgehend von einer Bewegung von unerhörter Kraft und Neuartigkeit, eine vertikale Achse aufgebaut haben; sie waren es, die ohne Demagogie und Ausflüchte einen Ausweg aus dem „Basisdemokratismus“ beschritten haben, der am Ende angesichts der zeitlichen Erfordernisse und in der Beschaulichkeit seiner Horizontalität zur Ohnmacht neigte. Nur Baron Münchhausen fabulierte, dass er es allein schaffen würde, sich am Zopf aus dem Schlamm zu ziehen und zu fliegen ... Podemos ist es gelungen. Nun ist es aber, um weiter zu gewinnen, nicht nur notwendig, über den Gegner nachzudenken – wie man ihn schlägt, ihn desartikuliert, ihn jede politische und konstitutionelle Bedeutung verlieren lässt. Es muss sicher sein, dass man, was man hierfür tut, im selben mehrheitlichen und radikaldemokratischen Maßstab tut, aus dem es geboren wurde. In diesem Prozess dürfen keine Engpässe erzeugen werden, weder räumliche noch zeitliche. Nur ein Beispiel: Die Italienische Kommunistische Partei, auf die sich die TheoretikerInnen von Podemos so bereitwillig beziehen, verlor als neuer Samson alle Kraft, die Haare wurden ihr geschnitten und sie wurde vom Feind gefangen genommen, 89 2 Eine Mischung der Akronyme des sozialistischen PSOE und des konservativen Partido Popular, ironische Erfindung der 15M-Bewegung, vor allem seit sich beide Parteien der Sparpolitik und den Regeln der Troika untergeordnet haben. als sie diesen Leitsatz vergaß. Der Engpass nannte sich damals „Autonomie des Politischen“. Leicht wird dieser Engpass zur Schlinge, die sich um jedeN schließt, die/der nur den Finger hineinsteckt – und manchmal auch den Hals. Die vor mehr als einem Jahrhundert ausgearbeitete politikwissenschaftliche Kritik der politischen Partei ist in dieser Hinsicht mehr als deutlich: nicht nur in Bezug auf die Grenzen der Bürokratisierung der Partei-Struktur (auf der diese Theoretiker bestanden, die als Männer der Rechten, die sie waren, die im Entstehen begriffene Stärke der ArbeiterInnenparteien denunzierten), sondern vor allem in Bezug auf die Eigenheiten des Befehls, der Ausrichtung, des Führerkults, des „Charismatischen“, all dessen, was die „Autonomie des Politischen“ ausmacht. Dies war eine richtige Analyse der Tendenz und damit auch eine Bedrohung (eine unter tausenden, aber eine besonders treffende), die im Kampf jener Politikwissenschaftler gegen die Parteien des Proletariats gewandt wurde. Bis hierher bewegen wir uns innerhalb der Grenzen, die wir als „räumliche“ bezeichnet haben. Daneben gibt es auch „zeitliche“ Grenzen, die mit der „Autonomie des Politischen“ verbunden sind. Wir gehören sicherlich nicht zu denen, die die Möglichkeit bestreiten, Wahlzeiten oder soziale Verfallsdaten der Krise auszunutzen und auch nicht zu jenen, die die Notwendigkeit bestreiten, den wunden Punkt der Befehlskette zu treffen, vor allem zu genau jenem Zeitpunkt, an dem die Kräfte des sozialen Protests der BürgerInnen am stärksten sind. Aber Achtung: Es ist nicht einfach, die Regierung auszuüben. Es kann nicht nur darum gehen, es einfach zu tun. Dies umso mehr in den derzeitigen Governance-Regimen, in denen die Kontinuität der Handlung nicht nur in einem langjährigen Zyklus gehalten werden muss, sondern aus einer Abfolge von pünktlich eingehaltenen Terminen besteht. Es ist die Fähigkeit des Gegners (Rechtsnationale und / oder „PPSOE“2, nationalistische Projekte der katalanischen Hauptstadt, europäische und globale Troikas etc.), den Gegenangriff auf unbestimmte Art zu zerstückeln. In dieser zeitlichen Dimension und angesichts dieses Gegners ist es essenziell für die Tätigkeit einer von Podemos übernommenen Regierung, sich innerhalb der Bewegungen zu bewegen. Die bolivianischen GenossInnen haben es gut verstanden, für eine lange Zeit Regierung und konstituierende Versammlung zusammen zu leben. Es war ein Durcheinander – aber was für ein starkes und lebendiges Durcheinander! Das Problem der Regierung „in der Zeit“ ist nicht nur ihre Wirksamkeit, sondern vor allem die Unumkehrbarkeit ihrer Errungenschaften. Wer mit der „Autonomie des Politischen“ flirtet, endet damit, die Entwicklung der Demokratie an der Basis als zweitrangig zu den90 ken. Manchmal kann man sich Formen der Führung sogar nur durch eine charismatische Schlagkraft als stark vorstellen: manchmal ist das auch tragischerweise das, was geschehen ist. Aber es ist uns nicht gegeben: Wir wirken gerade darauf hin, endgültig aus den Weber‘schen Dilemmata des bürgerlichen Befehls auszusteigen, die bisher nur autoritäre Lösungen für jene sozialen Konflikte legitimiert haben, die die Kämpfe auf die Höhe des Politischen führten. Aber kehren wir zum zentralen Problem zurück: von der Horizontalität zur Vertikalität, von der Agitation und vom Widerstand der Bewegung zur Regierung. Podemos fordert von allen GenossInnen, ausgehend von dieser Ebene zu denken. Ist es die Ebene der Zentralregierung? Mag sein. Die Ebene der Regierung der Großstädte? Das ist noch näher und möglicher. Aber kann es nicht gerade nur dann, wenn man die Aktion aller BürgerInnen auf eine starke Erneuerung der Stadtregierung lenkt – kann es nicht nur in diesem Fall ein nahes, greifbares Beispiel eines wirksamen konstituierenden Projekts geben? Ja, für uns scheint das der Fall zu sein – weil die Stadt und das Gemeinsame, das städtische Leben und seine Formen der Begegnung kompakte Figuren der Verwaltung und der konstituierenden Initiative bilden können. Die acampadas in den Metropolen, in den Städten und auch in den kleinen Dörfern sind Formen der konstituierenden Begegnung gewesen, die zeigen, wie die metropolitanen Lebensweisen allgemein ausgedrückt jetzt schon politische und produktive Formen sind. Im Zusammenspiel von Demokratie und (Re-) Produktion der Stadt haben wir die Möglichkeit, das Politische zu artikulieren; das heißt, den Willen zu gewinnen mit der Fähigkeit zu verbinden, Entscheidungen in einem breiten, pluralen und aktiven Netz der militanten Präsenz und der Produktion von Programmen zur Transformation zu treffen. Da, in der Mitte, liegt die Regierung. Und genau da wird auch das Problem Foucaults leibhaftig, „wie wir regiert werden wollen“. Und vor allem von da aus, von den Stadt- und Gemeindeverwaltungen, ergibt sich die Möglichkeit, die Regierung auf staatlicher Ebene aufzubauen, Stein auf Stein zu setzen. In einem biopolitischen Regime (in dem Befehl, Leben, Produktion, Affekte und Kommunikation sich verflechten und mischen wie in einem Labyrinth) sind Sprünge schwierig, wenn nicht unmöglich – auch in der alten Politik war es so, und wenn es Sprünge gab, manchmal auch heroische, war es zu oft notwendig, umzukehren, jenes zu schnell durchquerte Terrain mit künstlichen Institutionen zu bedecken. Die Horizontalität zu vertikalisieren bedeutet nicht nur das Vermögen zur Grundsatzentscheidung, zur Regierung, zur Führung eines „Bewegungskriegs“ zu erringen, sondern auch und vor allem sich auf eine breitere Sicht von oben erhoben 91 3 Die 15M-Bewegung bündelte von 15. Mai 2011 an mit ihren Platzbesetzungen den Widerstand gegen die spanische Austeritätspolitik und erprobte dabei neue Formen der Organisierung 4 Im spezifisch spanischen Kontext versteht sich der Hinweis auf die „Mehrheit“ einerseits als ein Echo auf den occupy-Slogan von den 99% in der 15M-Bewegung, andererseits als Interesse an einer alternativen Form von Organisierung und (Selbst-)Institutionalisierung, wie es von den Neugründungen nicht nur von Podemos, sondern auch Partido X, Guanyem und Ganemos vertreten wird. Der hier abgedruckte Text ist Teil einer vierteiligen Artikelserie der beiden Autoren zur politischen Lage in Europa, laufend publiziert auf der multilingualen Plattform von transversal texts, transversal.at. 🚀 Antonio Negri ist politischer Philosoph und lebt in Paris. Raúl Sánchez Cedillo ist Aktivist und Mitglied der Universidad Nomada www.universidadnomada. net) und der Fundación de los Comunes http://fundaciondeloscomunes.net/ und lebt in Madrid. zu haben: und so erschließt es sich, wie der Bewegungskrieg sich nicht lohnt, wenn die eroberten Positionen, die verteidigten Fronten nicht gehalten, konsolidiert und nach und nach entwickelt werden. Die Regierung muss dafür sorgen, die Macht der BürgerInnenorganisationen zu garantieren, sagte man vor nicht langer Zeit in Lateinamerika, solange die progressive Bewegung erfolgreich war; denn nur in diesem Fall ist die Zentralregierung sicher vor improvisierten oder organisierten Rückschlägen. Sicher vor wem? Nicht mehr nur vor jenem Gegner, den wir kennen, vor den reaktionären Kräften, denen wir gegenüberstehen, sondern vor einer viel stärkeren Hierarchie, die durch Europa hindurch aufwärts geht, bis zu den Regierungsspitzen des Finanzkapitals. Die Erkenntnis, keine Angst zu haben und angesichts dieser Kräfte gewinnen zu können, ist ungeheuer. Aber achtet darauf, nicht den Teufel herauszufordern, der aus der Tiefe der Auseinandersetzung noch zum Vorschein kommen kann. Unsere Stärke bleiben die acampadas, die Gemeindeverwaltungen, die mareas, die Bewegungen – mit anderen Worten all das, was die 15M-Bewegung3 möglich und praktikabel gemacht hat. Manchmal steht zu vermuten, dass für die UnterstützerInnen von Podemos die Dimension der Macht [poder] eine getrennte Dimension ist. Das ist falsch: Macht ist ein gesteigertes Vermögen zu handeln, sie ist eine Perspektive der Aktion zu und in den politischen Beziehungen, doch „die Macht“ [Poder] und „die Politik“ gibt es nicht. Politik ist nichts anderes als die vielfältigen und unterschiedlichen Abstufungen der Gegenmacht. Und doch pochen die FührerInnen von Podemos innerhalb und außerhalb der Organisation darauf: „Zuerst übernehmen wir die Macht, dann widmen wir uns dem Programm.“ Die „Autonomie des Politischen“ kann eine unheilvolle Theorie werden, wenn sie in der Überschätzung der Institution und der Wirksamkeit des staatlichen Befehls den materiellen Ursprung und die Legitimität des Fundaments des Politischen bestreitet. Die Repräsentation, die die VertreterInnen von den Vertretenen trennt, dieser „allgemeine Wille“ (den man „Volk“ oder „Volkseinheit“ nennt), der für die VertreterInnen einen mystischen und unanfechtbaren Grund erschafft – nein, das ist es nicht, was von Interesse ist für die Bewegungen. Das Wichtigste ist es, den Fluss der politischen Bewegung (wieder)herzustellen, ein offenes System der Governance von unten, das Bewegung und Regierung zusammenhält – durch die andauernde konstituierende Debatte und einen andauernden Ausbau dieser Debatte den BürgerInnen gegenüber. Es besteht die Möglichkeit, diese Brücke zu bauen, dieses Gemeinsame – wenn alle sich dieser Notwendigkeit beugen, die da heißt: „Mehrheit sein“4. Das ist die entscheidende Ermächtigung. ☁ 92 Ausfahrt Fläche statt Tiefe. Gegen das neue Lob der Vertikalität � Uns scheint, es gibt neuerdings eine seltsame Häufung von sehr unterschiedlichen Stimmen, die die Anrufung der Vertikalität betreiben. So zum Beispiel die Tendenz, (pseudo)horizontale postfordistische Produktionsweisen und ihre Inwertsetzung von Affekten, Kooperation und Kommunikation als ubiquitär zu beschreiben und damit gleich auch jede Form von horizontalem Austausch zu denunzieren. Und wenn noch im gleichen Atem der fehlende Tiefgang zeitgenössischen Denkens im Kulturbetrieb aufgeworfen wird, handelt es sich meist um einen alten Topos. Die wiederkehrende Klage über die Oberflächlichkeit der Welt, die uns zur Mittelmässigkeit tendieren lasse und die neue Formen der Gleichmacherei erzeuge, ist nichts als die fade Wiederholung einer kulturpessimistischen Figur, die in ihrem Beharrungsvermögen die alten Eliten oder das Begehren nach neuen affirmiert. Gerade auf dem Terrain der postfordistischen Produktion ist die Inwertsetzung von Partizipation und das Sprechen über Beteiligung und Mitbestimmung tatsächlich vor allem ein strategisches Moment der Indienstnahme im Betriebsmanagement wie in der Stadtpolitik: Sprechen-Lassen, zur-Sprache-Bringen, Sprechen-um-des-SprechensWillen. Diese Facette erscheint als karikierte Vereinnahmung der Autonomie als Fluchtlinie emanzipatorischer sozialer und politischer Bewegungen. Insofern haben Kooperationsanrufung und Bürger_innenbeteiligung als herrschaftssichernde Ressourcen wenig mit Versuchen konsensueller Entscheidungsprozesse und basisdemokratischer Selbstorganisierung gemein. Vor diesem Hintergrund geht es darum, die Ströme der sozialen Kooperation an den Oberflächen anders zu reterritorialisieren, anders als es die Zwänge zeitgenössischer Produktion vorgeben, aber auch anders als in „alten Zeiten“: nicht als Besetzung eines homogenen Raums, nicht als Tiefenbohrung oder Höhenflug in eine exklusive Sozialität, nicht als Wiedergewinnung der Souveränität in Form einer alten Gemeinschaft oder der Mehrheit innerhalb eines territorialen Staates, sondern als flache Neuzusammensetzung des Gemeinsamen. Fläche statt Tiefe. Mannigfaltigkeit statt erhabener Höhe. Das Vertikale ist immer von oben nach unten gedacht, wie die Linie, die eine Schnur mit einem Senkblei verlängert. Was wäre dagegen, wenn es keine vertices, keine Spitzen, keine Gipfel gäbe, keine Höhen, keine Tiefen, wenn wir uns diesmal nicht die Erde, sondern unsere Sozialität als flach vorstellen würden, die Welt als eine Konsistenzebene von flachen Mannigfaltigkeiten? Wie wäre es, wenn wir diese Mannigfaltigkeiten 93 gerade als auf den Oberflächen herumspukend imaginieren würden? Was wenn sich alles an der Oberfläche abspielen würde, nichts darunter? Wenn es keine Tiefe der Seele, keine Tiefe des Staates mehr gäbe? Die Frage ist nicht, wie man „der Postmoderne“ die mangelnde Tiefe beibringt, wie man der alten bürgerlichen Öffentlichkeit ihre Höhe und Erhabenheit zurückgibt, wie man Vertikalität wiederherstellt in einer vermeintlichen Welt der Gleichmacherei und des Relativismus. Vielmehr stellt sich uns das Problem, wie vor dem Hintergrund der Funktionsweisen postfordistischer Produktion Horizontalität auf ihrem emanzipatorischen Gehalt insistieren oder wieder emanzipatorische Gestalt annehmen kann. Doch auch in den Analysen der neuen linken Bewegungen in Europa häuft sich der Ruf nach der Vertikalität. Hier ist es eine doppelte Ungeduld, die die Rufenden treibt. Ungeduld mit den behäbigen Geschwindigkeiten horizontaler Verhandlung, zugleich Ungeduld mit den Suchbewegungen, die eine Verortung der Bewegung innerhalb und jenseits der traditionellen Politik bestreben – sei es in neuen Parteien, sei es in neuen institutionellen Organisationsformen, die über die Parteiform hinausgehen. Diese Ungeduld kann sich als molekular-revolutionäre Ungeduld des Antreibens neuer instituierender Praxen, neuer Formen des sich beharrlichen „Selbst-Einrichtens“ erweisen, sie kann sich aber auch in alte Formen der Institutionalisierung einschliessen. Wenn einzelne Diskurse aus der Bewegung im Beschleunigungsversprechen vertikaler Entscheidungsprozesse ein neues emanzipatorisches Potenzial vermuten und sich die Frage politischer repräsentativer Verantwortung als „historische Chance“ artikuliert, kann die Kraft des Sich-selbst-Einrichtens schwinden, und mit ihr die Weigerung, sich einrichten zu lassen. Wenn es also einen weiteren Vektor, eine weitere Richtung braucht, die zur Horizontalität hinzutreten soll, dann nicht die Vertikalität, sondern die Transversalität, die Linie, die getrennte Vorstellungen von Basisdemokratie und Repräsentation durchquert. Manchmal ereignen sich Überschneidungen, Wechselwirkungen, gegenseitige Verstärkungen von instituierenden Praxen und Institutionen des Gemeinsamen. Die Instituierung des Gemeinsamen kann aber von beiden Polen ausgehend vorangetrieben werden – in konfliktueller Komplementarität, in der Schaffung einer Konsistenzebene von flachen Mannigfaltigkeiten, eher mit Sicht auf immanente Horizonte als in Erwartung der auf einen Mittelpunkt, eine Einheit, eine_n Autor_in ausgerichteten Vertikale. Und wenn auch die Subjektivierungsweisen und die Formen der Zeitlichkeit mannigfaltig, einander überlappend, manchmal widersprüchlich sind: Es gibt keinen einfachen Ausweg aus der Horizontalität, 94 die ein wichtiges Feld der Austragung der komplexen Asymmetrien von sozialen Bewegungen darstellt. Das ist also keine Frage von Ohnmacht und Macht, sondern von dauernd sich verändernden Machtverhältnissen. Es bedarf dauernder Diskussionen über die Asymmetrien dieser Machtverhältnisse und über die Gefahr ihrer Verdrängung und Verdeckung, auch und gerade durch Begriffe wie Horizontalität oder radikale Inklusion. Dennoch braucht es neben der molekular-revolutionären Ungeduld auch die Beschaulichkeit, die Langsamkeit, Formen des Aussetzens in der horizontalen Praxis und eine tendenziell alle umfassende Inklusion. Inwiefern die (neuen) linken Parteien schlicht der „Majestät Masse“ huldigen, sei es als altehrwürdiges „Proletariat“, als „Volk“ oder im Slogan der „99%“ und über populistische Konstruktionen versuchen, Mehrheit zu werden, oder ob es innerhalb der parlamentarischen europäischen Demokratien entgegenlaufende Logiken des Repräsentierens und Regierens gibt, wird sich erst noch zeigen. Und selbst die neuen Parteien sind nicht immer Werkzeuge oder Agentinnen der Beschleunigung, sondern geradezu umgekehrt eher Bremse. Insofern ist Syriza als (Not-)Bremse zu verstehen, die versucht, mit einer neuen Regierung die Highspeed-Zermalmung aller staatlicher sozialer Institutionen und das allgemeine Ausweiden der kulturellen, sozialen und physischen Umwelt durch die in ihrem Höhenflug und Machtschwindel gefangene dreifaltige Spitze Europas zu bremsen. Syriza soll der Keil sein, der im richtigen Moment zwischen die Zahnräder der europäischen Finanzpolitik gesteckt wird. Es geht aber nicht primär um den Keil an sich, sondern um das Stoppen der Zahnräder. Darum, auch auf Regierungsebene anzusetzen und ein anderes Europa zu entwickeln, welches dem immer wieder neu erzeugten und verstärkten Nord-Südgefälle innerhalb Europas und der exzessiven Sparpolitik etwas entgegensetzt. Der Widerstand geht einher mit der Invention dieses neuen Europas, verstanden als ein emanzipatorisches Projekt. Die Stärke der sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte zeigt sich gerade dort, wo es ihnen gelang, eine transnationale Dimension zu erreichen, ohne ihren eurozentristischen Charakter (gerade im deutschsprachigen Raum) zu bestreiten. Wie das viel kritisierte „Event-Hopping“ der Gipfelstürmer_innen, die No-Global-Proteste davor und danach gerade in Europa ohne aussereuropäische Funken wie den Aufstand in Chiapas oder der Aktivist_innen der indischen Bauernbewegung nicht zu denken waren, so die Platzbesetzungen der M15-Bewegungen und der Occupy-Bewegung nicht ohne die Aufstände im arabischen Raum. Ebenso stehen die aktuellen kurdischen Kämpfe auch für einen ausdrucksstarken Versuch, soziale Beziehungen zu 95 Impressum Herausgeber_in, Verleger_in, Medieninhaber_in: Kamion. Verein für Wissenstransfer und Medienproduktion, Stuwerstr. 25/5, 1020 Wien. Redaktion: Clemens Apprich, Nina Bandi, Ljubomir Bratić, Christoph Brunner, Clemens Christl, Petja Dimitrova, Tyna Fritschy, Simone Gaubinger, Simon Graf, Therese Kaufmann, Patricia Köstring, Daniela Koweindl, Niki Kubaczek, Sandra Lang, Radostina Patulova, Gerald Raunig, Vera Ryser, Catrin Seefranz, Florian Sorgo, Carlos Toledo, Sophie Uitz, Manuela Zechner. Mit Beiträgen von: Sofia Bempeza, Nistiman Erdede in Zusammenarbeit mit RAF-Aktivist_innen, Stefano Harney, Antonio Negri und Raúl Sánchez Cedillo, Javier Rodrigo. Grafik & Layout: Toledo i Dertschei und Sonia Garziz. Erscheinungsweise: 2x jährlich. Jahres-Abo: € 13 (inkl. Porto). Einzelheft: € 7 / 3,50. Kontakt und Bestellungen: diekamion.org, redaktion@diekamion.org 96 Einfahrt 🚎🚎🚎 Aus den Kreisläufen des Rassismus – nicht ein Kreislauf, nicht ein Rassismus. Vor der Vielschichtigkeit dieser Ausgangslage fragen wir in diesem Heft nach den Verhältnissen von Rassismus und Ökonomie, so wie sie sich in ihren Verfahren und Aktivitäten gegenwärtiger Zirkulation präsentieren. Die Fragen der Logistik, beziehungsweise logistischer Formen des Kapitalismus, nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein. So führt Stefano Harney in seinem Beitrag aus: „Ich spreche vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und seiner grausamen Fracht“. Diese historische Dimension einer Biopolitik schreibt sich ebenso in die Wissenspolitiken eines akademisch geführten kritischen Rassismusdiskurses ein wie auch in neue Verfahrensweisen der Schließung möglicher Intervalle des Widerstands. Kamion #1 nimmt ihren Ausgang in der Zirkulation, wie sie zum einen als Einfassung und Regulierung auftritt und zum anderen ausbricht aus den logistisch abgestimmten Kreisläufen hin zu neuen Möglichkeiten politisch widerständiger Aktualisierung. Das aus im Titel verweist nicht nur darauf, dass wir Einblicke in verschiedene Konstellationen von Rassismus und Ökonomie gewähren, sondern auf ein immanentes Austreten oder Ausbrechen aus ihnen. Dies schließt die interventionistische Dimension der Texte mit ein. Am explizitesten fordert dies der Beitrag aus dem Umfeld des Raumes für Autonomie und Ferlernen (RAF-ASZ) ein. „Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention“ steht als erster Satz eines Textes, der eine Intervention in den Organisationszusammenhang der kritnet-Tagung 2015 in Zürich zum Ausgangspunkt nimmt. Die Intervention: Der Auszug einer Gruppe von Aktivist_innen des RAF-ASZ aus dem Organisationsprozess der Tagung. Ausgehend von der performativ und diskursiv doppelt geäußerten Kritik fragen die Autor_innen nach den Möglichkeiten einer Wissensproduktion, die sich als politische Intervention zu den kritisierten Verhältnissen positioniert. Diese Befragung als wiederkehrendes Moment ist für das Publikationsprojekt kamion ebenso von Relevanz wie der Kontext kritnet. So bildet die vom 26. bis 29. März 2015 stattfindende Kritnet-Tagung mit dem Thema „Rassismus und Ökonomie“ die inhaltliche und organisatorische Klammer und Inspiration des Produktionsprozesses dieser Nummer. Das gedruckte Heft – und das ist nicht unerheblich für ein Heft, das wiederholt Logistiken und Materialitäten anspricht – liegt denn auch als Beitrag zur Tagung auf, um sich materiell in die Wissenskreisläufe vor Ort einzuspeisen. transformieren, nationalstaatliche Grenzziehungen zu unterlaufen und andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Die Geschichte und Praxis der emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist in dieser Betonung auch ein kleiner Versuch, Europa zu provinzialisieren und der linken Neuerfindung Europas andere und über Europa hinausgehende Bündnisse entgegenzusetzen. Der (supra)nationale Rahmen birgt die Gefahr, dass die „soziale Frage“ sich über den politischen Weg zur nationalen transformiert. Im Fokus steht zu Recht die Fiskalpolitik der EU, identifiziert mit der Stärke Deutschlands, die Kritik richtet sich gegen die Finanzspitze, den Wahnsinn des aktuellen Schuldensystems. Gleichzeitig zeigt sich gerade da, dass die Frage, wie sich Produktion, Reproduktion und Distribution organisieren lassen, sich nicht (nur) über die Finanzmärkte regeln lässt. Im besten Fall von staatlicher Politik wohlwollend flankiert, oft eher mit ihr im Widerstreit, geht es darum, alltägliche Bedürfnisse und Begehren selbst zu organisieren, neue Formen des Zusammenlebens zu erfinden, der kontinuierlichen Arbeit Zeit zu lassen und instituierende Praxen des Gemeinsamen zu entwickeln, um zumindest ab und zu dem Kapitalverhältnis und den staatlichen Regierungsweisen zu entwischen. Solidarische Ökonomien, Quartiersversammlungen, Selbstorganisierungen der Reproduktionsarbeit über patriarchale Familienund Geschlechterverhältnisse hinweg, aber auch Betriebs-, Fabriks- und Theaterbesetzungen. Es geht aber offensichtlich nicht nur um den Widerstand, sondern auch darum, ein anderes Europa als das des Nord-Südgefälles und der exzessiven Sparpolitik zu erfinden. Obwohl eine Partei (wenn sie denn radikal genug ist) an einem solchen Projekt oder solchen Projekten mitarbeiten kann, können die Inhalte nicht „von oben“ kommen, vom Senkblei der Vertikalität nach unten getragen. Sie wachsen nicht spontan in den Köpfen von ein paar geschickten Parteistrateg_innen, die sie dann in einem schönen Punkteprogramm auflisten. Diese Inhalte, Begehren und Bedürfnisse und die Formen möglicher neuer Institutionen entstehen immer wieder in der transversalen, langwierigen und kontinuierlichen Arbeit, den langsamen Quartierversammlungen, der Mannigfaltigkeit sozialer Bewegungen. ☁
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