N°19 - Das Magazin

N ° 19 — 9. M A I 2015
Würde Einstein heute
in der Schweiz forschen?
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EDITOR IAL/INHALT
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — I L LU S T R AT ION C OV E R : C R A IG & K A R L ; BI L D E DI T OR I A L: N IC OL A S C E VOL A
Aufgelesen, kurz bevor sie ertrunken wären: Flüchtlinge auf der San Giusto,
einem Schiff der italienischen Marine. S. 20
Die Schweiz ist, was die naturwissen­
schaftliche Forschung betrifft,
Weltklasse. Mit ein Grund war immer
die grosse Offenheit des Landes,
gepaart mit einer gewissen «Händler­
mentalität», wie es der Biochemiker
Gottfried Schatz in unserer Titel­
geschichte über die Zukunft des For­
schungsstandortes Schweiz sagt.
Eine hohe Wissenschaftskultur ist je­
doch ein Gut, das gepflegt werden
muss. Nun mehren sich die Anzeichen,
dass unser Land seinen Vorsprung
verlieren könnte. Die Schweizer For­
schung ist stark international geprägt,
die Masseneinwanderungsinitiative
torpediert diesen Vorteil. Hinzu kommt
eine steigende Tendenz zur Bürokratie.
Natürlich muss Forschung geregelt
werden – zu viel davon zerstört jedoch
den nötigen Freiraum, den kreative
Geister brauchen.
Finn Canonica
S. 10
Wir sind Weltmeister – in der Forschung. Aber wie lange noch?
Von Mathias Plüss
S. 20Salaam Italia. Khalid Chaoukis unermüdlicher Einsatz für die Flüchtlinge.
Von Sacha Batthyany und Nicola Scevola
S. 32Ach, mein Papa. Erinnerungen an den Regisseur und Vater Kurt Früh.
Von Katja Früh
3
KOMMENTAR
SELBSTSABOTAGE DER FDP
gezwungen werden. Diese Forderung ist
einleuchtend; allerdings scheint es dem
FDP-Medienpolitiker entgangen zu sein,
dass er damit keinen Reformvorschlag
aufstellt, sondern den Istzustand beschreibt. Im Jahr 2014 wurden 71 Prozent der Einnahmen in der Deutschschweiz erzielt, aber nur 45,6 Prozent
der Mittel für deutschsprachige Kanäle
ausgegeben. Mehr als ein Drittel der Gelder wird aktuell also umverteilt – ein
massives Investment in den Ausgleich
zwischen den Sprachregionen.
Seltsam sachfremd erscheint auch
Wasserfallens Beleg für die vermeintliche Tatsache, dass die Deutschschweizer SRG überdotiert sei. Er glaubt, dies
ergebe sich daraus, dass auch Kanäle von
debattierbarer Unverzichtbarkeit wie
beispielsweise SRF Info betrieben werden. Unberücksichtigt bleiben bei dieser
Argumentation die realen Kostenstrukturen: Nicht das Unterhalten eines Sendekanals schlägt zu Buche, sondern die
Bereitstellung von Inhalten. Da SRF Info
lediglich Informationssendungen von
SRF 1 wiederausstrahlt, sind die Kosten
dieses Senders äusserst tief. Die wirklich relevante Frage ist nicht, wie viele
Sender die SRG sich leistet, sondern,
über wie viel Mittel sie verfügen muss
für teure Eigenproduktionen. Wenn Wasserfallen der Ansicht ist, die Eigenproduktion soll zurückgefahren und beispielsweise ein Format wie «Der Bestatter» nicht mehr finanziert werden, dann
soll er das öffentlich so deklarieren.
Deutlich macht der Nationalrat immerhin, dass er generell bei der Unterhaltung abbauen will. Unterhaltungssendungen, die auch von Privaten produziert werden könnten, sollen künftig
nicht mehr zum SRG-Auftrag gehören.
Auch hier manifestiert sich eine eher
realitätsferne Vorstellung vom Medium
Fernsehen. In allen Ländern mit einem
öffentlich-rechtlichen,
gebührenfinanzierten Rundfunk sind die öffent­
lichen Anstalten massiv bei Unterhaltungssendungen (und Sport) engagiert.
Ganz besonders gilt dies von der absurderweise immer als Gegenmodell zitierten BBC. Fernsehsender können ihren
kulturellen und informationspolitischen
Auftrag nur erfüllen, wenn ein gewisser
Unterhaltungsanteil zum Programm gehört. Eine Beschränkung auf Informationssendungen führt zur völligen Marginalisierung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks, wie das eindrücklich das
Beispiel der USA belegt. Er erreicht dort
einen Marktanteil von nicht einmal 2
Prozent.
Die politische Geschichte der
Schweiz der letzten zwanzig Jahre ist leider zu guten Teilen die Geschichte der
Selbstsabotage der FDP. Mit dem Nein
zur RTVG-Revision hat der Freisinn es
nun tatsächlich geschafft, seine autodestruktiven Triebe noch einmal zu überbieten. Gewerbeverbandspräsident
Hans-Ulrich Bigler wird für seine an
Stillosigkeit nicht zu übertreffende AntiRTVG-Kampagne sogar mit einem bevorzugten Nationalratslistenplatz belohnt. Seit Jahren investiert Christoph
Blocher gigantische Summen, um sich
ein Medienimperium auf SVP-Linie zusammenzukaufen. Die Schwächung der
SRG ist für ihn deshalb ein sorgfältig
aufgegleistes, zentrales, strategisches
Ziel. Die FDP hingegen wird bei einem
Abbau der SRG politischen Schaden nehmen. Doch das hindert den Freisinn nicht
im Geringsten daran, beflissen am eigenen Ast zu sägen.
DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin».
4
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DA S M AGA Z I N 19/201 5 Von DANIEL BINSWANGER
Es ist ein sicheres Indiz dafür, dass eine
Debatte zur propagandistischen Schaumschlägerei verkommt, wenn die Sonntagszeitungen «geheime Papiere» vorlegen, die in Tat und Wahrheit schon lange öffentlich sind und nur deshalb nicht
zur Kenntnis genommen wurden, weil sie
nicht die geringste Substanz haben. Im
immer gehässiger werdenden Abstimmungskampf zur Revision des Radiound Fernsehgesetzes ist es mal wieder
so weit: Die «Schweiz am Sonntag» hat
am letzten Wochenende nach allen Regeln des Pseudo-Primeurs ein Papier von
FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen zum Scoop erhoben, das schon lange
auf dem Netz abrufbar ist und wohl vor
allem deshalb zuvor niemanden interessiert hat, weil es nur in einer Hinsicht
aussagekräftig ist: als D
­ okument der erschütternden medienpolitischen Ahnungslosigkeit des «Medienpolitikers»
Wasserfallen.
Wasserfallen, der auch als Vizepräsident der Blocher-nahen «Aktion Medienfreiheit» amtet, skizziert in einem
Fünfpunkteplan seine Vorstellungen von
der SRG aus «liberaler» Perspektive. En
passant begründet er auch noch, weshalb er die zur Abstimmung stehende
Gebührenerhebungsreform, bei der es
gar nicht um die Definition des SRG-Auftrags geht, zur Ablehnung empfiehlt. Seit
dem Nein zur RTVG-Revision durch die
FDP-Delegierten darf sich der Nationalrat nun nicht nur von der Gesamt-SVP,
sondern sogar von seiner eigenen Partei
getragen fühlen.
Der wichtigste Reformvorschlag von
Wasserfallen betrifft die Ausgewogenheit zwischen den Sprachregionen. Die
minoritären Landessprachen sollen
überproportional gefördert, die Deutschschweiz zu einer Gebührenumverteilung
gewisse Etwas schätzen und das Leben mit
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DA S M AGA Z I N 19/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: PATR ICK DIETR ICH
Der Direktor des Hotels Waldhaus spaziert den Silsersee entlang und erklärt,
warum er Echtheit dem Gekünstelten vorzieht.
Von M ICHAEL HUGENTOBLER
Patrick Dietrich steht am Fenster der Raucherlounge und beugt
sich vor. Draussen, nur eine Armlänge entfernt, ragt eine Felswand empor. Dietrich senkt den Blick zum Fuss der Wand.
«Das sind etwa zehn Meter», sagt er, «da braucht man eine
Leiter.»
Es riecht nach teuren Zigarren. Ein Streifen Licht fällt
schräg durch das Glas herein und malt gelbe Quadrate auf das
Fensterbrett. «Vermutlich geschah es nachts», sagt Dietrich.
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiss, wer das war.»
Er hebt den Kopf zu einem horizontalen Schlitz in der
Wand, einige Meter weiter oben, wo etwas Rotes schimmert,
das nicht nach Stein aussieht, sondern nach Plastik. «Eigentlich ist das Biedere ja nicht unser Stil, aber ich muss zugeben:
Diese Ironie ist ganz interessant.»
Die Rede ist von einem Gartenzwerg. Der Zwerg steht im
Schlitz der Wand, halb verborgen hinter einem Häufchen Steine. Er ist etwas grösser als ein Whiskeyglas, trägt eine gelbe
Mütze, einen roten Umhang, verschränkt die Arme über dem
Bart und grinst uns an.
Kurz darauf spazieren wir den Hügel hinab zum Silsersee,
Schnee schmilzt auf dem Weg, die Schuhe schmatzen in der
weichen Erde. Nach seinem Erscheinen habe der Zwerg Diskussionen in der Familie ausgelöst, sagt Dietrich. Man habe
aber entschieden, ihn zu lassen, wo er war, der Ironie wegen.
Patrick Dietrich führt das Waldhaus mit seinem Bruder
Claudio. Seit fünf Generationen ist das Hotel im Besitz der Familie, der Ururgrossvater hat es gebaut. Es ist ein alternatives
Fünfsternhotel, in dem es einiges gibt, was nicht ins Bild eines
Luxushauses passt. Etwa der Radiator im Eingang, der aussieht, als wäre er im Atelier eines Künstlers abgeschraubt worden. Oder zwei seltsam gemusterte Sofas in der Lobby, die so
gar nicht zu den Kronleuchtern passen. Patrick Dietrich sagt:
«Show bedeutet uns nichts, ein Ort muss ehrlich sein.»
Wir erreichen die Halbinsel Chasté; der See hat die Farbe
von Tinte, der Wind kräuselt das Wasser, die Wellenspitzen glitzern wie Sterne in der Nacht. Blesshühner schwimmen zur Mitte des Sees, wo das Eis noch nicht getaut ist, und sie stossen
knarzende Rufe aus. Patrick Dietrich wird noch oft stehen
bleiben, auf die Krokusse und Enziane zeigen, die Bergspitzen
und die Wolken und irgendwann sagen: «Was bringt ein Spaziergang schon, wenn man die Landschaft nicht anschaut?»
Er klingt dann ein bisschen wie ein alter Mann, dabei ist er 34.
Er komme oft hierher zur Halbinsel, sagt er, wo er im Winter seinen Sohn im Schlitten hinter sich herziehe; im Sommer
würden sie manchmal gar am Ufer baden. In der Ferne ist immer der Hügel zu sehen, wo aus den Baumkronen zwei Türme
ragen. Das Hotel wirkt wie auf Leinwand gemalt, ein Ort, der
nur in unserer Vorstellung Treppen und Türen und Klinken hat,
den wir aber nie betreten werden. Vielleicht ist dies einer der
Gründe, warum seit Jahrzehnten Künstler und Intellektuelle
hierherkommen. Joseph Beuys hat im Waldhaus geschlafen,
Hermann Hesse, Thomas Mann, David Bowie, Albert Einstein,
Theodor Adorno.
Die Luft duftet nach Lärchen, Bienen summen, Patrick
Dietrich spricht so leise, dass der Wind manchmal seine Stimme wegträgt. «Es ist schon interessant – die Leute sagen immer
wieder, dass sie hier auf Gedanken kamen, auf die sie sonst
nicht gekommen wären.»
«Haben Sie einen guten Geist im Hotel?»
«Ich glaube, dass ein Haus eine gewisse Seele besitzt. Das
ist ja das Schöne: dass man sich das nicht kaufen kann.»
«Wie meinen Sie das?»
«Es ist schwierig, das zu erklären. Solche Dinge klingen
schnell esoterisch. Ich denke, am Ende kommt es nur darauf
an, wie man im Haus lebt und wie sehr man daran hängt.»
«Hängen Sie daran?»
«Natürlich. Es ist ein Daheim.» Eine Pause, er denkt nach.
«Nicht nur ein Daheim, um darin zu wohnen, sondern auch ein
Daheim für die eigene Lebensaufgabe.»
«Würden Sie es verkaufen?»
«Nein. Es ist keine Geldanlage, wir wollen uns nicht bereichern.»
Ein Grund, warum das Haus für ein Fünfsternhotel etwas
ungewöhnlich wirkt, ist auch, dass die ersten drei Generationen fast nur schlechte Jahre hatten und nicht genug Geld für
Renovationen besassen. Dietrichs Mutter wuchs als Nomadin
innerhalb des Hotels auf, sie bewohnte mit ihren Eltern und den
drei Geschwistern jeweils jene Zimmer, die gerade leer standen. Als sie heiratete und mit Bruder und Ehemann die Leitung
des Hotels übernahm, war die Einrichtung in die Jahre gekommen, aber gerade das schien ihnen als charmant. Sie wollten es so renovieren, dass dies erhalten bleibt. Die Gäste scheinen es zu mögen. Von drei kommen zwei früher oder später
zurück. Und einer, Maximilian Maria Joseph von LöwenthalChlumecky, verbrachte insgesamt sechs Jahre hier. Auch die
Angestellten bleiben, oft für Jahrzehnte. Ein Concierge kam
für eine Saison, daraus wurden 45 Jahre.
Nach etlichen Pausen, während denen der Spaziergang
immer langsamer wird, gehen wir den See entlang zum Hotel
zurück. Der Wind flacht ab, die Sonne brennt. Eine Weile spricht
niemand, und nur die Blesshühner sind vom Wasser her zu
hören.
«Herr Dietrich, wer hat denn nun den Zwerg in die Felswand gestellt?»
«Ich weiss es nicht.»
«Aber Sie haben doch eine Vermutung.»
«Schon. Aber es ist bloss das: eine Vermutung. Es ist irrelevant.»
Patrick Dietrich: «Eigentlich ist das Biedere ja nicht unser Stil.»
Bild PI ER LU IGI M AC OR
7
HAZEL BRUGGER
SCHAM IM HOLOZÄN
Haben Sie sich heute schon geschämt? –
Schämen Sie sich mehr für sich selbst
oder für andere? – Können Sie sich noch
daran erinnern, als Sie sich zum aller­
ersten Mal geschämt haben? War das,
bevor oder nachdem Sie sich zum ersten
Mal stolz gefühlt haben? – Schämen Sie
sich manchmal für Dinge, die noch gar
nicht passiert sind? Hilft Ihnen das, in
Zukunft peinliche Situationen zu ver­
meiden? – Wie würden Sie Scham,
Pein und Verlegenheit unter­
scheiden? –
Ist Ihnen Ihre Familie pein­
lich? – Können Sie sich für etwas
schämen, worauf Sie gleichzeitig
stolz sind? – Welche Rolle spielt
das Gegenüber im Schämprozess?
– Gibt es etwas empirisch Peinli­
ches? –
Kann Selbstmitleid Scham er­
setzen? – Wenn Ihre Fussball­
mannschaft im entscheidenden
Moment versagt, sorgt das dann
für stärkere Emotionen, als wenn
sie gewinnt? – Welches Gefühl
hält länger an, Fremdscham oder
Fremdstolz? – Ist ein Opfer, das
sich nicht schämt, immer noch ein
Opfer? – Ist es schlimmer, scham­
los auszunutzen oder jemanden
auszunutzen, während man sich
schämt? –
Fragen Sie «Isch da no frei?»,
bevor Sie sich auf einen freien
Platz in der S-Bahn setzen? Und fühlen
Sie sich Ihrer Freiheit beraubt, wenn je­
mand sich kommentar- und fraglos ne­
ben Sie setzt? – Hätten Sie lieber, dass
ein Fremder Sie auf der öffentlichen Toi­
lette überrascht oder dass Sie einen
Fremden dort überraschen? – Für wel­
chen Teil Ihres Körpers schämen Sie
sich, auf welchen sind Sie stolz? –
Schämen Sie sich nur vor Menschen
oder auch vor anderem Leben? – Hatten
Sie schon einmal Sex, während ein Haus­
tier im selben Raum war? – Ist Ihnen Sex
oder Masturbation peinlicher? – Ist
Scham für Sie etwas Produktives? –
Wenn ein Schöpfer sich für seine Schöp­
fung schämt, ist er dann ein Versager? –
Schämen Sie sich mehr, wenn Sie
nicht wählen gehen oder wenn Ihre In­
itiative nicht angenommen wird? – Ist es
sinnvoller, seine Scham zu verbergen
oder sich in aller Öffentlichkeit zu schä­
men? – Schämen Schweizer sich anders
als Deutsche? Schämen sich Männer an­
ders als Frauen? Wer schämt sich mehr?
Wer schämt sich lieber? –
Welche Nation schämt sich am meis­
ten, welche am wenigsten? – Warum hal­
ten Schweizer im Ausland den grösst­
möglichen Abstand? Spielt hier Scham,
Ekel oder Angst die Hauptrolle? – Stellen
Sie sich vor, Sie sind SS-Soldat: Schämen
Sie sich eher für einzelne Taten oder für
das System? – Ist es politisch oder mensch­
lich, wenn Menschen sich für Politiker
fremdschämen? – Schämen Sie sich
mehr für Urteile oder für Vorurteile? –
Haben Sie schon einmal jemandem
gesagt, er soll sich schämen?
Glauben Sie, es hat funktioniert?
– Macht Schämen schmutzig,
oder reinigt es? Wie sieht es mit
Sich-Rechtfertigen aus? – Kann
man sich schämen, ohne es zu
merken? – Kann man sich zu viel
schämen? –
Hatten Sie schon einmal einen
Partner, für den Sie sich geschämt
haben? Haben Sie ihn zur Rede
gestellt, oder war die Scham zu
gross? – Ist Erotik noch möglich,
wenn man sich gar nicht mehr
schämt? – Schämen Sie sich mehr
dafür, dass Sie geboren wurden,
oder dafür, dass Sie einmal ster­
ben werden? –
Gibt es eine Moral, wo es kei­
ne Scham gibt? – Haben Sie sich
schon einmal für jemanden ge­
schämt, weil dieser sich zu wenig
geschämt hat? – Haben Sie schon
einmal zu viel Alkohol getrunken,
um sich weniger zu schämen? –
Wie würden Sie Scham mit maximal
fünf Strichen zeichnen? –
Wovor bewahrt Sie Ihr Schamge­
fühl? Woran hindert es Sie?
Die Slampoetin H A Z EL BRUG GER schreibt hier im Wechsel mit Katja Früh.
Bild LU K A S WA S SM A N N
DA S M AGA Z I N 19/201 5 M A X KÜNG
R EISENDER R EIS
Der Mann sass auf einem weissen Plastikstuhl vor einem kleinen Haus. Freundlich grüsste er. Er sitzt immer dort, am Kanal,
und wenn ein Schiff kommt, dann hüpft er ins Haus, holt eine
altertümlich anmutende Kurbel aus geschmiedetem Eisen, die
Manivelle, und eilt zur Brücke. Er dreht an einem Rad, eine
Barriere senkt sich, er steckt die Manivelle auf eine Welle, kurbelt die Brücke auf eiserne Räder hinab, und mit reiner Menschenkraft schiebt er dann den feingliedrigen 15-Tonnen-Ko­
loss auf diesen Rädern zur Seite. 90 Grad schwenkt die Brücke,
das Schiff kann passieren, dann drückt er die Brücke zurück,
kurbelt; alsbald sitzt er wieder in seinem Stuhl und blickt bald
in den weiten Himmel von Frankreichs Osten, bald auf den
Canal de l’Est, der als Teil eines Netzes für Schiffe das Mittelmeer mit der Nordsee verbindet. Das ist der Beruf des jungen
Mannes: Er ist Brückenwart. Und weil die Schwenkbrücke ein
denkmalgeschütztes Kulturgut aus dem 19. Jahrhundert ist,
wird sie bis in alle Ewigkeit von Hand zur Seite geschoben.
Die «ponte tournante» ist eine Attraktion hier. Sonst gibt
es nicht viele Attraktionen, ausser einer grandiosen Landschaft
und Wäldern mit Namen wie Bois de Foignouse oder Bois de
la Craie. Manchmal durchschneidet ein Kampfjet den weiten
Himmel, eine Mirage, leicht erkennbar an den charakteristischen Deltaflügeln; eine aufgeschreckte Ente steigt dann aus
dem Wasser, und für einen Moment heben die prächtigen
Charolais-Rinder ihre massigen Köpfe, um alsbald das saftige
Gras weiterzufressen, bis sie dann irgendwann zerteilt in der
Kühlvitrine im Hyper-Casino in Saint-Loup-sur-Se­mouse liegen. Das Hyper-Casino ist auch eine Attraktion, ein gigantischer Supermarkt, in dem man tiefgekühlte Schnecken bekommt, Jahrgangsdosensardinen und Monoblockstühle für
9.99 Euro. Unter der Woche ist kaum jemand im Hyper-Casino,
man ist allein mit dem Brummen der Kühl­vitrinen. 150 Schritte
geht man vom einen zum anderen Ende des Supermarktes, die
Breite misst 48 Schritte. Interessante Wanderungen sind dort
möglich.
Von der Drehbrücke bis ins Hyper-Casino sind es 25 Kilometer, die durch ein paar Dörfer führen, in denen nicht mehr
viel los ist. Die Öfen in den Bäckereien sind kalt, in den ehemaligen kleinen Hotels sind die Bettwanzen längst verhungert, in den Coiffeursalons fiel das letzte Haar vor Jahren. «A
vendre»-Schilder an jeder Ecke. Kaum Menschen auf den
Strassen, wenn, dann gerne im Trainer. Das Einzige, was noch
zu funktionieren scheint, sind – nebst der Landwirtschaft – die
Autowerkstätten von französischen Marken, denn einerseits
sind die Franzosen patriotisch markentreu, und andererseits
scheinen die französischen Autos ihrer Natur gemäss noch
immer häufig kaputtzugehen.
Dann und wann fährt ein Schiff auf dem Kanal vorbei. Meist
sind es Boote mit wortlos grüssenden Touristen. Manchmal
kommt auch ein Binnenfrachter, so wie kürzlich. Mit geübtem
Auge manövrierte der Kapitän, ein alter Holländer, seinen
Kahn durch das Nadelöhr der Schwenkbrücke, um bald vor einer Schleuse zu warten, von denen es alle paar Hundert Meter eine hat. Er sei unterwegs von Arles nach Gelsenkirchen,
sagte er, 18 Tage würde die Fahrt dauern. Und als er gefragt
wurde, was er geladen habe, da schlug er einen Zipfel der von
der Sonne ausgebleichten Plane zurück, die sich über den
Frachtraum spannte, darunter weiss glänzend wie ein Schatz:
250 Tonnen Reis aus der Camargue. Reis, der im Schiff reist,
18 Tage lang, das gibt es noch – im alten Europa.
Kein Kahn war zu sehen, als ich Tage später, am Ende der
Ferien, das kleine Dorf verliess, und der Brückenwart sass nicht
auf dem weissen Plastikstuhl, auf den dicke Regentropfen prasselten. Gerne hätte ich ihm zugewinkt, als ich über die Brücke
fuhr, nicht ohne Neid auf seinen Beruf.
M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin».
9
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — I L LU S T R AT ION: S T E PH A N WA LT E R
Im Labor macht der Schweiz keiner was vor.
Doch der Platz an der Spitze ist bedroht.
Von Mathias Plüss
11
Von Morgarten bis Marignano, vom Apfelschuss
bis zum Bundesstaat: Im Multigedenkjahr 2015
ist die Schweiz krampfhaft auf der Suche nach einem tauglichen Landesmythos. Bislang war noch
keiner in Sicht, der allseits akzeptiert würde. Dabei gäbe es doch längst etwas, das die Schweiz
treffend charakterisiert und über alle Landesund Konfessionsgrenzen hinweg eint: die Wissenschaft.
Die Fakten sind unbestritten. Kein Land hat
so viele Nobelpreisträger pro Einwohner wie die
Schweiz. Regelmässig sind wir Patent- und Innovationsweltmeister. Gemessen an der Bevölkerung ergattern hiesige Wissenschaftler nach den
israelischen am zweitmeisten EU-Elitestipendien – ein wichtiger Gradmesser für die Fitness des
Forschungsplatzes.
«Die Schweiz ist ein Land von Naturforschenden. Nur ist sie sich dessen nicht bewusst», heisst
es in der Einführung des Jubiläumsbuchs * zum
zweihundertsten Geburtstag der Schweizer Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), das
dieser Tage erscheint. Dass die Blüte der hiesigen Wissenschaft im eigenen Land so wenig präsent ist, erstaunt vor allem deshalb, weil einer der
Gründe des Erfolgs in ihrer breiten Verankerung
liegt – vor allem im 19. Jahrhundert kamen immer
wieder gewichtige Beiträge von Laien. Ein weiterer Grund: «Die Schweiz hat eine republikanische,
dezentralisierte Wissenschaft. Das passt zu unserem demokratischen, republikanischen Staat»,
sagt der Historiker Patrick Kupper, einer der Herausgeber des Jubiläumsbuches. Dass die Wissenschaft dennoch kaum Spuren im Nationalbewusstsein hinterlassen habe, liege schliesslich an
einem weiteren Charakteristikum: «Sie lässt sich
nur schwer national festschreiben. Gerade die
Schweizer Wissenschaft ist sehr stark international geprägt.»
Föderalismus und Internationalität: Jene beiden Merkmale, die sich auf den ersten Blick widersprechen, auf den zweiten aber kongenial ergänzen, sind die wichtigsten Triebfedern des
Schweizer Erfolgs. Nicht nur in der Wirtschaft,
sondern auch in der Wissenschaft. Ein gutes Beispiel dafür ist die SCNAT, die bei ihrer Gründung
1815 noch Schweizerische Naturforschende Ge-
12
sellschaft hiess. Sie verstand sich explizit als «einfache, zwang- und anspruchlose Organisation»,
die die Gelehrten und Institutionen aus den Kantonen bloss ein wenig vernetzte. Keinesfalls wollte man ein zentralistisches Gebilde schaffen, das
den Puls vorgab.
So kam es, dass sich in der Schweiz niemals
so etwas wie eine nationale Wissenschaft entwickelte. Umso mehr dockten hiesige Forscher an
die Wissenschaftskulturen der Nachbarländer an.
Seit dem 18. Jahrhundert wurden Schweizer überdurchschnittlich oft zu Ehrenmitgliedern der berühmten Akademien von Paris, London und Berlin ernannt. Ein späteres Ranking aus dem Jahr
1873 zeigt, dass wir in dieser Disziplin schon damals, gemessen an der Bevölkerungszahl, unangefochten an der Weltspitze lagen.
Ein anderes Beispiel für den Schweizer Erfolgsweg ist die ETH Zürich: «Die Gründer von
1855 hatten einen extremen Weitblick», sagt der
heutige ETH-Präsident Lino Guzzella. Das Eidgenössische Polytechnikum, wie es zunächst
hiess, war gut alimentiert und konzentrierte sich
auf Naturwissenschaften und Technik. Hinzu kam
auch hier das Prinzip der Selbstbestimmung: Man
redet einander nicht drein. So geniesst die ETH
innerhalb der Schweiz, aber auch der einzelne
Professor innerhalb der ETH ein hohes Mass an
Autonomie. Überdies sind die Hierarchien extrem
flach: «Wir haben an der ETH fast eine Landsgemeinde-Situation», sagt Guzzella. «Das gibt es
sonst nirgends.»
Hinter dieser Form der Wissenschaftsorganisation steckt die Vorstellung, dass die Leute vor
Ort selber am besten wissen, wo es brennt. Zur
Illustration zitiert Guzzella einen seiner Amtsvorgänger, den Physiker Olaf Kübler: «Wenn ein
Politiker ein Wissenschaftsthema vorgibt, ist es
meist fünf Jahre zu spät. Wenn die ETH-Leitung
ein Thema vorgibt, ist es zwei Jahre zu spät. Die
Einzigen, die wissen, welches Thema wirklich
aktuell ist, sind die Forscherinnen und Forscher
an der Front.» Die ETH-Schulleitung verstehe
sich als Ermöglichungsgremium, sagt Lino Guzzella. «Wir versuchen, optimale Rahmenbedingungen zu schaffen, aber keine inhaltlichen Vorgaben zu machen.» DA S M AGA Z I N 19/201 5 — I L LU S T R AT ION: M Ä RT I N FA NGE R
Kein Land der Erde hat so viele Nobelpreisträger
pro Einwohner wie die Schweiz.
als dies in Europa noch selten war», sagt Gottfried
Schatz. Er ist selbst ein Betroffener: 1974 bekam
er vom Biozentrum der Universität Basel ein
«Traumangebot, das alles in den Schatten stellte,
was damals in Europa zu haben war». Dass er aus
Österreich kam, hat ihm nie geschadet: «Als ich
im Jahr 2000 Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats wurde, habe ich
Bundesrätin Dreifuss angeboten, den Schweizer
Pass zu erwerben. Und sie hat mir gesagt, das sei
ihr völlig gleichgültig.» Darum ist Schatz bis heute Österreicher – und ein Fan der Schweiz.
Auch der Historiker Patrick Kupper sieht in
der Offenheit der Schweiz den wichtigsten Grund
für den wissenschaftlichen Erfolg. «Gerade jene,
die Spitzenforschung betreiben, sind sehr oft Zugewanderte», sagt er. «Eine der Stärken der
Schweiz besteht darin, dass diese Leute vergleichsweise einfach in die wissenschaftlichen
Strukturen eingebunden wurden und die Möglichkeit hatten, hier Karriere zu machen.» Dabei
hat man natürlich auch davon profitiert, dass es
immer wieder Zeiten gab, da etwa in Deutschland
und Österreich die besten Köpfe das Land verlassen mussten.
Eine gute Illustration für die Internationalität
der Schweiz sind die Nobelpreise. Zwar mögen es
Wissenschaftler nicht, einem Land zugeordnet
zu werden. Aber gerade im Fall der Schweiz ist es
aufschlussreich. Insgesamt 21 Nobelpreisträger
aus den Bereichen Physik, Chemie und Medizin
besassen zum Zeitpunkt der Preisverleihung
einen Schweizer Pass. Das Nobelpreiskomitee
ordnet aber nur zwölf Preisträger der Schweiz zu.
Des Rätsels Lösung: Das Komitee unterteilt nach
Geburtsland, nicht nach Staatszugehörigkeit. Von
den 21 Schweizern sind etliche im Ausland geboren; mehr als ein Drittel, nämlich acht, wurden im
Verlauf ihres Lebens eingebürgert – der Bekannteste davon ist Albert Einstein. Die Schweiz hat
also viele ihrer besten Leute importiert. Österreich hingegen hat seine besten Leute exportiert:
14 Naturwissenschafts-Nobelpreisträger wurden
dort geboren, zwei mehr als in der Schweiz, aber
kaum einer lebte zur Zeit der Preisverleihung noch
in Österreich. Das hat vor allem mit der Nazizeit zu
tun, aber auch mit dem nicht besonders attraktiven Forschungsplatz. Die Schweiz hat viele ihrer besten Leute importiert,
Österreich hingegen seine Besten exportiert.
14
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — I L LU S T R AT ION: J A N N E I I VON EN
In die gleiche Kerbe schlägt Gottfried Schatz,
Biochemiker, ehemaliger Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats
und einer der besten Kenner der Schweizer Forschungslandschaft. Auf die Frage nach dem Grund
des Erfolgs der hiesigen Wissenschaft nennt er
die «Händlermentalität» der Schweizer, die im
Gegensatz zur «Beamtenmentalität» unserer
Nachbarvölker stehe. «Eine starke Beamtenschaft
ist der Wissenschaft nicht zuträglich», sagt Schatz.
«Beamte sind grundsätzlich konservativ – weil es
ihr höchstes Ziel ist, Fehler und unerwartete Ereignisse zu vermeiden. Dies ist durchaus legitim.
Aber Fehler und unerwartete Ereignisse sind das
Herzblut jeder innovativen Forschung. Darum
sind Forschung und Verwaltung grundsätzlich
Gegenspieler.» Als abschreckendes Beispiel nennt
Schatz das zentralistische Frankreich, dessen Wissenschaft «bürokratisch gefesselt» sei.
Handelsleute hingegen, deren Gesinnung
Schatz bei den Schweizern walten sieht, zeichnen sich durch einen gesunden Pragmatismus aus.
Nicht Ideologie ist wichtig, sondern Erfolg: Die
Dinge müssen funktionieren, die Qualität muss
stimmen. Und solange sie stimmt, braucht man
keine umfassenden Regeln und Kontrollen. So
entsteht jener Freiraum, in dem die Forschung
am besten gedeiht.
Hinzu kommt, dass Handelsleute seit jeher
gewohnt sind, internationale Beziehungen zu pflegen. Schon sehr früh hat die Schweiz nicht nur
hochwertige Güter importiert, sondern auch
hochkarätige Wissenschaftler. Unter den 25 Professoren des ersten ETH-Jahrgangs 1855 waren
elf Schweizer, elf Deutsche und drei Franzosen.
Auch die Studentenschaft war sehr international
– in den 1870er-Jahren erreichte der Ausländeranteil zeitweise fast zwei Drittel. Darunter waren
nicht nur Europäer, sondern auch viele Amerikaner und Russen. Solche Werte werden erst in der
heutigen Zeit teilweise wieder erreicht. Zwei
Drittel der ETH-Doktoranden, um ein Beispiel
herauszugreifen, sind derzeit sogenannte Bildungsausländer – also Einwanderer, die ihre
Grundausbildung nicht in der Schweiz gemacht
haben.
«Die Schweiz hat ihre Professorinnen und
Professoren weltweit rekrutiert – schon zu Zeiten,
Der Vergleich zeigt: Der Schweizer Erfolg resultiert aus einer guten Politik – nicht einer wie auch
immer gearteten biologischen Überlegenheit.
Landestypisch ist, wenn schon, dass gebürtige
Schweizer ihre Nobelpreise eher für Tüftlerisches
bekamen (Rastertunnelmikroskop, Schilddrüsenchirurgie) als für visionäre Theorien. «Uns fehlt
dieser Hang zum Genialen», sagte Friedrich Dürrenmatt einmal. «Wir haben hauptsächlich die
Uhr entwickelt, dann die chemische Industrie, Valium, DDT und vor allem das LSD. Der Schweizer
sieht das Leben mehr von der praktischen Seite.»
Gewiss, bedeutende Teile der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik wurden in der
Schweiz entworfen. Aber eben nicht von gebürtigen Schweizern. Gerade österreichische Physiker
spielten hier eine wichtige Rolle: Erwin Schrödinger schrieb seine Nobelpreisarbeit in seiner
Zürcher Zeit. Wolfgang Pauli war gar dreissig Jahre lang ETH-Professor und hat die Schweizer
Physik geprägt wie kaum ein anderer. Doch eingebürgert wurde er erst 1949 – vier Jahre nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte. Schuld daran waren Behörden und Kollegen, die seine Einbürgerung zehn Jahre zuvor verhindert hatten
mit der Begründung, Pauli habe sich der hiesigen
Wesensart zu wenig angepasst. Mit einer grosszügigeren Politik hätten wir also sogar noch
einen Nobelpreis mehr.
Es fällt auf, dass die Schweizer Nobelpreise
nicht mehr so dicht fallen wie auch schon. Seit
dem letzten Chemiepreis sind 13 Jahre vergangen, seit dem letzten Medizinpreis 19 und seit dem
letzten Physikpreis gar 28 Jahre. Befinden wir uns
etwa auf dem absteigenden Ast?
Nein, meint ETH-Präsident Lino Guzzella.
«Wir sind immer noch sehr gut und in letzter Zeit
sogar noch besser geworden. Doch um die Position zu halten, reicht es nicht, gut zu bleiben. Es
reicht auch nicht, dass man besser wird. Sondern
man muss schneller besser werden als die anderen, das ist das Verrückte.» Das Problem ist, dass
die Konkurrenz explosionsartig wächst. Die Zahl
der Wissenschaftler auf der Welt verdoppelt sich
alle zehn bis fünfzehn Jahre. In manchen Bereichen hat sich der wissenschaftliche Output in den
letzten hundert Jahren vertausendfacht. Ange-
16
sichts solcher Zahlen ist klar, dass der Kampf um
die Nobelpreise härter wird. Oder wie es Guzzella
formuliert: «Die Anzahl Kuchenstücke bleibt
gleich, aber es gibt mehr, die sie haben wollen.»
Im Grossen und Ganzen geht es der Schweizer
Wissenschaft immer noch gut. So ist das Budget
für die Grundlagenforschung viermal so gross wie
jenes in Österreich. Doch es kommt natürlich immer darauf an, mit wem man vergleicht. Guzzella
erwähnt das Beispiel der kalifornischen Stanford
University, deren naturwissenschaftlicher Teil in
puncto Grösse und Niveau mit jenem der ETH
Zürich vergleichbar ist, aber mehr als doppelt so
viel Geld zur Verfügung hat: «Allein an Spenden
bekommt Stanford eine Milliarde Dollar pro Jahr.»
Da kann die ETH nicht mithalten. Und Geld ist
eben schon auch wichtig. Guzzella: «Wenn Sie die
Champions League gewinnen wollen, dann dürfen Sie bei den Spielersalären nicht knausern.»
Man darf getrost fragen, ob denn die Schweiz
oder die ETH unbedingt in der Champions League
spielen müssen. Wenn man in den Rankings ein
paar Plätze zurückfiele, wäre dies nicht weiter
schlimm, sagt Lino Guzzella. «Schlimm wäre vielmehr, wenn die ETH ihren Charakter verlöre.»
Den Charakter als autonome, beinahe basisdemokratische Hochschule, die von unnötigen Reformen und staatlichen Exzellenzprogrammen
bisher weitgehend verschont blieb. Just hier aber
droht Gefahr.
Der Grundlagenforschung wohnt ein Paradox
inne: Sie ist nur dann erfolgreich, wenn sie nicht
erfolgreich sein muss. Der Antrieb der besten
Wissenschaftler ist pure Neugier. Nützliche Anwendungen sind oft nicht mehr als ein zufälliges
Beiprodukt. Ein Bonmot, das dem Physiker Richard P. Feynman zugeschrieben wird, bringt es
auf den Punkt: «Wissenschaft ist wie Sex. Manchmal kommt etwas Sinnvolles dabei raus, aber das
ist nicht der Grund, warum wir es tun.»
Wenn nun den Forschern von aussen Bürden
wie Rechenschaftspflicht und Erfolgsquoten auferlegt werden, kann die spielerische Wissenschaft, die von der Freiheit lebt, nicht mehr funktionieren. Und genau diese Beschränkungen kommen. Und sie werden mehr und mehr. «Der Druck
nimmt zu», sagt Guzzella. «Wir versuchen, dann
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — I L LU S T R AT ION: JODY B A RT ON
Wir haben die Uhr entwickelt, Valium und das LSD. Der
Schweizer sieht das Leben mehr von der praktischen Seite.
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wichtig. Aber auch das Willkommensgefühl muss
da sein.»
Zum Gesamtpaket gehört aber noch viel mehr,
und hier sieht es für die Schweiz womöglich doch
nicht so düster aus: Lebensqualität. Ein hochkarätiges Kulturangebot. Funktionierende Institutionen. Die republikanische Tradition der Autonomie und Partizipation. Die gerade an der ETH gepflegte Kultur des kritischen Denkens. Das alles
sind Standortvorteile, dank derer die Schweiz
wohl noch auf viele Jahrzehnte hinaus attraktiver
sein wird als etwa China, das derzeit mit sehr viel
Geld Spitzenhochschulen aufzubauen versucht.
Nach Jahren im amerikanischen Exil entschloss sich der jüdisch-österreichische Physiker
Wolfgang Pauli nach dem Krieg zur Rückkehr an
die ETH Zürich. Trotz hochkarätiger Stellenangebote der Spitzenuniversitäten Columbia und
Princeton. Und trotz der Ablehnung, die er in der
Schweiz zeitweise erfahren hatte. Ausschlaggebend waren für ihn ganz andere Dinge: Sein schönes Haus in Zollikon mit dem prächtigen Blick
auf den Zürichsee. Die Berge, die Beizen, die Bars.
Der interdisziplinäre Dialog mit dem Psychologen
C.G. Jung, den er hier wiederaufnehmen wollte.
Die Kronenhalle, die Tonhalle. Die Glace von
Sprüngli. Aber eben auch die kosmopolitische
Stimmung. In einem Brief an Albert Einstein schilderte sie Pauli 1946 so: «Ich fand Zürich keineswegs ein Alpendorf, sondern einen sehr internationalen Platz. Unter meinen Studenten und Mitarbeitern sind nicht nur Schweizer, sondern auch
Schweden und Belgier. Die politische Stimmung
der bekanntlich sehr launischen ‹Dame Helvetia›
ist momentan günstig.»
Für die Wissenschaft wäre es gewiss förderlich, wenn die Schweiz weiterhin ein internationaler Platz bliebe. Auch wenn Dame Helvetia derzeit gerade ein wenig schlechte Laune hat. 4x4
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DA S M AGA Z I N 19/201 5 etwas zu mitzuteilen, wenn es etwas mitzuteilen
gibt – und nicht ständig vermeintliche Sensationen anzukündigen. Aber unsere Zeit bringt die
Geduld dafür nicht mehr auf. Man muss immer
mehr nachweisen, immer mehr versprechen.»
Die Wissenschaftsbürokratie habe in der
Schweiz explosiv zugenommen, klagt auch Gottfried Schatz. «Ein Grossteil dieser Bürokratie ist
nicht nur nicht nützlich, sondern aktiv schädlich»,
sagt er. Etwa, wenn man für einen Antrag für Forschungsgelder mehrere Wochen braucht, weil
man dazu ein halbes Buch einreichen muss. Ob
jemand all das Papier überhaupt liest? Schatz berichtet von einem Schweizer Physiker, der in seinem Fortschrittsbericht für die Regierung regelmässig den Satz unterbrachte: «Wir setzten unsere Arbeiten an der Entwicklung einer Schweizer
Atombombe fort.» Und damit keinerlei Reaktionen auslöste.
Die zweite Bedrohung für die Schweizer Forschung ist die Masseneinwanderungsinitiative.
Letztes Jahr hat die EU die Schweiz bereits einmal kurzzeitig von ihren Forschungsprogrammen
ausgeschlossen. Nun ist man zwar wieder dabei,
aber Ende 2016 droht abermals der Rauswurf.
Zum Problem würde dabei nicht so sehr das Geld:
Die Schweiz ist finanziell potent genug, um allenfalls ausbleibende Mittel aus Brüssel zu ersetzen. Viel schlimmer wäre, dass die Schweiz ein
Stück weit vom internationalen Austausch ausgeschlossen würde. «Forschung findet zwischen
Menschen statt, im Dialog der Ideen», sagt ETHPräsident Guzzella. «Wir müssen extrem aufpassen, dass wir von diesem Sauerstoff nicht abgeschnitten werden.»
Bei der Einwanderung ist es ähnlich: Mit gewissen Restriktionen könnten die Hochschulen
wohl leben. Die Universität St. Gallen beschränkt
den Ausländeranteil bei den Studierenden schon
seit 1963 auf ein Viertel, ohne dass dies ihrem
Renommee geschadet hätte, ganz im Gegenteil.
Und die Zahl der Spitzenforscher, die auf Professuren in der Schweiz berufen werden, ist ohnehin klein. Allenfalls wäre zu überlegen, ob die
beiden ETHs dafür eigene Kontingente bekommen sollen.
Verheerend wäre allerdings, wenn die Spitzenleute trotzdem nicht mehr kämen – nicht weil
sie nicht können, sondern weil sie nicht mehr wollen. Sollte die Schweiz zunehmend ein ausländerfeindliches Image bekommen, so hätte das vermutlich eine abschreckende Wirkung. Lino Guzzella bemüht nochmals den Fussball: «Wenn Sie
Messi haben wollen, muss das Gesamtpaket stim-
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DA S M AGA Z I N 19/201 5 — BI L D: BI L D: M A RC E L L O S C OPE L L I T I
SALAAM
ITALIA
Khalid Chaouki, der erste Muslim im
italienischen Parlament, kämpft
für die Flüchtlinge und ein neues Italien.
Am 3. Oktober 2013, kurz nach vier Uhr morgens, kenterte ein
Kutter wenige Hundert Meter vor der Küste Lampedusas. Er
war in der libyschen Hafenstadt Misrata losgefahren und schon
seit zwei Tagen auf See, 500 Männer und Frauen, die meisten
aus Somalia und Eritrea, als der Motor ausfiel und ein paar der
Flüchtlinge ihre T-Shirts anzündeten, um die Küstenwache
auf sich aufmerksam zu machen. Doch das Feuer geriet ausser Kontrolle, Panik brach aus, das Schiff begann zu sinken und
riss einige mit in die Tiefe, andere schwammen oder hielten sich
an den Leichen fest, die auf der Oberfläche trieben. Die Fischer Lampedusas wunderten sich über die gellenden Schreie
der Möwen an jenem Morgen, der Wellengang war hoch, wie
immer zu dieser Jahreszeit. Erst nach einer Weile bemerkten
sie, dass es keine Vögel waren da draussen, sondern Menschen
– und sie retteten 155 aus dem Wasser, über 300 starben. Taucher berichteten, sie hätten Kinderleichen auf dem Meeresgrund entdeckt.
Der Arzt auf Lampedusa, Pietro Bartolo, sagte: «Ich habe
noch nie solch eine menschliche Tragödie gesehen.»
Die Bürgermeisterin Lampedusas, Giusi Nicolini, sagte:
«Es ist furchtbar, einfach nur furchtbar.»
Angela Merkel sagte, sie sei tief bestürzt, und José Manuel
Barroso, damals EU-Kommissionspräsident, schritt an den
Särgen vorbei, die im Flughafenhangar der Insel aufgereiht
waren, und sprach davon, wie er all diese Toten sein Lebtag
nicht vergessen werde. «Es muss, muss, muss anders werden!», rief der italienische Innenminister Angelino Alfano beim
selben Anblick, und Cecilia Malmström, damalige EU-Innenkommissarin, sagte: «Das ist das Bild einer Union, die wir
nicht wollen.»
366 Särge waren es am Ende, braune Kästen mit namenlosen Leichen, und die, welche überlebt hatten, kamen ins
Flüchtlingslager nebenan. Sie erhielten neue Kleider, lagen
auf ihren Matratzen, rauchten und hörten vielleicht, wie all
die Politiker nach ein paar Tagen in ihren Helikoptern wieder
davonflogen; der Journalistentross zog weiter, es wurde kalt
auf Lampedusa, der Winter kam, als ein junger Mann beschloss,
nach ihnen zu sehen.
Aber Khalid Chaouki, frisch gewählter Abgeordneter des
sozialdemokratischen Partito Democratico, der erste Muslim
in Italiens Parlament, ein Junge aus Marokko, hatte nicht vor,
nur Hände zu schütteln und nach ein paar Interviews wieder
zu verschwinden. Chaouki nahm sich eine Matratze und legte
sich neben sie. Er sprach ihre Sprache, nahm Notizen, machte
Selfies von sich auf dem Bett, wie das 32-jährige Menschen heute eben tun, und stellte sie ins Netz. Er twitterte «buona notte
da #lampedusa», schrieb auf seinem Smartphone Medienmitteilungen auf Italienisch und Englisch, in denen er den Alltag
der Menschen beschrieb, den Schimmel in der Dusche, überforderte Wärter, die den Insassen befehlen, sich draussen im
Hof nackt auszuziehen, und sie mit Desinfektionsmittel gegen
Krätze einsprühen. «Ich gehe erst, wenn sich das hier bessert»,
postete er auf Facebook – und Lampedusa war wieder zurück
in den Schlagzeilen.
Giusi Nicolini, Bürgermeisterin dieses kleinen Stückchens
Felsen, sprach daraufhin von KZ-ähnlichen Zuständen, weil die
Menschen im Lager nur Nummern seien.
Die BBC rief an.
Italienische Politiker meldeten sich genervt aus ihren
Weihnachtsferien und versprachen Besserung, und tatsächlich wurden die Flüchtlinge noch vor Ende des Jahres 2013 an
einen anderen Ort verlegt mit Flugzeugen der Poste Italiane.
Und er, Khalid Chaouki, geboren in Casa­blanca, wurde landesweit bekannt.
«Khalid for President», schrieb man ihm damals auf seine
Facebook-Wall, und die Anzahl seiner Freunde und Follower
wuchs im Minutentakt.
«Chaouki, du Kebabfresser, du lebst nicht mehr lange»,
schrieben seine Gegner, und auch die formierten sich, mittlerweile erhält er mindestens eine Morddrohung pro Woche.
Damals, Anfang 2014, rechnete er nicht damit, dass er ein
Jahr später im Weissen Haus bei Präsident Obama zu Abend
essen würde, weil er als Symbol für gelungene Integration
junger Muslime in Europa gilt. Weil er einen Draht hat zu den
jungen Einwanderern aus Afrika und ihre Geschichten kennt.
Womit er aber immer rechnete, waren neue Schiffsunglücke, schlimmere als jenes im Oktober 2013. Neue Schreie ertrinkender Männer und Frauen, die tönen wie Möwen, neue
Kinderleichen auf dem Meeresgrund, wie jetzt wieder im April.
Eineinhalb Jahre sind zwischen den beiden Tragödien
vergangen, mehr als 5000 Flüchtlinge starben seitdem auf ihrer Reise übers Meer. Politiker haben Reden gehalten, Prominente Geld gesammelt, der Papst hat für die Toten gebetet, und
Chaouki war jeden Tag unterwegs, in Lagern und Problem-
Khalid Chaouki, 32, in der Moschee von Rom, der grössten Europas.
22
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — BI L D: ROBE RT O B A L DA S S A R R E
Von Sacha Batthyany und Nicola Scevola
vierteln, auf den Schiffen der italienischen Marine, die für die
Operation Mare Nostrum Flüchtlinge in Seenot aufgriff. Er
war auf Gemüseplantagen im ganzen Land, dort, wo einige der
jungen Afghanen und Syrer, Bangladesher und Inder landen, wenn sie einmal Arbeit finden, wobei man von Arbeit
nicht reden kann, denn sie werden gehalten wie Tiere.
Hat sich sein Einsatz gelohnt? Hat sich irgendwas zum
Besseren verändert?
Stille. Khalid Chaouki ist in Strassburg an einem Parlamentariertreffen, Angela Merkel spricht mit Matteo Renzi, David
Cameron hat seinen Wahlkampf unterbrochen, die ganze politische Klasse Europas tagt in irgendwelchen Zimmern. Es ist
Ende April 2015, vier Tage sind vergangen, seit 800 Menschen
vor Lampedusa starben. Chaouki schweigt und sagt schliesslich: «Nein. Natürlich nicht.» Betrachte man die Zahlen, dann
habe sich gar nichts verbessert, im Gegenteil. Nur der Druck
sei grösser, endlich etwas tun zu müssen. Lampedusa habe bis
vor kurzem kaum jemanden interessiert, «nun geht es um die
Würde Europas. Wir müssen Lösungen präsentieren.»
Und die wären?
Der Geschichtensammler
Es ist früher Nachmittag. Um diese Uhrzeit dürfen sich alle in
den Innenhöfen frei bewegen, ein langer Korridor, umgeben
von sechs Meter hohen Gittern, keine Bäume, keine Bänke,
Flugzeuge vom nahen Flughafen Fiumicino donnern über die
Köpfe der meist jungen Männer, die hier draussen stehen und
rauchen. Als sie Chaouki sehen, kommen sie auf ihn zu. Einige
kennen ihn und schütteln seine Hand, andere nähern sich ihm
langsam und erzählen ihm zögerlich ihre Geschichte: von der
Überfahrt, der Polizei, ihren Familien zu Hause. Chaouki
schreibt sich ihre Namen auf, macht Notizen, aber vor allem
hört er ihnen zu, zwei, drei Stunden lang. Er war Journalist,
bevor er Abgeordneter der Sozialdemokraten wurde, das sieht
man, und er wird die einzelnen Lebensgeschichten, die er sich
notiert hat, später mit Juristen durchgehen und schauen, was
sich machen lässt. Dann steigt er wieder in sein Auto, auf dessen Rückbank sich zwei Kindersitze befinden. Vor dem Eingangstor sucht er nach dem Senegalesen, den er angesprochen
hat, doch der ist weg, verschwunden in einem der anonymen
Wohnhäuser am Stadtrand Roms. Er wird in ein paar Tagen
wieder Taschen verkaufen in Trastevere oder Sonnenbrillen auf
dem Campo dei Fiori, wer weiss das schon; einer dieser Schwarzen halt, an denen die Touristen, die das ganze Jahr über die
Innenstadt verstopfen, vorbeiziehen, als existierten sie nicht.
Chaouki braust wieder zurück in die Stadt, er hat Dutzende
von Nachrichten auf seinem Telefon, das er wie ein Süchtiger
einmal pro Minute in die Hände nimmt. Er ist spät dran. Er
wollte doch seiner Frau helfen, wollte mit seinen Söhnen spielen, Adam und Ilias, fünf- und dreijährig, doch jetzt steckt er
im Stau, nichts geht mehr, weder vorwärts noch rückwärts; für
jemanden, der so rastlos ist wie er, ist der Abendverkehr Roms
die Höchststrafe.
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — BI L D: M A RC E L L O S C OPE L L I T I
Wie in Guantánamo
Ein Jahr zuvor, an einem wolkenlosen Tag, steuert Khalid
Chaouki seinen grauen Fiat Freemont durch den dichten Verkehr Roms. Er telefoniert, schreibt ein paar SMS, checkt sein
Twitter-Konto, während er nebenbei erklärt, was in der europäischen Flüchtlingspolitik alles schiefläuft. Chaouki ist auf
dem Weg nach Ponte Galeria in ein sogenanntes Identifikationszentrum. Es befindet sich ausserhalb der Stadt, eingefasst
«Was wirst du jetzt tun?», fragt Chaouki. «Keiner da, der dich
holt?»
Der Senegalese schüttelt den Kopf: «Wer denn?»
von schmutzigen Feldern, und erinnert von weitem an die Gefangenenlager Guantánamos: Hohe Zäune mit Stacheldraht
umgeben das Gelände, Wachtürme an jeder Ecke, Innenhöfe
ohne Schatten. Hierher kommt, wer auf einem der Schiffe aus
Afrika unterwegs nach Europa von der Polizei festgenommen
wurde, wer keine Papiere hat, weil er sie wegschmiss.
Es gibt in ganz Italien 13 dieser Zentren, doch Ponte Galeria hat einen besonders schlechten Ruf. Mehrmals haben sich
Migranten ihre Münder zugenäht, um gegen die unmenschlichen Bedingungen zu protestieren. Sie zogen kleine Metallstäbe aus ihren Feuerzeugen, rissen Fäden aus ihren Laken und
stachen sie sich in die Lippen.
Chaouki ist nicht zum ersten Mal hier. Gemeinsam mit Juristen vermittelt er zwischen Migranten und der Polizei und
konnte in kurzer Zeit einiges bewirken: Hunde werden nicht
mehr eingesetzt, um Druck auf die Insassen auszuüben. Die
Beratung habe sich verbessert, heisst es aus NGO-Kreisen, es
komme zu regelmässigen Treffen mit den Botschaften.
Kurz vor dem Eingangstor des Lagers bleibt Chaouki stehen, steigt aus und beginnt mit einem jungen Senegalesen zu
sprechen, der am Strassenrand wartet. «Die Polizei hat mich
erwischt, als ich Taschen in Roms Gassen verkaufte», sagt der
Mann. Er hatte kein Visum und keinen Pass, also brachte man
ihn nach Ponte Galeria und liess ihn heute frei, «nach drei Monaten», weil keiner wusste, was man mit ihm soll. So wie dem
Senegalesen geht es den meisten hier. Sie werden aufgegriffen, enden auf irgendwelchen Stockbetten, wo sie bis zu sechs
Monate verbringen, unterschreiben Formulare, die sie nicht
verstehen, und werden wieder vor die Tür gesetzt.
«Geh zurück zu deinen Ziegen»
1992 kamen Khalids Eltern von Marokko nach Italien und lebten in einer Einzimmerwohnung ohne Heizung in Reggio Emilia. Sie besassen einen Kebabstand, der aber nicht gut lief, und
weil Italien in der Krise ist und es keine Arbeit gibt, zogen sie
weiter an den Stadtrand von Charleroi, belgische Öde, kurz
nachdem ihr Sohn Khalid 2013 jüngstes Parlamentsmitglied
wurde. Chaouki spricht nicht gern über seine Eltern, sagt nur,
dass es vielen so gehe wie ihnen, die Zahl der Migranten in Italien nehme in Wirklichkeit ab. Auch wenn alle das Gegenteil
behaupten. «Zwar steigt auch hier die Angst vor Überfremdung, wie überall in Europa, dabei ziehen viele der Flüchtlinge
weiter in den Norden», nach England, nach Skandinavien, weil
sie keine Arbeit finden.
Im Unterschied etwa zu Holland, Deutschland oder der
Schweiz hat Italien keine Erfahrung mit Einwanderern. Noch
vor Jahren gab es kaum Menschen mit ausländischem Hintergrund in höheren Ämtern, keine Ärzte, keine Lehrer, und so ist
Chaoukis Generation der heute 30-Jährigen die erste, die in der
italienischen Gesellschaft angekommen ist. «Ich bin ein neuer Italiener», beantwortet er die Frage nach seiner Identität,
stolz auf seinen italienischen Pass und seine marokkanischen
Wurzeln, ein Muslim im Zentrum der christlichen Welt. «Salaam Italia» heisst sein erstes Buch, in dem er aufgeschrieben
hat, wie so ein Leben geht zwischen den Kulturen und Religionen. «Ich bin ein Symbol dafür, dass man es schaffen kann»,
sagt er selbstbewusst, und es gibt viele, denen es bei solchen
Sätzen Schaum vor den Mund treibt: «Geh zurück zu deinen
Ziegen, wo du herkommst», schreiben sie ihm auf seine Facebook-Seite, «du hast hier nichts verloren, und nimm die Zigeuner gleich mit.»
«Natürlich verstehe ich die Angst vieler Italiener», sagt er
und hupt und flucht über den Verkehr wie ein echter Römer.
«Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Wir haben grosse soziale Probleme in den Aussenbezirken.» Diese Angst aber lasse sich abbauen, dafür brauche es Zeit; blanker Rassismus allerdings sei das
andere, der sei hartnäckig und tief verwurzelt. Bereits als Kind
habe er damit Erfahrungen gemacht. Er war der einzige Ausländer seiner Klasse in einem Dorf in der Nähe Parmas. Als ein Regenschirm verloren ging, hat man natürlich ihn bezichtigt, den
kleinen Marokkaner, «marocchino bastardo». Und Jahre später, 2001, als Präsident der Jungen Italienischen Muslime, wurde er nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York als
Radikaler verunglimpft – dabei ist das Gegenteil der Fall.
«Khalid war der Erste, der sich für einen italienischen Islam starkmachte», sagt Adil El Marouakhi, Direktor eines interkulturellen Zentrums in Reggio Emilia und Khalids langjähriger Freund. «Er proklamierte einen neuen, einen progressiven Islam, der weniger geprägt sei von der arabischen Kultur,
und viele der Jungen, die ihm zuhörten, konnten sich damit
identifizieren.»
Nach der zweistündigen Fahrt von Ponte Galeria ist Chaouki endlich in der Nähe seiner Wohnung, keine zehn Minuten
vom Bahnhof Termini entfernt. Er stellt den Wagen ab und
eilt zur Piazza Vittorio, wo seine Söhne auf ihn warten. «Papa»,
rufen sie von weitem, und er rennt ihnen entgegen.
Auf den Schiffen der Marine
Vier Monate später, Oktober 2014, steht Chaouki in der grossen Halle des Flughafens Catania. Er hat ein paar Parlamentarier eingeladen, gemeinsam wollen sie sich ein Bild machen
von der Operation Mare Nostrum, einer humanitä­ren Mission,
die am 18. Oktober 2013 startete, kurz nach der LampedusaTragödie: Fünf Marineschiffe, begleitet von vier Helikoptern,
drei Flugzeugen und zwei Drohnen halten Ausschau nach Menschen in Not, bis zu 90 Seemeilen von der italienischen Küste
entfernt. Doch schon jetzt, nach einem Jahr, soll Mare Nostrum
eingestellt und durch die Operation Triton ersetzt werden, weil
das alles viel zu teuer sei, 9 Millionen Euro im Monat. Ausserdem würde ein Anreiz geschaffen, so sagt es Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière: Noch mehr Menschen würden versuchen, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen,
jetzt, da die Marine Notleidenden hilft.
Chaouki sieht das anders. «Menschen fliehen in Nussschalen übers Mittelmeer, weil sie keine Zukunft mehr haben. Sie
Tut, was er am besten kann: zuhören, Geschichten sammeln.
Khalid Chaouki in einem Römer Aussenbezirk.
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25
kommen sowieso, ob sie nun aufgelesen werden oder nicht»,
sagt er, umringt von seinen Politikerkollegen. Deshalb ist er ge­
kommen, um für Mare Nostrum zu werben. Gemeinsam folgen
sie einem Marineoffizier in blütenweisser Uniform in einen Bus,
der sie zu zwei grauen Helikoptern führt. 40 Minuten dauert
der Flug übers Meer bis auf das Deck der San G
­ iusto, ein 136
Meter langes Schiff der italienischen Marine, in dessen Bauch
sich Hunderte von Flüchtlingen befinden, die aufgelesen wurden, kurz bevor sie ertrunken wären.
Khalid Chaouki und seine Parlamentarier, alles Männer,
die sich ein wenig fühlen wie auf einem Abenteuerurlaub, werden auf der San Giusto von Kapitän Mario Mattesi begrüsst
und von Admiral Massimo Vianello, der für die Koordination
der gesamten Operation Mare Nostrum verantwortlich ist –
zwei Männer, die vielleicht mehr über das Flüchtlings­desaster
der letzten Jahre wissen als alle anderen, weil sie täglich die
Leichen im Wasser einsammeln, als wären es PET-Flaschen,
und in die Gesichter sehen von denen, die es eben noch geschafft haben. Die Offiziere bringen die Politiker in einen fensterlosen Konferenzraum mit Neonlicht an der Decke und beginnen ihre Powerpoint-Präsentation, kurze, militärische Sätze, jedes Wort ein Treffer:
— Sieben Schiffe voller Flüchtlinge sind täglich Richtung Italien unterwegs.
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— Im Sommer mehr als im Winter.
— Die meisten starten von Zuwara oder Gasr Garabulli in
Westlibyen. Andere von Ägypten. Selten von Tunesien.
Flüchtlinge aus Zuwara reisen in der Regel in Holzbooten,
während die aus Gasr Garabulli Schlauchboote benutzen,
die in China hergestellt werden und bei den ersten Wellen
kentern. Migranten aus Ägypten kommen auf alten Fischerbooten.
— Menschen flüchten, weil sie in ihren Herkunftsländern verfolgt werden oder weil sie keine Zukunftsperspektive haben. Die Kritik an Mare Nostrum, die Operation ziehe
Flüchtlinge an, ist falsch. Die meisten Migranten sind männlich, meist unter 45, der Frauenanteil liegt bei 10 Prozent,
Jugendliche sind selten, kommen aber vor. Kleinkinder
ebenso.
— Seit dem Start der Operation Mare Nostrum wurden
330 Menschenhändler festgenommen.
— Noch Fragen?
Ein Land ohne Bomben
Chaouki wippt mit den Füssen, wie ein Schüler, der bereits alles weiss und nicht warten kann, bis es weitergeht. Eine Stunde
schon dauert die Präsentation, telefonieren kann er nicht, sein
iPad muss in der Tasche bleiben, er will zu den Migranten, des-
Hierher kommt, wer keine Papiere hat: Flüchtlingsheim Ponte Galeria bei Rom.
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — BI L DE R : N IC OL A S C E VOL A
Wären ohne italienische Marine ertrunken: Migranten auf ihrer Reise übers Mittelmeer.
halb ist er gekommen. Endlich verteilt ein Arzt des Gesundheitsministeriums Ganzkörperanzüge, Masken und Handschuhe und führt die Gruppe von Männern, die aussehen wie
Ärzte im Ebola-Gebiet, in eine Halle von der Grösse eines Fussballfeldes, in der sich die Flüchtlinge befinden. Sie sitzen am
Boden, eng beieinander, ohne Matratzen, keine Kissen. Manche haben sich Nummern auf die Hosen geschrieben, damit
man ihre Verwandten anrufen kann, falls man sie tot aus dem
Wasser zieht. Es gibt drei Toiletten, eine Ecke für medizinische Notfälle, einen Isolationsraum für Menschen mit ansteckenden Krankheiten und ein Abteil für Frauen und Kleinkinder, getrennt nur durch eine blaue Plane.
Insgesamt sind 774 Flüchtlinge an Bord, die meisten aus
Afrika, erstaunlich viele Familien, 74 Jugendliche ohne Eltern.
Die Luft ist schwül, speziell unter den weissen Anzügen, die
Politiker fluchen. Sie wissen nicht genau, wie sie sich verhalten sollen, nur Chaouki ist in seinem Element. Im Unterschied
zu den anderen, die eng beieinander stehen bleiben, schüttelt
er Hände, spricht Englisch, Französisch und Arabisch, macht
sich Notizen, so wie in den Lagern in Rom, so wie auf Lampedusa, so wie fast jeden Tag seit Monaten.
«Warum haben Sie sich auf die Reise gemacht?», fragt er
einen Syrer, der mit seiner Frau und fünf Kindern unterwegs
war, als sein Boot kenterte.
«Entweder wir sterben zu Hause oder auf der Überfahrt», antwortet der Mann, was mache das für einen Unterschied.
«Was erwarten Sie sich von Italien?», fragt er einen Jugendlichen.
«Ein Land ohne Bomben.»
So geht das weiter, bis die San Giusto am frühen Nachmittag den Hafen von Reggio Calabria erreicht, wo Polizisten auf
die Migranten warten, Routineangelegenheit an Europas Küsten. Sie stellen sich in Reihen auf, Jugendliche da, Familien dort.
Es sind dieselben Gurtbänder wie an den Flughäfen, wo Menschen geordnet Schlange stehen auf ihrem Weg zu Geschäftsterminen oder in die Flitterwochen, aber dieser Hafen hier hat
damit nichts zu tun, es ist dessen Antipode.
«Wer keinen Pass hat und sich weigert, Fingerabdrücke zu
hinterlassen, kann trotzdem passieren – was sollen wir denn
tun?», sagt ein Polizist. Sie hätten keine Zeit, jeden Einzelnen
zu überprüfen, die nächste Schiffsladung komme in wenigen
Stunden. «Und wenn ich ehrlich bin», sagt er noch, «dann würde ich als Flüchtling auch nichts unterschreiben und Italien so
schnell wie möglich verlassen.»
Italiens Asylwesen wird immer wieder kritisiert, die Grenzkontrolle sei zu nachlässig, Akten würden verschwinden; der
Informationsaustausch (Eurodac) gestalte sich schwierig,
heisst es gerade auch von Schweizer Behörden, die acht von
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zehn Flüchtlingen, die über Italien nach Chiasso kommen,
wieder zurückschicken – was gemäss Dubliner Übereinkommen auch rechtmässig ist. Doch die Bedingungen in Italien
sind derart prekär, dass nicht einmal die Grundversorgung gewährleistet ist. «Was wir hier sehen, passiert in Italien jeden
Tag an mehreren Orten rund um die Uhr», sagt Chaouki und
zeigt auf die Menschen in löchrigen T-Shirts, die später in Busse verfrachtet werden und irgendwann auf den Strassen landen. «Manchmal muss man Dinge mit eigenen Augen sehen,
um das ganze Chaos zu verstehen», sagt er.
Stundenlohn 3 Euro
Wieder auf der Strasse. Eine neue Woche, eine neue Expedition Chaoukis. Nachdem er die Flüchtlingslager abgeklappert
hat, auf den Schiffen war und in den Aussenquartieren, macht
er sich auf, um sich die Arbeitsbedingungen genauer anzusehen von denen, die in Italien bleiben. Chaouki rast mit seinem
Auto nach Sabaudia, 90 Kilometer ausserhalb Roms, dafür
braucht er eine gute halbe Stunde. Jemand sagte ihm, dass es
indische Sikhs gebe, die gehalten würden wie Sklaven. Das
Amphetamin und Opium, die einige benötigten, um die Müdigkeit und die Strapazen der Feldarbeit auszuhalten, bekämen
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — BI L D: M A RC E L L O S C OPE L L I T I
Hochzeitsreise nach Paris
Khalid war neun Jahre alt, als er nach Italien kam, ein schmächtiger Junge, der stark an Asthma litt. Man brachte ihn in eine
Klinik in der Nähe des Skiortes Cortina d’Ampezzo, die christliche Nonnen leiteten. Dort hatte er ein religiöses Erwachen, so
nennt er es heute, er fing an, fünfmal am Tag zu Allah zu beten
auf einem kleinen Teppich unter den Jesuskreuzen an der
Wand. 2001 war er einer der Gründer der Jungen Muslime Italiens, «er hat früh gelernt, sich zu behaupten», sagt seine Frau
Khalida, die ebenfalls aus Marokko stammt und gemeinsam
mit ihrem Mann 2007 die italienische Staatsbürgerschaft erhielt. «Früher hatten wir dauernd Angst, Italien verlassen zu
müssen. Auf unserer Hochzeitsreise wollten wir nach Paris, da
hatten wir noch keine EU-Pässe, und wir wurden an der Grenze
zurückgehalten»; auch das habe ihn zu dem gemacht, was er
heute sei, erzählt Khalida über ihren Mann. «Er kam von ganz
unten, und heute ist er im Parlament: Das ist sein Bild von Europa, dafür kämpft er.»
Khalida studierte Pädagogik und arbeitet heute nachts in einem Migrantenheim für Kinder. Sie trägt das traditionelle Kopftuch, ihre Lippen sind geschminkt. «Wir waren überglücklich,
als er ins Parlament gewählt wurde, der erste Politiker Italiens
aus Marokko, der erste Muslim, aber wir wussten auch, dass
sich unser Leben verändern wird.»
Die Presse fiel über sie her, und wenn ihr Mann wieder
mal in einer Talkshow antritt, wie jüngst gegen Matteo Salvini
von der Lega Nord, der ihm zurief, er solle doch nach Syrien,
in Italien habe er nichts verloren, dann sei in den sozialen Medien die Hölle los. «Das Land muss sich in Zukunft noch mehr
öffnen. Ich hoffe es auch für unsere Kinder», sagt Khalida.
Manchmal, wenn alles zu viel werde, wenn ihr Mann Khalid
dauernd am Handy hänge und er zwischen zwei Gutenachtgeschichten twittere und Sky-TV ein Interview verspreche,
«dann verstecke ich alle seine Geräte, seine Telefone und Tablets, weil er sonst nie aufhört».
Arbeiten bis zum Umfallen für das Gemüse auf unseren Tellern:
Sikh-Gemeinschaft in Sabaudia.
28
sie gleich von ihren Arbeitgebern geliefert. Chaouki hat daraufhin seine Anwälte informiert, ein paar Journalisten angerufen, und schon ist er unterwegs in dieser ländlichen Gegend,
wo heute über 8000 landwirtschaftliche Unternehmen ihr Gemüse und ihre Früchte anbauen, die auch in der Schweiz auf
dem Teller landen, aber das nur so nebenbei.
«Die meisten der Arbeiter auf dem Feld sind illegal hier»,
sagt Marco Omizzolo, ein Mann, der die Gegend gut kennt; er
war es, der Chaouki kontaktierte. «Sie kamen vor Jahren nach
Italien und sind einfach geblieben.» Menschen aus Bangladesh und Indien, erstaunlich viele Sikhs, sagt Omizzolo, «stolze, in sich gekehrte Männer. Man muss sie gut kennen, damit sie
erzählen, welche Substanzen sie einnehmen, um so eine Zucchini-Ernte zu ertragen.»
In einem nahen Sikh-Tempel trifft Chaouki auf Gurvinder
Singh, einen Bauern aus Punjab, der älter wirkt als seine 28 Jahre. Singh kam 2011 nach Italien mit einem Arbeitsvisum für
neun Monate, das längst abgelaufen ist. «Wir werden gezwungen, 13 Stunden am Tag zu arbeiten, sieben Tage die Woche»,
erzählt er nach einer Weile; dann verstummt er wieder, was
Chaouki kaum aushält.
«Der Stundenlohn beträgt 3 Euro», fährt der junge Bauer
aus Indien endlich fort, ein kräftiger Mann, mehr als einen Kopf
grösser als Chaouki. Er arbeite für einen Gemüsebetrieb, sein
Chef, ein Italiener, schulde ihm 6000 Euro, behauptet Singh,
die Arbeit für sechs Monate. «Wenn wir ihn darauf ansprechen,
droht er damit, das Geld für immer zu behalten.»
Chaouki, der so viele Geschichten gesammelt hat über die
Flüchtlinge und deren Blick auf sein Italien, wirkt schockiert.
«3 Euro in der Stunde?»
«Ja», antwortet Singh, «ich fühle mich betrogen und vergewaltigt.»
Chaouki greift zum Telefon, benachrichtigt Politiker, noch
mehr Journalisten. Dem leisen Singh, der so ungern über sich
spricht, wird der ganze Rummel unheimlich, aber da ist Chaouki schon nicht mehr zu stoppen. Er steigt ins Auto, wütend fährt
er zu Ortoverde, einem Gemüse- und Früchteproduzenten,
der 80 Prozent seiner Ernte nach Deutschland, Österreich,
auch in die Schweiz exportiert, vor allem Karotten, Kraut und
Kohlrabi. Er hat keinen Plan, als er den Besitzer, einen Herrn
namens Sergio Filosa, mit den Vorwürfen konfrontiert, wie er
sich dabei fühle, seinen Angestellten 3 Euro zu bezahlen, worauf ihn Filosa von seinem Grundstück jagt. «Das ist moderne
Sklaverei, einen Katzensprung von Rom entfernt», wird
Chaouki später in die Fernsehkameras sagen, die er selber bestellt hat. Auch so kommt man in die Schlagzeilen.
Nicht alle seiner Parteimitglieder mögen Chaoukis Auftritte, er sei zu jung, zu unerfahren, er mache es sich zu leicht,
weil er Probleme zwar anspreche, sie aber nicht löse. Chaouki kennt die Vorwürfe aus den eigenen Reihen, doch sie lassen
ihn kalt. «Die Linke in ganz Europa leidet unter Komplexen.
Aus lauter Angst, es sich mit jemandem zu verscherzen, haben sie vergessen zu handeln. Und was ist passiert? Sie haben
das Feld der Lega Nord überlassen, die im Fernsehen sagen
darf, was sie will.»
Sehen wie man
gut aussieht
Cornelia Kaufholz geht mit der Mode Hand in Hand, oft ist
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sie ihr sogar einen Schritt voraus. Die begeisterte Fashionista hat ihr Hobby zum Beruf gemacht – und verbindet
ihre Modepassion mit einer anderen Faszination, dem
guten Sehen. «Gutes Aussehen und gut Sehen ist nicht
dasselbe, aber lässt sich wunderbar in Einklang bringen.» Die leidenschaftliche Augenoptikerin hat das Auge
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30
Dinner im Weissen Haus
In den Wintermonaten November, Dezember verschwinden
die Bootsflüchtlinge aus den Medien, obwohl die Zahlen alarmierend sind. Es sind zwar weniger als im Sommer, doch im
Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl verzehnfacht.
Dann folgt der Terrorakt auf die Zeichner von «Charlie
Hebdo» in Paris, der Anschlag in Kopenhagen. Barack Obama
und sein Aussenminister John Kerry organisieren in Washington eine Konferenz zur Terrorbekämpfung, und sie laden
nebst Staatschefs auch wichtige Vermittler ein, Brückenköpfe aus Europa. Menschen, die beide Seiten kennen, keine Falken, eher Tauben, darunter den Bürgermeister Rotterdams,
Ahmed Aboutaleb, und den 32-jährigen Kahlid Chaouki, den
rastlosen Journalisten, der das Italien der Migranten so gut
kennt wie kaum ein anderer. Er gelte als Stimme des neuen
Italien, so stellt er sich vor und spricht in der Rede von seinen
Plänen, ein neues Davos zu organisieren, aber nicht für die
Grossen und Mächtigen, sondern für den arabischen Raum,
speziell für die Jugend, jene Menschen, die illegal nach Europa
kommen wollen. «Man muss ihnen zuhören, auf ihre Bedürfnisse eingehen», sagt er, nur so könne man sie von der Reise
über das Mittelmeer abhalten. Am Abend isst er im Weissen
Haus, wo ihn viele für einen Praktikanten halten, das erzählt
Chaouki am nächsten Tag in einer Filiale von Subway in der
Nähe des Aussenministeriums und lacht, während er an einem Roastbeefsandwich kaut und über sein weisses iPhone
fegt. «Die italienische Nachrichtenagentur braucht ein paar Zitate», sagt er mit vollem Mund, aus den Boxen an der Decke
singt Taylor Swift.
Es ist Mitte Februar, in Washington tobt ein Schneesturm,
Chaouki steht eingehüllt in seinen Mantel am Strassenrand.
«Es wird wieder zu Tragödien auf dem Meer kommen, die
Lage in Libyen und in Syrien ist ausser Kontrolle.» Er sei mit
den Leuten vor Ort in Kontakt. «Die warten nur, bis es wieder
etwas wärmer wird und das Meer sich beruhigt.»
Was kann man tun, um die Katastrophe zu verhindern?
«Wir müssen die Operation Mare Nostrum wieder ins Leben rufen, es ist unsere Pflicht, Flüchtlinge in Seenot vor dem
Ertrinken zu retten, das Meer ist längst ein Friedhof. Gleichzeitig braucht es Auffanglager der EU in Afrika. Die Flüchtlinge
sollen Asyl beantragen können, bevor sie sich auf die Reise
machen. Es bräuchte ein Quotensystem, damit sie gerecht unter den Ländern Europas verteilt werden können, das Dubliner
Übereinkommen taugt nichts, zu viel lastet auf den Schultern
Italiens.» All das sagt Chaouki, während wir die Strasse überqueren zu Obamas Konferenz.
sel. Merkel sagt, sie sei «erschüttert», im Oktober 2013, beim
ersten Unglück, war sie noch «tief bestürzt».
David Cameron sagt nicht viel, denn er ist im Wahlkampfmodus und wägt jedes seiner Worte ab.
Papst Franziskus betet, spricht später von «tiefem Schmerz»
und hat Tränen in den Augen, während Tony Abbott, der Regierungschef Australiens, den Europäern empfiehlt, die Grenzen
endlich dichtzumachen und das Meer zu sperren, so wie er das
tue.
«Es braucht europäische Asylbüros in afrikanischen Ländern», fordert Italiens Regierungschef Matteo Renzi, es sind
Chaoukis Worte; sowieso sind sich plötzlich alle einig, Mare
Nostrum sei richtig gewesen. Der deutsche Innenminister
Thomas de Maizière stand vor einem Jahr noch auf der Bremse und fand alles zu teuer, jetzt sagt er: «Seenotrettung ist das
Erste, Wichtigste und Dringlichste, was unverzüglich beginnen
muss.» Also verdreifachten sie das Budget – das zwei Jahre zuvor schon einmal so hoch war, dann aber um zwei Drittel gekürzt wurde –, etwas mussten sie ja tun; allerdings sind in der
Zwischenzeit 5000 Menschen ertrunken. Es gibt keine Logik
in der Asylpolitik Europas, es gibt nur kopfloses Agieren und
ein bisschen Betroffenheit.
Was fühlen Sie, wenn Sie von Ihrem Büro hinaus aufs Meer
schauen, Frau Nicolini?
Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin Lampedusas, sagt:
«Trauer. Ich denke an die Tausenden von Menschen am Meeresgrund, die nie ein Begräbnis bekommen werden und über
die niemand spricht. Ich denke an die 366 Särge vor 19 Monaten im Hangar meiner Insel. Es waren nicht genug, um die europäischen Politiker wachzurütteln. »
Ein paar Tage vor der Tragödie fuhr Khalid Chaouki nach
Catania, um ein Flüchtlingsheim zu inspizieren. Er fuhr ohne
Anmeldung, machte Fotos, tat, was er immer tut: Er sprach mit
den Menschen und versuchte, ihre Lage zu verbessern, sei es
auch nur, die Ration an warmem Wasser zu erhöhen. Bei den
Sikhs in Sabaudia hat er auch erreicht, dass die Gewerkschaften zu intervenieren begannen und höhere Stundenlöhne fordern. Es sind nur Tropfen im Meer, aber immerhin.
Er fuhr weiter nach Pisa an eine Konferenz über Migration
und war schon auf der Rückfahrt nach Hause, als ihn die Nachricht erreichte. Er rief das Innenministerium an, um die Anzahl der Toten zu verifizieren. 800? Ja, 800.
Dann schrieb er seiner Frau, wie er sich fühle, und stellte
sein Telefon für wenige Minuten auf lautlos. 800 Tote? Ja, 800.
Zwei Monate später, in der Nacht vom 18. auf den 19. April,
kentert ein völlig überladener Fischkutter rund 200 Kilometer von Lampedusa entfernt. 800 Menschen sterben. Die Betroffenheit ist gross, aber es gibt keine Demonstrationen in
europäischen Innenstädten, ein paar Kerzen vielleicht, aber
keine Lichterketten, keine Schweigeminuten wie nach dem
Attentat in Paris. Es sind ja auch nicht unsere Toten, die auf
dem Meeresgrund liegen, nachdem sie um Hilfe schrien, was
tönte, als wären es Möwen. Vier Tage später treffen sich Europas Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel in Brüs-
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Spiele
Einmal im Jahr durften wir das heiss geliebte Spiel «Eltern sind
Trottel» mit ihm spielen. Wir konnten dann mit ihm machen,
was wir wollten, ihn verkleiden, schminken, herumjagen, ihm
alles Mögliche befehlen. Wenn ich an meinen Vater denke, was
jeden Tag der Fall ist, denke ich vor allem an die Spiele. Er hasste Pädagogik, machte sich lustig über alles Erzieherische, wollte alles ohne Zwang und Strafen erreichen. Erziehung ist Beispiel, sagte er immer, und wenns nicht anders geht, dann eben
ein schlechtes. Mit diesem frei zitierten Einstein-Zitat rauchte
und trank er fröhlich weiter, vor unseren Augen. So viele Spiele.
Alles war unernst, dafür betete ich ihn an. Wir mussten extra
dumm Geld ausgeben, indem wir etwas garantiert Nutzloses
Die Familie
Seine Brüder und er musizierten oft bei uns zu Hause. Im Quartett, soviel ich mich erinnere, denn Huldreich war damals
schon nicht mehr am Leben. Ich durfte manchmal ans Klavier,
vierhändig mit meinem Vater. Alles vergessen, alles verlernt,
wie schade. Die Musik war der Kern, das Wichtigste von allem.
Kurt, so nannten wir ihn, nicht «Vater», sammelte mit Leidenschaft alte und fremdländische Musikinstrumente. Er beherrschte sie auch alle, was ihm bei uns endgültig den Nimbus
eines Genies einbrachte. Das liess er sich gern gefallen, er sonnte sich mit Vergnügen darin. Oft trafen sich die Brüder im
Odeon, am Sonntagmorgen, meine Liebe zu Tomatensaft und
Künstlerkaffeehäusern hat sich dort entwickelt, denn manchmal nahm mich mein Vater mit. Das hob mich heraus, denn ich
war das einzige Kind mit so einem Privileg. Ich war die Erstgeborene, und seine Liebe umhüllte mich wie ein warmer
Mantel. Er projizierte in mich alles Mögliche hinein, Talent
und Intellekt, was sich später zu einem oft unerträglichen Druck
entwickelte.
Damals aber beglückte mich meine Sonderstellung. Die
Brüder hatten engen Kontakt, der später irgendwie kaputtging. Meine Mutter versuchte, die Beziehung zwischen den
Geschwistern mit allerlei Ritualen aufrechtzuerhalten, aber
der Dialog zwischen ihnen erstarb immer mehr. Zum Schluss
blieb nur noch die sogenannte Frühweihnacht. Onkel Willi, der
Schlagzeuger, kam jeweils ein paar Tage nach Weihnachten
schon mittags zu uns, um zu schnetzeln. Zu schnetzeln waren
die Zutaten eines böhmisch-mährischen Salates, dessen Rezept von meiner böhmisch-mährischen Grossmutter stammt.
Onkel Willi kam also und breitete die Zutaten des Traditionssalates aus, und wir durften seine Helfer sein.
Mit Akribie wurden Hering, Gürkchen, Kartoffeln und Randen zerkleinert, dann musste mein Vater in sein Lieblingsgeschäft, die Fischhandlung Bianchi, rennen, weil jedes Mal die
Anguilotti vergessen wurden. Am Abend dann war die ganze
Familie väterlicherseits versammelt: die Brüder mit ihren Frau-
Jetzt entdecken!
DA S M AGA Z I N 19/201 5 Leberknödelsuppe-Essen in der Kronenhalle. Ich war etwa
acht. Es musste heimlich geschehen, nur er und ich, denn er
gab zu viel Geld aus, gab sich gern dem Luxus hin. Für einen
Kommunisten ist nichts gut genug, zitierte er oft und gern
Tucholsky. Ich war seine Verbündete. Er brachte mir mit Vergnügen unnütze Sachen bei, erzog uns nach dem Lustprinzip:
Ihr sollt kein Homo faber werden! Der Homo ludens war sein
Vorbild. Werdet bloss keine Filialleiter! Von Erziehung kann
man nicht eigentlich sprechen. Wenn er eben Lust hatte, beschäftigte er sich mit uns, mit mir und meiner Schwester, eher
mit mir; wenn nicht, eben nicht. Man kann nicht sagen, dass
wir der Mittelpunkt seiner Welt waren, das war seine Arbeit.
Aber er liebte uns. Leider noch etwas mehr, als wir selbst anfingen, in der Öffentlichkeit zu stehen.
Er war das fünfte Kind einer Posthalterfamilie, alles Buben.
Seine Mutter liess ihn aus Enttäuschung darüber als Mädchen
aufwachsen, mit langen blonden Haaren und Faltenröckchen.
Das brachte ihm mit etwa acht Jahren seine erste Rolle ein, die
Prinzessin in «Don Carlos», im Stadttheater St. Gallen, wo er
aufwuchs. Diese Prinzessin hat ihn lebenslänglich geprägt, seine Weicheiseite, wie er es nannte, und natürlich seinen Beruf,
denn nach seinem Auftritt damals liess er alles Bubenhafte
fallen. Der Fussball, den ihm sein Vater sozusagen als Gegenpol zum Mädchenhaften geschenkt hatte, blieb in der Ecke liegen. Seine vier älteren Brüder, Huldreich, Walter, Willi, Eugen, beeinflussten ihn in Richtung Kunst, Musik, Theater. Das
war etwas Besonderes, nicht wie heute, nicht populär und verbreitet. Das Unbedingt-besonders-sein-Wollen war das Wichtigste, war schillernd und aufregend. Es hob ihn aus der banalen Welt heraus und hat ihn später wohl auch zugrunde gerichtet, wie ich heute begreife.
Höchster Wein-Adel
kauften. Wir beobachteten heimlich Menschen auf der Strasse
und gaben ihnen Punkte. Wir wurden dazu angehalten, besonders viel Mut zu zeigen, indem wir zum Beispiel zu einem Metzger gehen mussten, um ihn «Händ Sie chalti Wädli?» zu fragen und, wenn der Metzger bejahte, «dänn müend Sie halt Socke alegge» zu antworten. Viele solche Spiele, verrückt und
anarchistisch, lustig und liebevoll. Und die Geschichten, allen
voran die sogenannten Ich-Geschichten, in denen er sich erfand in tollen, weltbewegenden Situationen: Kurt, erzähl doch
eine Ich-Geschichte, wie du den Nordpol entdeckt hast oder
Amerika! Dann erzählte er den Kindern und ihren Freunden,
wie er Heldentaten vollbracht hat, geschichtsverändernde,
grossartige Abenteuer, von denen wir ihm kein Wort glaubten
oder höchstens die Hälfte.
Wenn ich die Schatten verdränge, dann war meine Kindheit eine blühende Wiese. Aber die Schatten sind da, immer
noch. Es war immer etwas Dunkles über allem. Eine irre Angst,
die ich nicht deuten konnte. Das Gefühl, sein Leben hänge nur
an einem seidenen Faden. Oder das Leben überhaupt.
en, meine Schwester und ich und Willis Sohn Peter. Mit den
Jahren wurden es immer weniger. Zuerst starb Huldreich, der
Komponist, dann Walter, der musizierende Zahntechniker,
dann Eugen, der Maler, dann Willi, der Tonhalle-Schlagzeuger, dann mein Vater. Und später die Frauen, wie so oft, weit
nach ihren Männern. Der Frühsalat existiert aber immer
noch, von uns weitergeführt, dann von den Enkeln. Wir schaffen es nicht jedes Jahr, aber der Wille ist vorhanden, und der
Salat lebt weiter.
DA S M AGA Z I N 19/201 5 Volksbühne
Kurt war früh politisiert worden. Schon im Gymnasium in einer roten Zelle, was er immer mit Stolz erzählte. Dann in der
KP und bei der kommunistischen Volksbühne, wo er Sketches
und Stücke schrieb und inszenierte. Er hasste zwar den politischen Kitsch, spielte aber mit Leidenschaft den Kapitalisten,
der auf einem Podest stand, unter ihm das Proletariat. Brecht
war sein Guru. Massgeschneiderte, seidene Hemden im Arbeiterstil, das fand er gut. Mit dem Taxi dem 1.-Mai-Umzug hinterher, um Seitenstechen zu vermeiden, das war sein Stil. Einen
finsteren Salonkommunisten schimpfte er sich selbst. Das
aber erst später. In den Anfängen war er hier wohl eins mit sich
wie selten. Das antifaschistische Engagement, seine Leidenschaft fürs Theater und die Musik fanden an der Volksbühne
zusammen.
Geld
Eines Tages rief ihn jemand an und fragte, ob er Filmregisseur
werden wolle. So einfach. Er wurde für Werbefilmproduktionen engagiert. Natürlich kämpfte er mit seinem Gewissen. Aber
die Verlockung des vielen Geldes war stärker. Er liebte das Geld.
Auch das auf spielerische Art. Einmal liess er eine Hunderternote aus dem Fenster fliegen, zeigte mir, wie sie auf den Boden
segelte, wollte damit auf ihre Bedeutungslosigkeit hinweisen.
Wenn er verdient hatte, war er in Feierlaune, dann musste geprasst und gefeiert werden, das Geld war meistens schnell weg.
Dann wurde es wieder ernst, er kochte Kartoffeln mit Kümmel,
fand Luxus und Besitz verachtenswert. Es war ein Auf und Ab,
langweilig wurde es nicht.
Kurt verachtete sich für seine Neigung zum Luxuriösen,
er geisselte sich, sah darin den Beweis, nie ein wirklich Grosser zu werden. Sein Ideal waren die Philosophen wie sein komplett verarmter Freund Ludwig Hohl, der oft bei uns wohnte,
zum Unwillen meiner Mutter. Denn der Alkohol floss dann dermassen in Strömen, dass es nicht auszuhalten war, wenn man
Ehe und Familie irgendwie zusammenhalten wollte. Hohl lebte in einem Keller und schrieb zwölf Stunden am Tag. Geld und
Konsum bedeuteten ihm nichts. Da kam sich mein Vater mit
seinen Austern und seinen Grand-Cru-Weinen unzulänglich
vor. «Der Teufel hat gut lachen» ist der Film, in dem er versuchte, sein Verhältnis zum Tanz ums goldene Kalb zu beschreiben,
wohl auch zu bannen. Geld war für ihn nicht das notwendige
Übel, das Mittel zum Zweck. Geld war Arznei gegen sein geringes Selbstwertgefühl, war Rausch und Droge. Es bewirkte
merkwürdige Höhenflüge, eine seltsame Selbstüberschätzung, eine gewisse Arroganz. Es kehrte nicht die nettesten
Seiten meines Vaters hervor. Zwar wirkte es nicht ganz so
schlimm wie der Erfolg, aber ähnlich. Nach den Höhenflügen
kam der Absturz. Dann musste er sich besinnen, sammeln.
Manchmal sperrte er sich einen Tag in ein Zimmer, liess klassische Musik laufen und dirigierte dazu. Wir sahen durchs
Schlüsselloch zu. Seelenreinigung nannte er das.
Frühe Filme
Über eine lange Zeit war er äusserst produktiv. Ein Film folgte
dem andern. Angefangen bei «Polizischt Wäckerli», seinem
ersten Auftrag, bei dem er den Verdacht hatte, seine Seele wieder mal dem Teufel zu verkaufen. Es war allerdings sein erster
grosser Erfolg. Und dann schwamm er sich frei.
Seine Themen wurden eigener, seine Haltung in den folgenden Filmen klarer. Die Parteinahme für die kleinen Leute
aus seiner linken Vergangenheit erschien als Selbstverständlichkeit, wie in «Oberstadtgass». Seine Liebe zur Poesie, zum
Absurden, zum Märchen blühte: «Hinter den sieben Gleisen»,
«Der 42. Himmel» und «Bäckerei Zürrer», ein Wurf. Der Vergleich mit den italienischen Neorealisten kam auf. Und doch
reichte es nie ganz dorthin. Zu stark war seine Sentimentalität, zu stark seine Liebe zu den Happy Ends, die meine Mutter
ihm immer auszureden versuchte, deren Macht er aber nicht
widerstehen konnte. Er wollte das Publikum glücklich machen,
wollte gefallen, geliebt werden. Kleinbürgeridyllen waren damals seine Welt. Oft musste er beim Anschauen seiner Werke
weinen, war gerührt von sich selbst. Das grösste Glücksgefühl
war, wie er in seinen Memoiren, den «Rückblenden», schreibt,
wenn jemand auf der Strasse ihn fragte, wie es denn dem Mäni
aus «Oberstadtgass» gehe, er sei doch krank gewesen, oder ob
der Zürrer sich erholt habe von seiner Sturheit.
Alkohol
Die dunkle Wolke, die immer über uns hing, die ich nie fassen,
nie begreifen konnte, das war wohl König Alkohol. Die Panik,
dass er abends nicht in mein Zimmer kommen möge, nicht,
wenn er so verändert ist, die Augen glasig, die Stimme verschwommen, die Gesten fahrig. Die Panik, dass er dich gleich
beschimpft, wegen irgendeines Blödsinns, wegen irgendeiner
Schuld, die keine ist. Die Versuche meiner Mutter, ihn von uns
fernzuhalten, was schlecht gelang; ihre irre Angst, dass irgendwas passieren werde; die Angst, die grösser war, wenn er nicht
zu Hause war, zu spät oder gar nicht kam. Ihre Verzweiflung, die
sie dazu trieb, mich auf die Strasse, in Restaurants zu schicken,
um ihn zu suchen. Viel zu jung war ich für so was.
Dann seine fürchterliche Reue nach den Abstürzen, seine
Selbstzerfleischung, die Rosen, der Schmuck, die Bussgeschenke, auch für die Kinder; Barbiepuppen, Fotoapparate. Verkatert lag er tagelang im Bett. Für uns war er krank, wir nahmen
Rücksicht, gingen auf Zehenspitzen, er musste nachdenken,
am liebsten liegend, das sei eine schöpferische Position, erklärte er uns. Er kämpfte. Jahrelang nahm er Antabus, das heisst,
meine Mutter verabreichte ihm das Medikament, das ihn daran
hinderte zu trinken. Das machte sie für ihn endgültig zu einer
Art Gefängniswärterin. Wie gut das für eine Ehe ist, kann man
sich vorstellen. 37
Erfolg
Erfolg war alles, alles. Zu Hause beteten wir inständig, der Erfolg möge sich einstellen, wir drückten uns die Daumen ab vor
jeder Premiere. Wir beschworen in Gedanken die Kritiker:
Schreibt gut, seid lieb, tut ihm nichts an! Ein paarmal ging meine Mutter wirklich zu ihnen, brachte Cognac, versuchte, sie mit
ihrer Schönheit und ihrem Charme um den Finger zu wickeln.
Falls die Kritiken schlecht waren, liefen wir am Morgen ihres
Erscheinens unsere ganze lange Strasse entlang und sammelten alle Zeitungen ein, die vor den Häusern lagen, damit er keine zu Gesicht bekam.
Dabei wussten wir eigentlich nicht, was wir uns mehr wünschen sollten: Erfolg oder Misserfolg. Denn Erfolg war zwar
schön und heiss ersehnt, doch die Folgen waren es nicht. Die
Folgen waren ein anderer Vater. Einer, der völlig von sich selbst
überzeugt war, der nichts mehr gelten liess, der abhob bis an
den Broadway, bis nach Cannes, bis an alle Festivals der Welt,
bis in jedes Feuilleton, bis nach den Sternen. Ich bin berühmt,
38
ich bin berühmt. Ich bin bedeutend, ich bin wieder wer. Ich kann
alles machen, alles erreichen.
Meistens wiederholte er dann den Film, den er schon gemacht hatte. Thematisch und besetzungstechnisch. Und dieser
zweite wurde dann meistens kein Erfolg mehr. Und er wurde
krank. Er lag im Bett, so depressiv, dass er kaum mehr ansprechbar war. Er fühlte sich als totale Null, hatte Angst, auf die Strasse zu gehen. Er dachte, die Leute würden mit dem Finger auf
ihn zeigen oder die Strassenseite wechseln.
Eva
Ich glaube schon, dass meine Mutter seine grosse Liebe war. Ich
habe kofferweise Liebesbriefe und Gedichte an sie. Er hob sie
in den Himmel. Er betete sie an. Er beschrieb sie in tausend Varianten als das schönste, zauberhafteste Wesen, das ihm je begegnet sei. Sie war eine literarische Figur. Sie war sein Massstab, seine Richterin, seine Muse, seine Kritikerin, seine oberste Instanz. Sie war die Madonna. Und wie viele Männer seiner
Generation verlangte es ihn neben der Madonna auch nach
ihrem Gegenteil, einer Hure. Beziehungsweise nicht nur einer.
Meine Eltern liebten sich, taten einander aber nicht gut. Jedenfalls aus meiner heutigen Sicht. Zu sehr klammerte sie sich an
ein Bild von ihm, dem er nicht zu entsprechen vermochte, zu
sehr kreisten ihre Ängste um ihn, zu sehr wuchs sich das zu einem Kontrollsystem aus, dem er nicht entkommen konnte. Und
er litt unter diesem Druck, wollte dem Bild entsprechen und
stürzte immer wieder ab in seine dunkle Welt, in seine Depressionen und seine zerstörerischen Selbstzweifel. Nie wieder
habe ich einen Menschen gesehen, der dermassen an sich
zweifelte. Der sich dermassen dafür geisselte, nicht gut genug
zu sein. Das ist die Kehrseite des Grössenwahns, zu dem er auch
neigte, die Kehrseite des Dünkels, des Ehrgeizes, des Ausserordentlich-sein-Wollens. «Der Riese seiner Träume, der Zwerg
seiner Ängste», zitierte meine zu Pathos neigende Mutter
gern aus einer Quelle, die wir nicht kannten.
Mein Vater beschenkte meine Mutter jedes Jahr zu Weihnachten mit einem Band Gedichte. 365 Gedichte, jeden Tag
schrieb er eines. Die «Chroniken». Wenn sie mal ausfielen, oder
halb ausfielen, war das ein Zeichen dafür, dass es ein schlechtes
Jahr gewesen war, ein dunkles. Manchmal fügte er auch schwarze Seiten ein, für Tage oder Nächte, über die er nie mehr sprechen wollte. Die «Chroniken» sind ein richtiges Werk, wenig
daraus ist veröffentlicht worden. Die stehen als wunderbares
Geschenk in meinem Bücherregal. Der Sohn meiner Schwester
hat einige Gedichte daraus vertont, schöne, sehr spezielle Lieder sind entstanden. DA S M AGA Z I N 19/201 5 Doch das Mittel verschaffte der Familie auch gute, fröhliche
Zeiten. Wenn er trocken war, war er liebevoll und lustig, keineswegs griesgrämig oder frustriert. Dann kamen wieder die
Rückfälle, die Verzweiflung, die Aggressionen. Zweimal versuchte er, sich umzubringen, was ich aber erst viel später erfahren habe. Das war in Zeiten, als er nie zu Hause war, im Niederdorf und im Kreis 4 herumzog mit seinen Säuferfreunden,
Familie und Ordnung verachtete. Viele Frauengeschichten, viele Puffs, viel Milieu. In seinen Filmen sieht man alles. Die drei
Clochards, die in so vielen seiner Filme herumziehen, die leben
wie die Lilien auf dem Felde, die nicht säen, die nicht ernten,
und Gott der Herr ernährt sie doch … Sie waren sein Vorbild,
sein Alter Ego oder vielleicht sogar sein ureigentliches Wesen.
Wenn es zu schlimm wurde, kam er wieder nach Hause.
Schwor, dass all das nie mehr geschehen werde, dass alles gut
werde, dass er nie mehr einen Tropfen trinken werde und so
weiter. Spät im Leben fand er zu den Anonymen Alkoholikern.
Das war die beste Zeit. Er fühlte sich erleichtert, befolgte die
zwölf Schritte, war begeistert von dem Programm und erzählte
freimütig davon. Es war eine Zeit der Demut und der Fröhlichkeit. Dort, in seiner Gruppe, musste er niemand mehr sein. Der
Druck fiel von ihm ab. Das Besonderssein war nicht gefragt.
Er war nur der Kurt und fühlte sich wohl.
Dann erlitt er eine Streifung, «es Schlegli», wie die Schweizer es verharmlosend formulieren, und alles veränderte sich.
Seine neue Bescheidenheit verflog, er wurde zu einem halben
Kind, und man wusste nie, wie krank er wirklich war. Er liess
sich zu gern bedienen, war zu gern der bedauernswerte Mittelpunkt, war schlicht zu gern krank. Die AA waren vergessen, er
schluckte Pillen mit Bier hinunter, er nahm sich heraus, alles zu
dürfen. Sein Ego war wieder intakt, oder aufgeblasen, ich weiss
es nicht, jedenfalls war er nie mehr ganz sich selbst. Seine Alkoholsucht verlagerte sich auf diverse Medikamente, Valium
war dabei, nicht zu knapp, und einiges mehr. «Wo isch miis
Hämpfeli Gmischts?», fragte er abends, dann bekam er seine
Pillen und zog sich meistens früh zurück, auch wenn Gäste da
waren, oft mitten im Gespräch.
Gesucht – gebucht
In einem Gedicht aus den «Chroniken» heisst es über meine
Mutter:
Das war ein Tag, an dem du kamst
Und mich aus grauem Tage nahmst!
Vergoldet standen Haus und Baum.
Ein blaues Band, ein Frühlingstraum
Und Pfefferminz und Thymian
Fingen zu blühn und duften an.
Oh Rosmarin! Oh Akelei!
Du wunderbare Arzenei!
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Sit-ins und in die neuen Jugendbars. Sein Stil zu lehren machte
ihn bei seinen Schülern sehr beliebt, bei den Rektoren der Schule weniger. Wieder einmal stolperte er über die Administration,
und man attestierte ihm eine (was für ein Wort!) Führungsschwäche. Als die Schule sich wieder auflöste, führte mein Vater sie in unserem Wohnzimmer weiter, Abend für Abend kamen diese interessanten Gestalten zu uns, ich wurde dann allerdings ins Bett geschickt. Markus Imhoof erzählte mir kürzlich,
dass er von mir nur noch den Satz «Katja Zähne putzen» in Erinnerung behalten hat.
«Dällebach»
Endlich war ich dabei, einen ganzen Film lang. Ich durfte die
Klappe schlagen. Der tiefere Grund, dass meine Eltern mir
das erlaubten, vielmehr dass meine Mutter mich sogar ein
bisschen dazu drängte, war wohl, dass in dieser Zeit mein Vater eine Art Aufpasserin gebrauchen konnte. Ich musste ihn
nach den Dreharbeiten sofort nach Hause bringen, in die kleine, in Bern gemietete Wohnung, auch wenn die Equipe ihn in
die Kneipe schleppen wollte. Ich war verantwortlich für den
Film. Für den ganzen Film. So fühlte es sich an. Beliebt war ich
dementsprechend natürlich nicht. Dann brach sich mein Vater beim Vorspielen einer Betrunkenenszene das Bein. Ich
musste ihn die ganzen Dreharbeiten im Rollstuhl herumstossen. Schliesslich verschwand der Produzent, und es war kein
Geld mehr da. Als wir erfuhren, dass er sich umgebracht hatte,
war mein Vater so tief schockiert, dass alles stillstand. Die Equipe und die Schauspieler boten an, ohne Bezahlung weiterzumachen. Es wurde also weitergedreht, später fand sich ein
neuer Produzent. Der «Dällebach» stand unter einem traurigen Stern, wurde ein trauriger Film und doch ein wunderbarer.
Im Dällebach Kari, diesem tieftraurigen Trinker, der die Menschen mit seinen Witzen unterhielt, erkannte mein Vater sich
wieder. Weil der Dällebach auf der Leinwand so echt war, ihm
so aus der Seele sprach, traf er das Publikum mitten ins Herz.
Ein letztes Mal in seinem Leben gelang ihm ein strahlender,
grosser, heiss ersehnter Erfolg.
Fernsehen
Ein paar Jahre lang war mein Vater Ressortleiter in der sogenannten Abteilung Dramatik am Schweizer Fernsehen. Der
Dienst im Sender war seine Sache nicht. Zu sehr kämpfte er
mit der Administration, zu sehr enttäuschte ihn, dass die Fernsehleute den reibungslosen Ablauf und die Einhaltung von
Terminen über den Inhalt und die Qualität einer Produktion
stellten. Trotzdem sind ein paar beachtliche Fernsehspiele entstanden, «Gsetz isch Gsetz», «Gift», «Das Landhaus», «Konvention Belzebier» und einige andere. Aber die sogenannten
Führungsqualitäten gingen meinem Vater ab, interessierten
ihn nicht. So kam es zum Bruch mit der Leitung des Hauses,
der Fabrik, wie mein Vater das Fernsehen nannte. Bald stand er
wieder ohne Arbeit und regelmässiges Einkommen da, in der
Filmwelt herrschte Flaute, und zu Hause hatten wir wieder die
wohlbekannte Angst um ihn. In den «Chroniken» schrieb er:
Filmschule
Die Anfrage der Kunstgewerbeschule kam wie gerufen. Die
Schule wollte einen Versuchsbetrieb starten, eine Filmschule
gründen, und Kurt wurde als Dozent eingestellt. Er liebte es.
Er hat mehr gelernt als alle Schüler, behauptete er immer. Das
erste Mal als er vor der Klasse stand, fragte er die Schüler, was
wohl der wichtigste Satz für angehende Filmemacher sei, der
eine Satz, der sie ein Leben lang bei allem, was sie tun und
möchten, immer begleiten wird. Der Satz heisst: Dafür haben
wir kein Geld.
Er war von den jungen Leuten begeistert, er interessierte
sich in diesen Vor-68er-Jahren heftig für den Aufbruch und die
neue Popkultur, er ging an Stones-Konzerte und an Demos, an
DA S M AGA Z I N 19/201 5 Nachgedacht.
Ob ichs noch soll machen.
(zum Lachen!)
Ob ich es schaff.
Aber dort ein Aff
und da auch ein Aff
Und über mir ein ernster Aff
und zuoberst ein unfreier Neandertaler ...
man ist paff!
Was ist die TV-Welt für ein Kaff!
Der Mensch ist ein Aff.
Und so weiter.
Ende der Stange. Der Ressortleiter.
Krankheit
Der zweite Schlaganfall folgte. Er veränderte meinen Vater
nochmals, er wurde steif und irgendwie laut. Verstand nur noch,
was er verstehen wollte. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr zu
ihm durchzudringen. Trotzdem arbeitete er wieder an einem
Film. Der Erfolg des «Dällebach» hatte ihm Mut gemacht. Das
erste Mal produzierte er selbst, mithilfe des Bundes. Er schwebte und schwor sich, diesmal einen harten, weniger sentimentalen, an die Nouvelle Vague angelehnten Film zu machen.
Wieder mit Walo Lüönd. «Der Fall» wurde tatsächlich gedreht.
Das Publikum mochte ihn nicht, sie wollten ihren alten Kurt
Früh, nicht einen modernen Regisseur, der Betonwüsten abdrehte. Zurück blieben Schulden und tonnenweise Briefpapier mit der Aufschrift: Kurt Früh, Filmproduzent. Heute wird
«Der Fall» wieder gefeiert, die Jungen mögen ihn und sehen
in ihm das, was mein Vater sich so gewünscht hatte: einen
Nouvelle-Vague-Film internationalen Formats. Letzthin lief
er in San Francisco.
Psychiatrie
Dann gings abwärts. Eine Klinik folgte der andern. Seine Krankheit wurde immer undurchsichtiger. Er trank wieder, nicht viel,
aber es reichte, um ihn zu verändern, und er nahm Haufen von
Medikamenten. Ob sein schneller Abbau psychischer Natur war
oder ob er nur mit seinen zwei Schlaganfällen zu tun hatte, war
schwer zu sagen. Es vermischte sich alles. Einmal war er auf
Entzug in der psychiatrischen Klinik Kilchberg und dann, lange,
in der Klinik Schlössli in Oetwil am See. Dort schrieb er immerhin noch seine «Rückblenden», allerdings schon sehr beeinträchtigt. Jedenfalls ging es ihm nicht allzu schlecht, er hatte
Pläne, wollte mit den Patienten Beckett und Shakespeare aufführen, doch dazu kam es nicht. Nach Hause kehrte er nicht
mehr zurück. Nach seiner Zeit in der Psychiatrie ging er nach
Boswil in ein Künstleraltersheim, sehr persönlich geführt, wo er
liebevollst betreut wurde. Er hatte dort neue Freunde und fühlte sich sichtlich zu Hause. Trotzdem hatte meine Mutter für immer quälende Schuldgefühle, sie warf sich vor, ihn nicht zu Hause gehegt und gepflegt zu haben. Ausser ihr selbst warf ihr das
niemand vor, ich schon gar nicht, denn die brutale Veränderung
meines Vaters war so schwer zu ertragen, dass ich ihren Entscheid, Abstand zu halten und ihn im Künstlerhaus zu lassen,
immer vollkommen verstand. Einmal noch versuchte er es mit
einem erneuten Entzug in der Klinik Littenheid, wo er dann nach
kurzer Zeit gestorben ist. Woran genau, wissen wir bis heute
nicht, vermutlich an einem erneuten Hirnschlag. Vielleicht hat
er auch ein bisschen nachgeholfen, aber den Vorschlag seiner
Ärzte, eine Obduktion zu machen, schlugen wir aus.
Das Grab
Eine richtige Beerdigung gab es nicht. Zum Entsetzen vieler
Freunde und Bekannten. Meine Mutter hatte gegen jede Art von
kirchlicher oder ritueller Veranstaltung ein tiefes Misstrauen,
sie empfand dies alles immer als eine Form der Heuchelei. Und
wie in meiner Familie üblich, schwebte sogar über dem Tod
meines Vaters der Nimbus des Aussergewöhnlichen, Besonderen. So holte ich die Urne mit dem Tram beim Bestattungsinstitut ab. Eine Weile stand sie noch bei uns zu Hause, um genau
zu sein: auf seinem Flipperkasten. Später begruben wir ihn in
unserem Tessiner Garten, ein Ort, an dem er glücklich war. Es
wuchs eine schöne Kamelie auf dem «Nicht-Grab».
Zwanzig Jahre später fand meine Mutter plötzlich, das sei
nicht mehr der richtige Ort für ihn, und eine Freundin der Familie, die bei der Stadt Zürich arbeitete, schlug vor, ihm ein Ehrengrab zu ermöglichen. Die Idee gefiel meiner Mutter, zu
meiner und meiner Schwester Verblüffung. Wir waren erstaunt, dass sie, die immer über solche Dinge gespottet hatte,
diese «Ehre» überhaupt als Ehre empfand. Jedenfalls verlangte sie von uns, die Urne unseres Vaters im Tessin wieder auszubuddeln, was wir ausschlugen und die Arbeit einem Gärtner
überliessen. Es gab dann eine kleine Feier, rituell und steif,
aber meine Mutter war stolz und zufrieden. So verändert sich
der Mensch. Und nun liegt er da, auf dem schönen Friedhof
Fluntern, zwischen James Joyce und Elias Canetti. Es hätte ihm
gefallen. Unsere Mutter verdächtigten wir, dass sie selbst dort
ganz gern begraben wäre, was sie nun auch ist. Alles ist gut. Menschen mit Autismus haben grosse Gefühle. Aber es fällt ihnen schwer,
sie auszudrücken. Mehr über Autismus: www.autismusforumschweiz.ch.
K AT JA F RÜ H ist Autorin, Regisseurin und «Magazin»-Kolumnistin»»; redaktion@dasmagazin.ch
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CHR ISTIAN SEILER
EIN PA AR WAHR HEITEN ÜBER SPARGEL
Spargel, Leute, ist das Memento mori des Gemüsesektors. Die
Asparagaceae gehören zu den wenigen Lebensmitteln, deren
ausschliesslich saisonales Vorkommen wir akzeptieren. Zwar
winken wir auch zypriotische, marokkanische oder, ich weiss
nicht, peruanische Ware durch, sobald die ersten, voreiligen
Bäume knospen und wir endlich den typischen Frühlingsge­
schmack auf der Zunge schmecken wollen, aber wenn Anfang
Juni die Spargelbauern zusammenpacken und den Märkten
fernbleiben, ist auch unsere Lust auf Spargel vorbei.
Wie aber schaffen wir es, in knapp zwei Monaten so viel
Spargel zu essen, dass wir im Juni gelassen seufzen können:
Ciao, bella, bis nächstes Jahr? Hier ein paar Vorschläge abseits
der klassischen Zubereitungsweisen.
1. Essen Sie Spargel roh.
Claudio Del Principe weist in seinem Kochbuch «Italien
vegetarisch» (Brandstätter) emphatisch darauf hin, «wie
knackig, frisch und intensiv» roher Spargel schmeckt, wenn
man ihn gar nicht erst mit Hitze in Berührung bringt. Die fri­
schen Spargeln werden geschält und von den harten Enden
befreit, dann diagonal sehr dünn geschnitten oder gehobelt,
die Spitzen längs halbiert und mit dem Rest auf den Tellern
verteilt. Nun werden die Spargeln mit bestem Olivenöl und
Weissweinessig beträufelt und mit Salzflocken und frisch ge­
mörsertem Pfeffer bestreut. Als zusätzliche Säure empfiehlt
Del Principe den Saft von Amalfi-Zitronen oder sizilianischen
Grapefruits. Köstlich.
2. Garen Sie den Spargel in der Folie.
Dieser grossartige Tipp stammt von Hans Haas aus dem
Münchner «Tantris». Den weissen, gut geschälten Spargel mit
Salz, Zucker und einem Stück Butter portionsweise auf eine
doppelt gefaltete Alufolie legen, in der sich so viel Luft befindet,
«dass der Dampf gut zirkulieren, aber nicht entweichen kann»
(Haas). Spargelstangen bei 190 Grad 30 bis 35 Minuten im
Ofen garen, sodass sie im eigenen Saft weich werden. In der
Folie servieren, samt brauner Butter und Schnittlauch.
3. Braten Sie Ihren grünen Spargel.
Godfather Alain Ducasse steuert dieses etwas deftige Re­
zept bei (aus «Ducasse Nature», Hädecke): Grüne Spargeln im
unteren Drittel schälen, harte Enden abschneiden. Köpfe auf
7 Zentimeter Länge abtrennen, Stangen in der Mitte halbieren.
In einer Schmorpfanne Olivenöl erhitzen, Spargeln hineinle­
gen, salzen und braten, bis sie weich sind. Auf eine vorgewärm­
te Platte legen. Nun 5 Esslöffel Balsamico in die Pfanne geben,
Bratensatz damit abschaben. 2 Esslöffel schwarze, entsteinte
Oliven zugeben (Ducasse empfiehlt Taggiasca- oder NizzaOliven) und erhitzen, dann die Balsamico-Oliven über die Spar­
geln geben, mit frisch gehobeltem Parmesan bestreuen, kräf­
tig pfeffern. Dazu Weissbrot (und Cava, Leute, Cava!).
4. Grillen Sie den grünen Spargel.
Ich glaube, das ist das einzige Rezept von Yotam Otto­
lenghi, zu dem dieser keinen Knoblauch verwendet. Auch Ot­
tolenghi («Genussvoll vegetarisch», DK) befreit die grünen
Spargeln von ihren holzigen Enden, mischt dann allerdings die
ganzen Stangen mit Rapsöl und würzt sie mit Salz und Pfeffer.
Dann legt er sie im rechten Winkel auf die Rillen einer bereits
heissen Grillpfanne: «Sechs bis neun Minuten unter gelegent­
lichem Wenden grillen, bis die Spargeln gerade mal al dente
sind und leichte Grillspuren aufweisen.» – Kein Gericht, um es
ohne Zähne zu essen, das nur zur Vorwarnung.
Dazu gibt es Feta (zu einem halben Kilo Spargel acht dünne
Scheiben, etwa 60 Gramm) und, essenziell, die abgeriebene
Schale einer unbehandelten Zitrone. Ein Fest.
Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch
Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K
42
DA S M AGA Z I N 19/201 5 Spargel ist das Saisongemüse schlechthin. Tipps, um bis Juni wirklich genug davon essen zu können
Max Lamb designt keine Sitzmöbel, er kreiert Charaktere. Auf der Mailänder Bühne gaben sie
eine eindrucksvolle Vorstellung.
DA S M AGA Z I N 19/201 5 — M A X L A M B: E X E RC I S E S I N S E AT I NG, 201 5. F O T O: C L AU DI A Z A L L A
HANS ULR ICH OBR IST
42 STÜHLE
Die Mailänder Möbelmesse ist nun schon seit
einer Weile vorbei, aber eine Sache, die ich dort
sah, lässt mich nicht los. Es handelt sich um Stüh­
le, um 42 Stühle, um exakt zu sein. Sie stammen
alle von dem jungen britischen Designer Max
Lamb, der sie in den vergangenen zehn Jahren ge­
fertigt hat. Die Kuratorin Federica Sala stellte sie
im kargen Ambiente einer leeren Grossgarage zu
einem riesigen Stuhlkreis auf – in einer Anord­
nung, die etwas Archaisches, Archetypisches hat.
Der Kreis erinnert an die mystischen Steinkreise
des Land-Art-Künstlers Richard Long, aber auch
an eine Bühne. Wie ich so die verschiedenen Mo­
delle in der Halle ausprobierte, fiel mir denn auch
Eugène Ionescos Theaterstück «Les Chaises»
(Die Stühle) ein. Darin geht es um ein altes Ehe­
paar, das sich ausmalt, von allen möglichen Perso­
nen Besuch zu bekommen, weshalb es immer
mehr und mehr Stühle heranschafft, auf denen
sich die unsichtbare Gesellschaft in ein langes,
imaginäres Gespräch vertieft.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich
Ionesco das erste Mal begegnet bin. Ich war 15
Jahre alt, und der berühmte Dramatiker kam nach
St. Gallen, um dort seine Lithografien drucken zu
lassen. Er erzählte mir von seinem Stück «Die
kahle Sängerin», das seit mittlerweile 60 Jahren
in Folge täglich in Paris läuft, und dass dieses
Stück schon fast die Ewigkeit einer Skulptur an­
genommen habe. Die Durchdringung von Kunst
und Bühne hat mich damals enorm fasziniert. In
Max Lambs Kreis wiederholte sich diese Erfah­
rung: Als ich auf einem der Stühle sass, war mir,
als sei das der Auftakt zu einer grossen Konferenz,
zu der viele Wissenschaftler und Künstler den
Raum bis auf den letzten Platz besetzen und zu
diskutieren beginnen. Natürlich hatte ich mir das
nur eingebildet. Und dennoch gab es eine Art
Zwiesprache und Unterhaltung in dem Raum –
nämlich zwischen den Stühlen selbst.
Jedes der Objekte war sehr verschieden von
seinem Nachbarn. Es waren nicht einfach Sitz­
möbel, sondern genauso gut Skulpturen. Manche
hat Lamb aus Beton gegossen, andere aus Holz­
strünken geschnitzt. Oft verbindet er gegensätz­
liche Materialien, harter Stein und weiches Holz,
schweres Metall und leichter Stoff, Organisches
und Geometrisches. Wie bei einem Bildhauer le­
ben seine Arbeiten von der Energie der Materia­
lien, die er verwendet und verfremdet, wodurch sie
selbst zu spannungsreichen Charakteren werden,
wie Personen in einem Theaterstück.
H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London.
43
TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D
1
4
5
12
6
13
9
14
18
16
Man muss wissen, dass ich im Fach Hauswirtschaft an der Bezirksschule Baden
nur eine 3–4 schaffte. Die Lehrerin meinte, ich wäre ihr schlechtester Schüler gewesen, den sie je hatte. Mich kümmerte
das wenig. Hauswirtschaft zählte nicht
zu den relevanten Noten. Ausserdem war
die Lehrerin eine verdammte Judenhasserin. Wenn ich allerdings ehrlich bin,
muss ich zugeben, dass ich ihr das auch
leicht machte. Denn bei jedem Gericht
maulte ich: «Das darf ich aus religiösen
Gründen nicht kochen!»
Da ich momentan krank bin und viel
Zeit zu Hause verbringe, wollte ich etwas Neues in meinem spannenden Leben ausprobieren. Ich zog also die Kleider meiner Frau an und versuchte in der
Küche etwas zu kochen. Ich nahm den
«Tiptopf» hervor und wartete auf ein
bisschen Inspiration. Heute wollen wir
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FR ENKEL
THOMAS MANN BESUCHTE KEINEN DEUTSCH-INTENSIVKUR S
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K ANN EINEM DIE GRILLPART Y VERMIESEN:
Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.
Riz Casimir kochen, sagte ich schliesslich
mit hoher Stimme. Ich guckte das Bild
im «Tiptopf» an und verzichtete auf die
Bauanleitung. Zuerst öffnete ich eine
Konservenbüchse Ananas und zerstückelte die Scheiben in mundgerechte
Stücke. Dann leerte ich Wasser in die
Pfanne. Ich entdeckte vier Schalter beim
Herd und drehte vorsichtshalber alle auf
12. In die Pfanne mit dem Wasser schüttete ich Reis, die mundgerechten Ananasstücke und natürlich eine Prise Salz
hinein.
Man braucht nicht für alles im Leben
eine Gebrauchsanleitung. Picasso malte
nicht nach Zahlen, und Thomas Mann
be­suchte keinen Deutsch-Intensivkurs
an der Migros-Klubschule. Vor allem die
Jugendlichen trauen sich immer weniger, etwas Neues zu beginnen. Früher
war das anders. Früher wurden Männer
in Frauenkleidern allerdings auch weggesperrt. Schnell rannte ich in mein Arbeitszimmer und schrieb diesen interessanten Gedanken in ein Heft, wie das
Literaten halt so machen.
Als ich wieder in die Küche trat,
dampfte es schon sehr appetitlich. Ich
öffnete den Kühlschrank und jubelte:
Griessköpfli! Gierig schwappte ich den
Riz Casimir in einen Teller und ass alles
auf. Danach Griessköpfli. Dann wurde
es mir schlecht. Eigentlich sehr schlecht.
Ich eilte in unsere winzige Toilette und
blieb dort eine Stunde lang. Irgendwann
kamen die Kinder vom Nachmittagshort
nach Hause und hämmerten an die Toilettentür. Ich hatte aber immer noch die
Frauenkleider an, und mir ging es elend
schlecht.
Blöder «Tiptopf», fluchte ich und
quälte mich raus.
BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich.
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WA AGRECHT (J + Y = I): 4 Sie lässt sich beim Distanzüberwinden Zeit. 12 Lustbetonte Bodenkontaktverluste. 18 Von eins bis vier ist der Lümmel ein
Säugetier. 19 Sichtet bei Schiller Hammer und Rochen. 20 Schmerzhaft klingendes Ehrgeizreizen. 22 «Hamlet»- oder Bergman-Movie-Fragmente.
23 Der unsere endet mit Grossvaters Vater. 26 Wird von geflügeltem Liaisonstifter gespannt. 28 Von ihm Verehrter, ist andenseits ein Kamel. 30 Begegnet einer Mieze, die bis aufs Grinsen verschwindet. 32 Schwarzgoldhaltiger Kanal. 36 Stehen nicht mit dem Rücken zur Wand. 37 Ging, laut
Buch der Bücher, in Ostanatolien an Land. 38 Seltenes Versammlungsevent – Frauenquote: null Prozent. 39 Tschechows Vanja folgt ihm in Valencia. 40 Ist blosser Nachhall des Originals. 41 Bei drögen Dozenten reine Platzverschwendung. 42 Hilfsmittel, damit störendes Hören vergeht. 43 Nimmt eine
LÖSUNG RÄTSEL Nº 18: MAEHDRESCHER
WAAGRECHT (J + Y = I): 5 BADEZIMMERSPIEGEL. 13 MILITAERPARADEN. 18 HAMSTERKAUF. 19 (M)INI. 20 NDR (Norddeutscher Rundfunk).
21 ZIMTSTERN. 23 TEINT. 24 Rapperswil JONA Lakers (abgestiegener Eishockeyclub). 25 ESEL (Bremer Stadtmusikanten). 26 MALSTATT. 28 INN in -innen. 29 ULRICH Bräker (rich = engl. für reich). 30 TEA TIME. 33 SÈTE, sete (ital. für Durst). 34 (Raum-)INHALT. 36 DEE (Fluss bei
Balmoral). 37 (Berg-)ISEL. 38 (sou-)VENIR (franz. für kommen). 39 GENFER (enfer = franz. für Hölle). 40 ERATO. 41 «Lady Chatterley’s LOVER».
42 ROTHENTHURM.
SENKRECHT (J + Y = I): 1 FELSMALEREI. 2 OMAR Sharif («Doktor Schiwago»). 3 VERARMT. 4 CYANIT. 5 BOHRINSEL. 6 Amazon (OnlineBuchhandel) in AMAZONEN. 7 DIMINUTIV («Ein Männlein steht im Walde»). 8 ZITTERIG. 9 SAFTLADEN. 10 PRIESTER. 11 GENT(-leman).
12 ENDOTHERM. 14 Tess in TESSINER. 15 EKELHAFT, Anagramm: Kalthefe. 16 PUNA. 17 DYNAMIT. 22 TECHNO (Street Parade). 27 oro (ital.
für Gold) in TESORO (ital. für Schatz). 31 ÊTRE («L’être et le Néant»). 32 YEAH. 35 LEHM, Anagramm: Helm.
gewisse Tami nicht zum Lesen ins Bett.
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Zusammen mit Lo: mehrfach betonklotzgekröntes Duo. 2 Faser mit Hohlmass: bodigte in Wimbledon – legendär! – Sampras.
3 Gangart von Mitbestimmungsrechts wegen. 4 Bezieht bewegende Kraft vom eigenen Dach. 5 Behält Hinterlegtes, falls Auslösegeld fehlt. 6 À la Julienne
geschnipselte Fruchtoberschicht. 7 Der Benjamin unter den Hauptstädten der Welt. 8 Jene des Lavaux: schutzwürdig laut Unesco. 9 Vor zehn Jahren kam
das Aus für das Warenhaus. 10 Lieben auf Luxuriöses fixierte Taschendiebe. 11 Die pittoreske Kulisse der Ring-Filmtrilogie. 13 Darin simulieren Zücchin das einfache Leben. 14 Der Experte rät: Zum Grund gehen, wenn man in eine gerät. 15 Stilistisch, was typisch Landwirtschaft. 16 Pessimistisch gesehen: Rosenkriegsparteien in spe. 17 Was ein roter Alt-Bundesrat zur Angetrauten sagt. 21 Vertrautheit, die dem Schneider Befehl. 24 Im urbanen
Gelände rollende Kraftverschwendung. 25 Seine Steinlaus ist kein Thema bei Brehm. 27 Am Webdesign kann man die Stämme erkennen. 29 Wie man
den Biokatalysator Ferment heute nennt. 31 Von halbem Schwedenquartett vertontes Game mit Brett. 33 Beschert Einmannorchester wiederholt einen
fetteren Sound. 34 Ist – mehr als ein Gastspiel – in Paris am Ziel. 35 Hier wird die Missgestalt gepimpt.
«DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage
des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung»,
der «Berner Zeitung» und von «Der Bund».
Ruf Lanz
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Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) kämpft für tiergerechte Gesetze und ihren konsequenten Vollzug. Unterstützen auch Sie uns dabei mit Ihrer Spende: Postkonto
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DA S M AGA Z I N 19/201 5 WenN Tiere selber richten könNten,
würde Tierquälerei
härter bestraft werden.
REDAKTION Das Magazin
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Oberland Medien AG, Zürcher Regionalzeitungen AG
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MÉLANIE BLANC, 30, leistete eine Dekade lang Nothilfe für Hilfsorganisationen in vielen Ländern. Dann brauchte sie eine Pause.
Mein Vater, der für Organisationen wie
«Ärzte ohne Grenzen» gearbeitet hat,
war einmal in Haiti stationiert. Als Teenager habe ich ihn besucht, habe die extreme Armut auf dieser Insel gesehen
und wusste: Auch ich wollte helfen. Je
mehr ich über den Beruf des Helfers erfuhr – beim Politikstudium in Genf und
dem Masterstudiengang in humanitärer
Hilfe in Brüssel –, desto klarer wurde
mir, dass ich Nothilfe leisten wollte. Die
ist weder parteiisch noch politisch wie
die Entwicklungszusammenarbeit, sondern extrem pragmatisch:
Du kommst in einem Katastrophengebiet an und musst sagen, wie viele Lastwagen mit Nahrungsmitteln du brauchst.
Du stapfst mit dem Ingenieur das Gelände ab, wo du einen Brunnen bauen
willst, um zu sehen, ob der überhaupt
dort hinpasst. Du musst Kontakte knüpfen zu Autoritäten, zur lokalen Bevölkerung, zu anderen Organisationen vor Ort.
Ein guter Chauffeur ist Gold wert, der
spricht die Sprache, kennt alle Wege,
weiss, was zu tun ist, wenn etwas schiefgeht – und er kann dich vorstellen. Die
Leute müssen wissen, wer man ist, was
man für sie machen kann, und vor allem, was nicht.
Humanitäre Organisationen sind
nicht überall willkommen, vor allem,
wenn Krieg herrscht. Die Bevölkerung ist
dann besonders gefährdet. Bei einem
dieser Einsätze bedeutete das einmal,
alle paar Tage mit einem Boot mehrere
Stunden lang einen Fluss hochzufahren,
um in einem Dorf nachzufragen, ob alles in Ordnung sei. Mehr konnte man da
nicht machen; aber wenn die Konfliktparteien wissen, dass die Leute mit uns
reden, hilft das oft schon.
Die Arbeit ist erfüllend und frustrierend. Frustrierend, weil die Hilfe nie
reicht. Das Schlimmste ist, wenn du
nichts tun kannst. Wenn jemand seinen
Bruder vermisst, von dem klar ist, dass
er umgebracht wurde, dann möchte man
einfach nur diesen Körper zurückbringen, damit die Familie ihn beerdigen
kann. Aber wenn du keinen Zugang bekommst, kannst du nichts machen. Dann
sitzt die Familie bei dir und weint – das
zieht einem das Herz zusammen.
Die Verantwortung macht einen stabiler, aber am Abend braucht man Ablenkung: Pingpong, Yoga, eine blöde Serie, durchatmen. Man kapiert, was eigentlich los ist. Je mehr Einsätze man
macht, desto rationaler geht man es an.
Man muss dann aufpassen, dass man
nicht abstumpft. Die Empathie zu behalten ist anstrengend, aber man muss
sich in die Situation der Menschen versetzen, sich jedes Mal fragen: Was würde ich jetzt brauchen? Wenn man nicht
voll dabei ist, fängt man an, mehr zu
schaden als zu helfen.
Man lebt in Krisengebieten in einer
Blase. Wenn du nach Hause kommst,
merkst du, dass das Erlebte nichts mit der
Normalität zu tun hat. Gegen Ende meines letzten Einsatzes im Sommer hat sich
nach zehn Jahren eine gewisse Müdigkeit eingestellt. Ich will nicht in eines dieser Extreme kippen, Adrenalin-Junkie
oder Zyniker werden, wie es manchen
Kollegen passiert, die schon lange dabei
sind. Es braucht wirkliches Mitgefühl für
diese Menschen. Aber das hältst du nicht
endlos durch. Darum habe ich jetzt eine
Pause gemacht und im Büro gearbeitet.
Doch diesen Sommer kehre ich zurück.
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Zürich. Anruf- und Einsendeschluss (Datum des Poststempels) ist der 30.6.2015. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Es wird keine Korrespondenz
geführt. Keine Barauszahlung. Die Ziehung findet am 6.7.2015 statt. Die Gewinner/innen werden schriftlich benachrichtigt. Der Wettbewerbspreis
ist gültig für eine Abreise bis 15. Okt. 2015. Mitarbeiter/innen der Tamedia AG und tourasia sind vom Wettbewerb ausgeschlossen.
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