STADTGÄRTEN ELISABETH MEYER-RENSCHHAUSEN The next big Trend Urban Agriculture – Rückkehr der Subsistenzwirtschaft? Selbstversorger-Landwirtschaft, bisher als Subsistenzökonomie der Frauen von links bis rechts verachtet, kehrt zurück. Guerilla Gardening, »Urban Agriculture«, interkulturelle Gärten sind in. »Mein Leben als Schrebergärtner« wird ein Bestseller. Weltweit sehen wir ein längst erloschen geglaubtes Interesse am Eigenanbau von Gemüse. Oft nachbarschaftlich gemeinsam. Es geht um grüne Städte und »essbare Landschaften«. Vor allem in den USA ist das ein demonstrativer Protest gegen die Diktate der großen Lebensmittelkonzerne. V Kommune 3/2010 or glitzernden Hochhäusern ein Gemüsebeet inmitten eines ansprechenden Parks: Schulgärten in Chicago. Ohne Zaun wachsen zarte Gemüsepflänzchen für jedermann sichtbar. Der Gemüsegarten prangt auf dem Titel des Buches Urban Agriculture – Cities Farming for the Future, herausgegeben vom Institut für Rural and Urban Agriculture RUAF. Eines der wenigen agrarwissenschaftlichen Institute in der Welt, das sich um städtische Landwirtschaft kümmert. Die Idee stammt aus den Städten des globalen Südens, vor allem aus Südamerika. Dort ernährt städtische Subsistenzwirtschaft viele erwerbslose Menschen in den Spontansiedlungen. In den Favelas. Bereits seit Jahrzehnten.1 Mittlerweile hat der innerstädtische Gemüseanbau auch uns erreicht. Dessau und Leipzig sind mit die ersten Städte, die aus der Krise eine Chance zu machen verstehen und die neu entstandenen Brachflächen nutzen, um die Lebensqualität in der Stadt zu erhöhen. Sie bieten die Brachflächen den Bürgerinitiativen aufgeteilt in 400 Quadratmeter großen Stücken an. Die Bürger können Gemeinschaftsgärten, Krautäcker oder, wenn sie unbedingt wollen, auch Agrardieselfelder anlegen. Sie können auch Skaterbahnen bauen oder aufforsten. Die Kleinstadt Pulheim bei Köln hat das Konzept übernommen und plant dezidiert einen Parkgürtel, in dem die Menschen auch gärtnern können. Die Idee des »sich selbst tragenden Parks« stammt von dem berühmten Landschaftsarchitekten der 1920er-Jahre, Leberecht Migge, der dafür eintrat, öffentliche Parks durch Anhängsel aus Kleingartenkolonien zu erweitern.2 Wichtig war ihm, dass die Kleingärten von Anfang an eine spaziergängerfreundliche Durchwegung erfuhren und im Sommer bis zum Sonnenuntergang offen gehalten wurden. Diese Idee wurde in sozialdemokratisch dominierten Großstädten der 1920er-Jahre verschiedentlich umgesetzt, in Frankfurt am Main ebenso wie in Berlin. Heute gibt es wieder in Toronto, Seattle, München oder Berlin interkulturelle GemüseGärten in öffentlichen Parks. In München hält die Kommune am Stadtrand Äcker als Grabeland oder für Selbsternteprojekte bereit und ist auf diese neuen »Krautgärten« mordsstolz. Meist jedoch ist das Verständnis für das neue Gärtnern von öffentlichen Bauherren noch unterentwickelt. Die Landschaftsplaner in den Verwaltungen halten Gärten für etwas »Privates«. Sie kommen nicht weg von der Idee, dass Schrebergärten spießig sind. Sogar rot-grüne Behördenvertreter haben wenig Verständnis für die Begeisterung der Jugend für städtische Landwirtschaft. Stattdessen, so der Hannoveraner Stadtsoziologe Wulff Tessin, schwärmen die städtischen Landschaftsplaner immer noch für eine Parkgestaltung nach den Prinzipien des Minimalismus. Obwohl diese Gärten für die meisten Menschen grässlich langweilig sind.3 Imponierende Weiten oder Eigenarbeit und Selbsthilfe? Food Not Lawns – How to Turn your Yard into a Garden and Your Neighbourhood into a Community (Essen statt Rasen – Wie Du Deinen Hof in einen Gemüsegarten verwandeln kannst und Deine Nachbarschaft in eine lebendige Gemeinschaft) – so das neue Buch der Landschaftsplanerin Heather C. Flores. Für die Ökoaktivisten von der Westküste der USA sind Rasenflächen eine aristokratische Attitüde von Adeligen. Die wollten vor etwa 250 Jahren damit imponieren, wie viel Land sie besaßen. Da die Adeligen den französischen Bauern infolge ihrer Gier nach Grund und Boden zu wenig Ackerland ließen, waren entschädigungslose Landreformen eines der ersten Ergebnisse der französischen Revolution. Heute, so die US-amerikanischen »food-not-lawns«-Umweltaktivisten, können wir es uns nicht mehr leisten, Land und Wasser für stupide Rasenwiesen zu verschwenden.Was jetzt ansteht,ist die lokale Lebensmittelproduktion für die Selbstversorgung.4 Dieses Verständnis fehlt dagegen der Broschüre »Das Grüne Berlin« der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Hier werden die alten Horte städtischer Landwirtschaft, die berühmten Berliner Schrebergärten, wie auch die neuen, die Gemüse anbauenden interkulturellen Gemeinschaftsgärten, auf gerade mal zwei bis drei Seiten abgehandelt.5 Das ist erstaunlich. Denn Berlin wurde innerhalb von nur sechs Jahren die Hauptstadt einer neuen Gartenbewegung. In Berlin entstanden binnen von nur sieben Jahren 20 interkulturelle Gärten, also gemeinschaftlich bestellte Gemüsegärten. Den ersten gründeten bosnische Flüchtlinge 1996 in Göttingen auf Kirchenland. Heute gibt es über 90 interkulturelle Gärten von Migrantengruppen in der Bundesrepublik. Berlin ist traditionell eines der Zentren der über hundertjährigen Schrebergartenbewegung. Zu Kule Wampes Zeiten hießen Berlins Gemüseproduzenten liebevoll ironisch »Laubenpieper«. Wilde oder seit 1919 in Kolonien zusammengefasste Kleingärten waren der Ort tröstender Selbstbetätigung in erwerbslosen 33 Wie in anderen US-Großstädten gibt es auch in New York verschiedene Gemeinschaftsgärten und auch Jugendfarmen, die biologisches Gärtnern lehren und auch für den Vertrieb sorgen. Zeiten. Wie damals berühmte Romane beispielsweise von Clara Viebig schilderten: Eine Handvoll Erde. Heute entzückt die Jugend ein erster Roman zum Guerilla Gardening: Die Wassergärtnerin. Warum dennoch diese administrative Unterbewertung des Selbsthilfepotenzials der Menschen? Gärten gehören als Nutzgärten wie die Kleinstlandwirtschaft wesentlich zur häuslichen Sphäre. Sie gehören zu Haushalt und Hauswirtschaft, dem Bereich, der traditionellerweise den Frauen zugeordnet wurde und noch wird. Während die »Haus-Wirtschaft« im Zuge des Triumphs der industriellen Revolution unterdrückt, verdrängt und endlich vergessen wurde, kommt sie in Krisenzeiten offenbar umso lebendiger zurück. Das Implodieren, das Schrumpfen der industriellen Welt, das Nachlassen der ökonomischen Expansion, verschafft informellen Tätigkeiten wie dem Gärtnern neuen Raum und neue Notwendigkeit. 34 Literatur: Peter Lamborn Wilson, Bill Weinberg (Ed.): Avant Gardening, Ecological Struggle in the City and the World, Brooklyn NY: Autonomedia 1999 Nico Bakker, Marielle Dubbeling, Sabine Gündel, Ulrich SabelKoschella, Henk de Zeeuw für die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) (Ed.): Growing Cities, Growing Food – Urban Agriculture on the Policy Agenda, Feldafing: Zentralstelle für Ernährung und Landwirtschaft 2000 Wladimir Kaminer: Mein Leben im Schrebergarten, München 2007 Tania Krätschmar: Die Wassergärtnerin, München 2008 Karl Linn: Building Commons and Community, Oakland, Cal.: New Village Press 2007 Elisabeth Meyer-Renschhausen, Renate Müller und Petra Becker (Hrsg.): Die Gärten der Frauen – Zur sozialen Bedeutung von Kleinstlandwirtschaft in Stadt und Land weltweit, Herbolzheim: Centaurus 2002 Elisabeth Meyer-Renschhausen: Unter dem Müll der Acker – Community Gardens in New York City, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2004 Rob Hopkins: Energiewende – Das Handbuch. Anleitung für zukünftige Lebensweisen, Frankfurt am Main 2008 Gerhard Waldherr: »Die Bauern von New York«, in: brand eins Nr. 5/09, S. 48–55 Daher ist die subsistenzorientierte Kleinlandwirtschaft nicht mehr eine bloß ländliche Realität, die von den Behörden und der industriellen Landwirtschaft ignoriert, verdrängt oder auch toleriert wird. »Urban agriculture« wird zunehmend eine städtische Realität und zeigt die Kehrseite einer rasant voranschreitenden globalen Verstädterung auf. Inmitten dieses Prozesses verwildern die Städte: in ihrem Inneren und an ihren Rändern beobachten wir eine Art Reruralisierung. Die legalen Formen von Eigenarbeit in Haus und Garten oder im Ehrenamt wurden jedoch vom bundesdeutschen Gesetzgeber brutal negiert. Die derzeitige Sozialhilfe-Gesetzgebung (»Hartz IV«) sowie das neue Scheidungsrecht implizieren die gesellschaftliche Verzichtbarkeit von Hausarbeit. Sogar als allein erziehende Mütter oder wenn sie Alte versorgen, müssen sich erwerbslose Frauen rund um die Uhr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Obwohl es für sie nachweislich keine anständig bezahlte Arbeit gibt. Daher kommen sogar rot-rote oder rot-grüne Stadtregierungen auf die Idee, wie derzeit in Berlin, innerstädtische Kleingartenanlagen der Bodenspekulation opfern zu wollen. Obwohl es nachweislich die Gemüsegärten sind, die Menschen über Notzeiten vor allem auch seelisch hinweghelfen. Der neue landwirtschaftliche Diskurs Unter »Urban Agriculture« oder »Städtischer Landwirtschaft« verstehen wir daher statt Erwerbslandwirtschaft mehr die Gemüsegärtnerei für den Eigenbedarf. Aber nicht nur. Die neue städtische Landwirtschaft ist mehrheitlich mit neuen Organisationsformen, wie dem Community Gardening, verbunden. Aber na- türlich gibt es Urban Agriculture weltweit: In Caracas und Havanna wird innerstädtische Landwirtschaft staatlich unterstützt, in zahlreichen afrikanischen Städten ernährt der wilde Gemüseanbau auf Brachen große Teile der Spontansiedlungsbewohner. Die Stadtziegen auf den Müllhalden Nairobis fungieren wie ein Sparkassenkonto hierzulande. Städte Asiens wie Shanghai und Singapur bemühen sich, hinsichtlich ihrer Produktion von Gemüse autark zu bleiben. Ihnen ist extrem wichtig, immer absolut frisches Gemüse auf dem Teller zu haben. In Hongkong werden 45 Prozent des örtlich verzehrten Gemüse in der Stadt selbst erzeugt. Shanghai hat sich bereits vor Jahrzehnten eine so große Stadtfläche gesichert, dass 85 Prozent im Stadtgebiet erzeugt werden können. Und obwohl natürlich auch in China der Beitrag der landwirtschaftlichen Produktion zum Bruttosozialprodukt sinkt, wächst der Anteil, den die örtlichen Bauern und Agrarnomaden zur Ernährung von Megastädten beitragen, stetig.6 Anders als die Behörden haben die Medien hierzulande die Zeichen der Zeit erkannt. Den Anfang machte das Wirtschaftsmagazin brand eins, es brachte ein ganzes Heft zum Thema »Essen«. Gleich der zweite Artikel war über die »Bauern von New York«. Das sind engagierte Community Gärtnerinnen wie beispielsweise Karen Washington in der Bronx und ihre universitären Berater wie John Amoroso. Karen hat zwei Jugendgärten gegründet und hat zudem kleine Frischgemüse-Verkaufsstände einrichten können. Ausschließlich verkaufsorientiert arbeitet der Imker David Graves. Er stellte seine Bienenkörbe auf den Dächern von New York City auf, nachdem ihm der Honig in seiner ländlichen Kleinfarm von Braunbären geklaut wurde. »Gurken statt Kapitalismus« titelte am 18. Mai 2009 die SZ. Mehrfach meldete sich die Berliner Zeitung zum »medienträchtigen Guerilla Gardening«. Und schließlich erfahren wir am 13. August 2009 auch im Zeit-Magazin: »Michelle Obama tut es«, nämlich Gemüse anbauen. Die Gattin des Präsidenten Obama rackert zusammen mit Schulkindern auf den Rasenflächen hinter dem weißen Haus. Zum Eigenverbrauch. Das ist mutig. Denn Selbsterzeugtes zu verspeisen ist für Städter heute keine Selbstverständlichkeit. Die von der Erde entfremdeten Büromenschen ekeln sich vor der Erde mit ihren Plastikresten und Hundekot. Womit sie auch nicht ganz Unrecht haben. So aber gerät das Gartengemüse, das ungewaschen aus der Erde kommt, in den Verdacht, selbst unhygie- Kommune 3/2010 ZUR ZEIT STADTGÄRTEN Der Garten »Rosa Rose« in Berlin muss umziehen – hat aber schon ein neues Domizil gefunden. Hier kommt auch das Gemüse wieder in die Erde. – Alle Fotos: Elisabeth Meyer-Renschhausen nisch zu sein. Solche Überempfindlichkeiten sind Entfremdungszeichen einer Konsumpopulation, die in den letzten Jahrzehnten systematisch dran gehindert wurde, sich um das eigene Gemüse zu kümmern. Dort, wo die Verstädterung noch nicht mehrere Generationen her ist, sieht das anders aus. Vier von zehn Italienern bauen schon wieder ihr eigenes Gemüse an. Egal ob im Garten oder auf dem eigenen Balkon, es sind vor allem Kräuter, Tomaten, Salat, Paprika und Radieschen. »Avant Gardening!« Kommune 3/2010 Während sich im letzten Jahr die meisten Zeitungsartikel noch auf Nordamerika bezogen, wird in diesem Jahr über Subsistenz-Landwirtschaft auch in hiesigen Städten geschrieben. Während die Aufforderung zum »Avant Gardening« 1999 in New York City (auf Kunst und revolutionäre italienische Gesänge wie »Avanti Popolo« anspielend) noch von einer kleinen Gruppe von »artists and activists« kam,ist der Hype für selbst gezogene Tomaten unterdessen bei den Yuppies angekommen. Tatsächlich wird in den bald 40 Jahre alten nordamerikanischen Gemeinschaftsgärten seit Beginn der Neunzigerjahre immer gezielter und fast ausschließlich Gemüse angebaut. In zahlreichen nordamerikanischen Großstädten wurden zudem sogenannte Jugendfarmen als Gartenbaubetriebe zur Versorgung armer Stadtteile gegründet. Diese Umweltprojekte für chancenlose Jugendliche versorgen die sogenannten »food deserts«. Das sind Quartiere ohne Frischgemüseversorgung, wo der örtliche Supermarkt aufgegeben hat, weil mit den Stützeabhängigen zu wenig Geschäft zu machen ist. »Urban farming« ist die Antwort auf dieses Kneifen der Lebensmittelgiganten. Eine von ihrer Politik zutiefst enttäuschte Gesellschaft wie die US-amerikanische fängt sozusagen bei den Wurzeln wieder an. Sozial und antirassistisch Engagierte, Künstlerinnen oder Sozialarbeiter gründeten in Chicago, Detroit, Philadelphia, Boston oder New York berühmte Projekte wie den »Detroit Summer« der Philosophin und Aktivistin Grace Lee Boggs und ihrem Mann, dem Autoarbeiter, der jeden Sommer Hunderte von freiwilligen Gartenarbeitern und anderen freischaffenden Künstlerinnen nach Detroit holt. Gartenaktivisten betreiben auf innerstädtischen Brachen Gärtnereien, in denen Teenager das biologische Gärtnern erlernen. Meistens erhalten die Jugendlichen sogar einen Lohn von etwa fünf Dollar die Stunde. Das Gemüse wird auf von den Kindern und Jugendlichen selbst betriebenen »Bauernmärkten« verkauft. So entstehen inmitten der Zentren des Nordens Varianten einer informellen Ökonomie, wie wir sie bisher nur aus den Städten des globalen Südens kannten. Die Initianten verstehen sich als Polit-Aktivisten. Sie sehen den innerstädtischen Gemüseanbau als Form eines Sich-am-eigenenSchopf-aus-dem-Sumpf-Ziehens. Vor allem aber als Protest gegen die erdrückende Dominanz der Lebensmittelkonzerne. »Reclaim the Commons!« – »Fordern wir die Allmenden zurück!« Wir bestimmen selbst, was wir essen wollen! Denn entgegen aller Lügen der Statistik ist die Erwerbslosigkeit in den Innenstädten so hoch, sind die Löhne so gering und die Mieten so extraverrückt, dass sich immer mehr Nordamerikaner so helfen müssen. Bei den US-amerikanischen Landschaftsplanern, der »American Planning Association« ist der »food factor« angekommen.7 Ihre Monatsschrift verkündete im September 2009 »The next big trend«. Die Planer konstatieren in immer mehr Städten und Planungsämtern »A serious flirt with the dirt – urban Farming makes a come back.« Es wird referiert, wie viele Städte bereits Schulgärten subventionieren oder Gärten einplanen. Schrumpfende Städte wie Detroit oder Staaten wie Michigan haben städtische Landwirtschaft und Gemeinschafts-Gärten in ihre Flächennutzungspläne aufgenommen. Die Stadt Milwaukee hat beschlossen, künftig zehn Prozent der Fläche der städtischen Landwirtschaft und den Gärten vorzubehalten. Urban Agriculture weltweit – die neue Notwendigkeit Städtische Subsistenz-Landwirtschaft kommt heute gewissermaßen aus den Megacitys des Südens zu uns zurück.Bereits vor über dreißig Jahren entdeckten Entwicklungshelfer, dass etwa afrikanische Städter keine Zeit für Alphabetisierungskurse hatten. Weil sie ihre innerstädtischen Felder bestellen mussten. Im globalen Süden ist »urban agriculture« zwecks Selbstversorgung sowie für den direkten Verkauf eine lange beschwiegene Realität. In Städten wie Nairobi, der Hauptstadt Kenias, wo 80 Prozent der Bewohner erwerbslos sind und von sozialversicherungsfähigen Tätigkeiten nur träumen können, ist seit Jahren bekannt, dass die Armen sich in den Flusstälern, auf Müllkippen oder entlang der Eisenbahnschienen das Nötigste selbst anbauen. Auf Reputa- 35 ZUR ZEIT 50 Jahre Unabhängigkeit I NORD-SÜD n diesem Jahr feiert Afrika seine 50-jährige Unabhängigkeit. In Berlin haben die afrikanischen Botschafter Festlichkeiten vorbereitet – wer weiß hierzulande schon, dass 1960 17 Länder unabhängig wurden? Eher ist 1963 als postkoloniales Datum in Erinnerung. Im Mai 1963 wurde in Addis Abeba die Organisation für Afrikanische Einheit/OAE gegründet. 32 Staatsund Regierungschefs von inzwischen unabhängigen Staaten unterzeichneten das Gründungsdokument, welches die souveräne Gleichheit aller Mitgliedsstaaten, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität und das strikte Gebot der Nichtintervention festhält. Mit der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen wollen sich viele AfrikanerInnen hauptsächlich in Kreisen der Diaspora in Deutschland immer noch nicht abfinden. Sie fordern immer wieder eine neue Berliner Kongo-Konferenz, was politisch Verantwortliche in Afrika genauso regelmäßig zurückweisen. Der erste Versuch, koloniale Grenzen zu verändern, die Loslösung Biafras von Nigeria zwischen 1967 und 1970, endete in einer der größten postkolonialen Tragödien. Viele von uns erinnern sich an die Schreckensbilder, als infolge der nigerianischen Blockadepolitik fast zwei Millionen Menschen, vor allem Kinder, verhungerten und rund 750 000 Menschen im Kampf oder durch Massaker der nigerianischen Truppen starben. Der zweite Versuch einer Grenzrevision konnte nach dreißig Jahren beendet werden: Obwohl Nigeria die Kolonialgrenzen als Gründungsmitglied der OAE anerkannt hatte, beanspruchte es mit militärischem Nachdruck die kamerunische Bakassi-Halbinsel, begehrt wegen ihres Fisch-, Gas- und Erdölreichtums und ihrer strategischen Lage. Mit der Übergabe der Halbinsel an Kamerun wurde der Konflikt 2008 beendet. Den letzten Versuch, die Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea zu verändern, bezahlten über 100 000 SoldatInnen zwischen 1998 und 2000 mit ihrem Leben. Mit dem Friedensabkommen von Algier legten sie den Konflikt in die Hände einer Haager Grenzkommission und verpflichteten sich, deren Schiedsspruch anzuerkennen. Diese legte 2002 die Grenze fest und schlug Bad- 36 me, ein Gebiet von wenigen Hundert Quadratkilometern, Eritrea zu. Da Äthiopien diese Grenzziehung bisher nicht anerkennt, ist dieser Konflikt Quelle ständiger Unruhe am Horn von Afrika. Bedauerlich ist, dass die internationale Gemeinschaft aus strategischen Interessen im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus davor zurückschreckt, Druck auf Äthiopien zur Anerkennung des Schiedsspruches auszuüben – eine verpasste Chance für den Frieden am gesamten Horn von Afrika. Den 50. Geburtstag kann man nicht feiern, ohne einen Blick auf zwei ungelöste Kolonialprobleme zu werfen. Da ist Somalia, hierzulande immer nur unter dem Aspekt des zerfallenen Staates und der Piraterie gesehen. Völlig ausgeblendet wird die Statusfrage der Republik Somaliland, die am 18. Mai 1991 ihre Unabhängigkeit von Somalia erklärt hat. Somaliland, als ehemalige britische Kolonie 1960 kurze Zeit unabhängig, hat dann in der Hoffnung auf ein »Großsomalia« (aus Teilen Nordkenias,Französisch-Somaliland/Dschibuti und den Ogaden in Äthiopien) eine Entscheidung zugunsten eines »einzigen« Somalias gefasst. Im Dezember 2005 hat der Präsident von Somaliland bei der Afrikanischen Union einen Mitgliedsantrag gestellt, in dem Somaliland gemäß den Prinzipien der OAE/AU als Territorium innerhalb der kolonialen Grenzen von Britisch-Somalia definiert ist. Obwohl eine AU-Erkundungsmission den Antrag »in der Sache gerechtfertigt« befand, wurde bis heute nicht darüber entschieden. Auf seine Unabhängigkeit wartet die Demokratische Arabische Republik Sahara/Westsahara, die seit dem Abzug der Spanier 1975 von Marokko beansprucht wird. Die Bewohner der Westsahara leben zum größten Teil bis heute in desaströsen Verhältnissen in algerischen Flüchtlingslagern in der Wüste, abhängig von internationaler Hilfe und ohne Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung. Seit 1991 überwacht eine internationale Friedensmission die Einhaltung des Waffenstillstandes, der nach 16 Jahren Krieg zwischen Marokko und der politischen Vertretung der Saharauis damals geschlossen wurde mit der Maßgabe, nach sechs Monaten ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Es ist eine Schande, dass der UNO-Sicherheitsrat seine damalige Zusage bis heute nicht umgesetzt hat. Die endgültige Terminierung und ernsthafte Vorbereitung dieses Referendums wären zum 50. Geburtstag der afrikanischen Unabhängigkeit angemessen. tion bedachte frühere Stadtregierungen ließen diese wilden Felder in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch wegbaggern. Später erlaubten die gleichen Herren den Maisanbau sogar auf den Mittelstreifen und Verkehrsinseln der großen Straßen sowie zeitweilig im Uhuru-Stadtpark.Anfang Oktober 2009 brachte sogar das ZDF eine kurze Nachricht über geförderten Kohlanbau im großen Slum Nairobis, Kibera. Dort wird alleinstehenden Müttern nun beigebracht, was die Armen bisher auch von selber taten, wie man den Kohl möglichst platzsparend anbauen kann. In der Fünf-Millionen-Metropole Äthiopiens, Addis Abeba, sind die meisten Menschen erwerbslos. Das Durchschnittseinkommen beträgt 160 Dollar im Jahr. Seit Jahrzehnten helfen sich die Armen durch Gemüseanbau in den Flusstälern. Nun erstrebt die Regierung eine Image-Aufwertung der Stadt als Sitz der Afrikanischen Union. Sie verkauft die Grundstücke am Fluss an Private. Wer dabei vor allem verliert, sind die bisherigen FlussbettGärtnerinnen. Die meisten von ihnen sind völlig einkommenslos. Für sie bleibt nur Bettelei oder Prostitution. Fortsetzung von Seite 35 Verbraucherrevolution London ist derzeit nicht nur die Hauptstadt des neuen Guerilla Gardening, sondern auch Zentrum praktischer Energiewende-Initiativen. Es heißt: Mit zwei vegetarischen und zwei veganen Mahlzeiten pro Woche könne jeder seinen durchschnittlichen Verbrauch an fossilen Energien um zehn Prozent senken. Die Transition-Town-Bewegung bezieht ihr Wissen unter anderem aus dem Buch von Rob Hopkins, Transition Handbook. From oil dependency to local resilience (Energiewende. Anleitung für zukünftige Lebensweisen).Es geht darum,mittels 1000 kleiner »Energiewendeschritte« im Alltag die Widerständigkeit gegen eine falsche Klimapolitik zu stärken. Und es geht darum, sich darauf vorzubereiten, dass künftig weder die Lebensmittel noch wir selbst groß reisen werden können. Eine in der Region vielfältige Landwirtschaft mit modularen Vermarktungsstrukturen könnte das auffangen.Wichtig wäre, dass kleine Vermarkter erhalten blieben. Die neuen Schrebergärtner und der interkulturelle Gemüsebau Die Bundesrepublik Deutschland ist wie auch viele andere Staaten Mittel-, Ost- und Nordeuropas ein ausgesprochenes Gartenland. Insgesamt gibt es etwa 20 Millionen Gärten, die meisten davon Hausgärten. 45,3 Millionen Menschen bewirtschaften hierzulande einen Kommune 3/2010 USCHI EID STADTGÄRTEN Kommune 3/2010 Garten. Tendenz steigend, der Zuwachs lag in der letzten Zeit bei 19,8 Prozent. Eine Million Kleingärtner bewirtschaften zusammen 15 000 Gärten, die – zu Kolonien zusammengefasst – in 19 Landesverbänden organisiert sind. Ein bundesdeutscher Koloniegarten – nimmt man seitens des größten Dachverbandes, des Bundesverbandes der deutschen Gartenfreunde an – hat in der Regel etwa vier Nutzer. Das bedeutet, dass etwa vier Millionen Bundesbürger Nutznießer eines Schrebergartens sind. Im Gegensatz zu den Eigenheimbesitzern sind die Kleingärtner qua Gesetz dazu verpflichtet, zumindest etwa 36 Prozent der Fläche ihres Gartens für den Obst- sowie Gemüseanbau zu verwenden. Andernfalls verlieren sie ihre Vergünstigungen wie insbesondere die geringe Jahrespacht, die erheblich unter den ortsüblichen Jahrespachten liegt. Das gängige Vorurteil hält die Koloniegärtner gerne für ein Volk ungebildeter »Prolls«, die bis heute übermäßigem Gifteinsatz frönen. Der Gifteinsatz ist Stadtgärtnern bereits seit einigen Jahren verboten. Allerdings: skrupellose Gartencenter bieten es weiterhin an und unüberlegte Kleingärtner benutzen weiterhin Blaukorn und andere frei verkäufliche Pflanzendrogen. Aber es vollzieht sich derzeit ein »Generationenwechsel im Kleingarten«, wie eine Stadtteilzeitung aus Hannover im Sommer 2009 titelte. Die heute am stärksten zunehmende Nutzergruppe sind junge Erwachsene mit Kindern (+ 58 %). Und: der Anteil an Migranten nimmt zu. Die besten Gemüsegärtner unter den Kleingärtnern sind heute die Türken und die Russen. Autor des Kleingartenromans Mein Leben im Schrebergarten ist ein gebürtiger Russe. Auftrieb bekamen die Koloniegärtner durch die Bewegung der interkulturellen Gärten, die in der Bundesrepublik 1996 respektive 2002 entstand. Die interkulturellen Gärten richten sich besonders an zwangserwerbslose Migranten. Also an Flüchtlinge, die etwa als nur Geduldete vielfach jahrelang nicht arbeiten durften. Anschließend hatten sie kaum noch die Chance, eine einigermaßen bezahlte und ihrem Alter angemessene Tätigkeit zu finden. Für sie ist es meistens unmöglich, einen Kleingarten zu übernehmen. Besonders weil die Vorbesitzer für die darauf gesetzte Hütte oft Abstandszahlungen von 3000 bis 10 000 Euro verlangen. Die interkulturellen Gärtnerinnen bauen auf Grundstücken, kaum größer als ein oder zwei Kleingärten, die manchmal den Kirchen oder den Kommunen gehören, im Wesentlichen Gemüse an. Der oder die Einzelne erhält, je nach Gartengröße, ein Beet, das mindestens In Berlin entstanden innerhalb von nur sieben Jahren 20 interkulturelle Gärten, also gemeinschaftlich bestellte Gemüsegärten. – Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen anderthalb mal zwei Meter bis zu vier mal vier Meter ist. »Wiederverwurzeln in der Fremde« durch aus der Heimat mitgebrachten Samen. Die langsam mahlenden Mühlen der Bürokratien etwa in Berlin: innerstädtische Brachen wie etwa das Gelände des Gleisdreiecks am Potsdamer Platz lagen fast 20 Jahre brach. Die privatisierte Bahn betätigte sich als Bodenspekulant. Auf dem Tempelhofer Feld – dem ehemaligen Flughafen – droht nun Ähnliches. Daher wenden sich die Jungen von der Gemeinschaftsgärtnerei schon wieder ab. Guerilla Gardening als Gartenpiraten. »Squat Tempelhof« warf Samenbomben (seed bombs) auf die Flughafen-Brache. Das Problem ist, dass die Guerilla Gardeners auf ihre Ernte oft verzichten müssen … Daher ist die Orientierung auf das nomadische Gärtnern vielleicht die Lösung. Zumindest solange die Betonköpfe in den Liegenschaftsämtern sich nicht bewegen. Solange die Bundesregierung dem von keineswegs linken Ökonomen wie Paul Krugman bereits ausführlich widerlegten Irrglauben anhängt, das Privatisieren von Grund und Boden würde die Wirtschaft ankurbeln. Am Kreuzberger Moritz-Platz in Berlin entstand auf einer Brache eine nomadische Gärtnerei, die »Prinzessinnengärten« – zurzeit der absolute Liebling der Szene und »Opfer« zahlreicher Interviews. Das Grundstück gehört dem Land Berlin, das es dem Bezirk – der kommunalen Ebene – entzog, um es zu versilbern. Der Verwalter ist der Liegenschaftsfond. Der allerdings nimmt der Gärtnerei, die versucht, mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft zu arbeiten und helfenden Kindern einen Stundenlohn von 12 Euro bezahlt, eine unrealistisch hohe Pacht ab. Aber die Begeisterung für das Projekt »Prinzessinnengärten« ist stadtweit riesig. Im Sommer 2009 kamen jeden Sonntag regelmäßig Dutzende Unbekannte zu den ausgerufenen Subotiks, im Frühjahr 2010 wurden es über 100. Ein neues »Mitgärtnern auf Zeit«. Frauen mit Migrantionshintergrund kamen, um zu ernten. Ihnen leuchtete die Idee vom frischen Salat – angebaut in Bäckerkisten von »Märkisch Landbrot« – vollständig ein. Gerne wollen sie demnächst mitmachen und zumindest die Ernte in einer Kiezküche verkochen … Was wir brauchen, ist eine Politik, die die weltweite Wirtschaftskrise, wie sie für über Zweidrittel der Menschheit schon länger Realität ist, nicht länger leugnet. Wir brauchen eine Rückkehr zu einer städtischen Bodenvorratswirtschaft. Der Bodenspekulation – einer der Ursachen der Krise in den USA – muss entgegengewirkt werden. Für Erwerbslose und für Klimaschutzgärten muss Land in petto gehalten werden. Die Städte sollten jeden und jede Garteninitiative fördern, die aus Freude jetzt tun, was schon ziemlich bald Notwendigkeit werden wird. 1 2 3 4 5 6 7 René van Veenhuizen (Ed.): Cities Farming for the Future – Urban Agriculture for Green and Productive Cities,Ottawa/Cairo/Dakar/Montevideo/Nairobi/New Delhi/Singapur: Ruaf Foundation/International Institute for Rural Construction/International Development Research Center 2006. Gert Gröning,Joachim Wolschke-Bulmahn: Von Ackermann bis Ziegelhütte. Ein Jahrhundert Kleingartenkultur in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1995. Wulff Tessin: Ästhetik des Angenehmen,Wiesbaden 2008. Heather C.Flores: Food not Lawns – How to Turn your Yard into a Garden and Your Neighborhood into a Community,White River Junction/Vermont: Chelsea 2006. »Das Grüne Berlin – The Green Berlin«,Senatsverwaltung für Stadtentwicklung,Werkstatt Kommunikation,Berlin 9/2009,S.57,59,61. Siehe FN 1,S.197. Planning,No 8,August/September 2009. 37
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