«PAPA, WARUM HAST DU MAMA UM GEBR ACHT?» EIN FAMILIENDR AMA, S. 36 N ° 17 — 25. A PR I L 2015 «O HNE MAUER GÄBE ES KEINE MENSCHLICHE ZIVILISATION» Ein Gespräch mit dem Architekten Jacques Herzog MAILAND, MON AMOUR? BESICHTI GUNG EINER UN BEQUEMEN STADT, S. 24 <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2NzE0NwAAyikuzQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWLMQ6AMAwDX5TKThNS6IjYEANi74KY-f9EYWOwdZLP61o94cu8bMeyV4JmksMYqOSI5Ja9FkQq0QHKQUGfSIb2_fcQs6IOtFcRqHBoZG9hNFhO93k9DSjiCHQAAAA=</wm> Damen Jacke 119.– 100% Bio-Leinen, diverse Farben Herren Hose 69.95 100% Bio-Leinen DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D C OV E R : N AC Á S A & PA RT N E R S; E DI T OR I A L: W E R N E R BI S C HOF / M AGN U M PHO T O S EDITOR IAL/INHALT Mit Jacques Herzog diskutieren zu dürfen, ist immer eine grosse Freude. Die Weltausstellung in Mailand ist der Ausgangspunkt des Gespräches ge wesen, der Basler Architekt war mit beteiligt am Masterplan. Aus dem Ge spräch über die Weltausstellung ist schliesslich eines über die Schweiz und über die grossen Themen geworden, mit denen sich Herzog und sein konge nialer Partner Pierre de Meuron sowie ihr Team des Basler Büros Herzog & de Meuron beschäftigen (das Coverbild zeigt das Miu-Miu-Gebäude in Tokio). Städtebauliche und architektonische Fragen waren in diesem Magazin in den vergangenen Jahren immer wieder Thema. Im Moment bräuchte die Schweiz aber, so Herzog, eine noch viel breitere Diskussion darüber, wie wir in Zukunft in diesem Land leben wol len – Seite 12. Mailand 1946, im Hintergrund der Dom. Heute, fast siebzig Jahre später, putzt sich die Stadt heraus für die Expo. Grund ist, wieder einmal in den Zug zu steigen und dorthin zu fahren (vor allem, seit es den unsäglichen Cisal pino nicht mehr gibt). Die Stadt macht es einem nicht einfach – Mailand ist keine Stadt, die sich sofort erschliesst. Wir haben den grossen Schweizer Jour nalisten, Autor und Italienkenner Dieter Bachmann schon mal auf eine Dieses Heft setzt den Schwerpunkt auf Mailand. In einer Woche wird in der Erkundungstour vorausgeschickt. In guter alter Reportermanier hat er norditalienischen Metropole die Weltausstellung eröffnet, was ein guter sich durch die Stadt treiben lassen und Notizen gemacht. Seinen Eindruck, der zum Glück von lästigen Urteilen völ lig frei ist, lesen Sie auf Seite 24. Finn Canonica S. 12Der Architekt Jacques Herzog im grossen Gespräch. Von Finn Canonica S. 24Mailand, du bist keine Schönheit! Von Dieter Bachmann S. 36Papa, warum hast du Mama umgebracht? Von Malte Herwig 5 KOMMENTAR peugeot-professional.ch MENSCHENRECHTE «MADE IN SWITZERLAND» Unbestritten ist zwar, dass der Grundrechtekatalog der Bundesverfassung mit der EMRK weitgehend übereinstimmt und in einigen Aspekten sogar noch über diese hinausgeht. Die Schutz wirkung dieser Grundrechte ist jedoch aus mehreren Gründen viel schwächer als diejenige der EMRK. Erstens führt die in der Schweiz fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit dazu, dass die in der Bundesverfassung kodifizierten Grundrechte häufig gar nicht ein geklagt werden können. Für alle «rechtsanwendenden Behörden» inklusive des Bundesgerichts sind nach BV Artikel 190 die Bundesgesetze und nicht die Verfassung massgebend. Wenn ein Bundesgesetz gegen ein Grundrecht verstösst, kann das Bundesgericht nur unter Berufung auf die EMRK, jedoch nicht auf Basis des Schweizer Grundrechtekatalogs seine Anwendung aussetzen. Diese archaische Lücke in der hausgemachten Garantie der Grundrechte könnte nur durch die Verfassungsgerichtsbarkeit geschlossen werden, deren Einführung aber von mächtigen politischen Kräften verhindert wird. Am erbittertsten bekämpft wird die Verfassungsgerichtsbarkeit von der SVP. Es ist de facto nicht zutreffend, dass Blocher die «Swissness» des Grundrechteschutzes stärken will. Sehr im Gegenteil. Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Rechtslage nicht nur durch den Grundrechtekatalog, sondern auch durch die Fortentwicklung der Verfassung bestimmt wird. Mit neuen Verfassungsartikeln können Grundrechtsgarantien in der Schweiz jederzeit zur Unkenntlichkeit entstellt werden – etwa die Religionsfreiheit durch die Minarett-Initiative. Aufgrund des Initiativrechts, das zu viel häufigeren Verfassungsänderungen führt als in anderen demokratischen Rechtsstaaten üblich, werden in der Schweiz immer wieder schwere Ein schränkungen der Grundrechte beschlossen, ohne dass diese besonders geschützt werden könnten. Die Grundrechtsgarantien durch die Bundesverfassung sind deshalb im internationalen Vergleich ausgesprochen schwachbrüstig. Die Aufkündigung der EMRK wäre zuallererst für den Rechtsschutz der Schweizer Bürger eine Katastrophe. Dass die Freiheitlichkeit einer Verfassungsordnung sich vor allem daran bemisst, wie schwer sie es der Staatsmacht macht, die Grundrechte immer stärker zu beschränken, hat schon der liberale Staatsrechtler Zaccaria Giacometti unterstrichen. Ausgerechnet Christoph Mörgeli wollte ihn jedoch als Kronzeuge für sein Lager reklamieren. Giacometti – der im Übrigen ein vehementer Vertreter der Verfassungsgerichtsbarkeit war – sah den besonderen Menschenrechtsschutz der Schweizer Verfassung allerdings genau darin, dass das Referendumsrecht die Gesetzesentwicklung und damit die immer weitergehenden Eingriffe in die Grundrechte verhindere. Es sei das Referendum, das sich «konservativ und damit zugunsten des Individuums» auswirke, schrieb der liberale Staatsrechtler in «Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». Wüsste Giacometti, dass die exponentielle Häufung von Volksinitiativen die Bundesverfassung in ein pitoyables politisches Schlachtfeld der permanenten Verfassungsteilrevisionen und der immer neuen Grundrechtseinschränkungen verwandelt hat, er würde sich wohl im Grab umdrehen. DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin». 6 NEUER PEUGEOT 508 SW BlueHDi-Dieselmotoren Best-in-Class-Verbrauch von 4,2 l/100 km* <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2NzcyMAEAo2rxlQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWLKw4DMQwFT-ToPceO7QZWy1YLVstDquLeH_XDCgaMNLPv0xt-3Lfj2s5J0Ex6hMKmlzeNwZmIltFrTBhKQb-RWt07428Rs1QH1reRj6NWiaZwLHKkMqO9Hs83yY1cGnkAAAA=</wm> LEASING ab CHF 465.–/Monat WILLKOMMEN IN DER BUSINESS CLASS. JETZT BEREITS AB CHF 26 250.– Entdecken Sie die Limousine, die speziell für die Bedürfnisse von Geschäftskunden entwickelt wurde. Der neue Peugeot 508 SW Business Line besticht durch markantes Design, hohe Verarbeitungsqualität und viel Fahrspass. 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Warum verteidigte der SVP-Ständeratskandidat und Professor an seiner eigenen Alma Mater nicht die Vorlage, als deren geistiger Vater er gilt? Ein Grund könnte sein, dass die Volkspartei die staatsrechtliche Debatte tunlichst vermeiden will und deshalb lieber die Schlachtrösser des politischen Schaukampfs als einen Rechts experten in den Ring schickte. Bemerkenswert war, dass Blocher und Mörgeli – nebst farbenfroher Ausmalung des «Volksverrats» durch Brüsselhörige Eliten – sich auf das Argument einschossen, die Schweizer Rechtsprechung bedürfe der Sicherung durch die Europäische Menschenrechtskonvention gar nicht, da in der Bundesverfassung der Schutz der Grundrechte ohnehin viel besser gewährleistet sei. Kampagnenstrategisch ist diese Argumentation einleuchtend: Eine Vorlage, die unter dem Verdacht steht, den Menschenrechtsschutz in der Schweiz zu verschlechtern, hätte kaum eine Chance. Deshalb greift Blocher die EMRK nicht frontal an, sondern behauptet lieber, Menschenrechte «Made in Switzerland» seien ohnehin viel wirkungsvoller als internationales Vertragswerk. Dumm ist nur, dass diese Argumente in keiner Weise den juristischen Fakten standhalten. PEUGEOT BUSINESS LINE Peugeot 508 SW Business Line THP 165 S&S, CHF 35 000.–, inkl. Pack Business Line CHF 2 685.–, Swiss Bonus CHF 8 750, Endpreis CHF 26 250.– oder ab CHF 465.– monatlich, inkl. Leasing 3,9% und SwissPack Plus (für 4 Jahre oder 60 000 km). Verbrauch kombiniert 6,0 l/100 km, CO 2 -Ausstoss 139 g/km, Energieeffizienzkategorie D. Abgebildetes Fahrzeug: Peugeot 508 SW GT HDi 204 mit Sonderausstattung, CHF 49 676.–, Swiss Bonus CHF 11 425.50, Endpreis CHF 38 250.50. Verbrauch kombiniert 5,5 l/100 km, CO2 -Ausstoss 144 g/km, Energieeffizienzkategorie C. Gültig für Bestellungen vom 1.4. bis 30.4.2015. Der durchschnittliche CO2 -Ausstoss aller in der Schweiz verkauften Neuwagenmodelle beträgt 144 g/km. Preise exkl. 8% MWSt. Business-Line-Modelle sind für die gewerbliche und berufliche Nutzung bestimmt, die Angebote sind damit ausschliesslich für Flottenkunden bei allen teilnehmenden Peugeot-Partnern gültig. *gemessen mit BlueHDi 150 S&S NEUER PEUGEOT 508 SW DA S M AGA Z I N 17/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: DOR IS KNECHT Die Schriftstellerin durchquert den Steinhof am Rand von Wien und erzählt, warum sie sich gerne versteckt. Von MICHAEL HUGENTOBLER Wir sitzen im Taxi, ein Inder steuert einen schwarzen Mercedes aus Wien hinaus, einen Hügel hoch. «Sagen Sie, Frau Knecht, wann haben Sie eigentlich das letzte Mal eine Maus getötet?» «Letztes Wochenende. Zumindest habe ich es versucht.» «Welches ist denn Ihr bevorzugter Köder?» «Brekkies mit Nutella. Raten Sie mal, was die Maus gefressen hat.» «Ich habe keine Ahnung.» «Die Herdplatte.» «Die Herdplatte?» «Sie war flächendeckend angeknabbert. Die Matratze der Kinder ebenfalls – und die Knöpfe der Fernbedienung. Seltsamerweise aber nur die bunten Knöpfe, die schwarzen nicht.» Doris Knecht besitzt ein Haus auf dem Land. Es ist ihr Rückzugsort. Seit vorgestern ist sie allerdings wieder in der Stadt, denn gestern war Vernissage ihres neuen Romans. Die Mäuse sind ein wichtiger Teil des Buches, sie stehen für die Verwandlung der Protagonistin. Im Leben dieser Marian gibt es ein Vorher und ein Nachher. Im Vorher rennt sie kreischend vor den Mäusen davon, und im Nachher schaut sie den Tieren beim Sterben zu. Die Mäuse sind denn auch der brutalste Teil des Buches, wenn auch nicht der traurigste. Traurig sind die Männer: Sie sind entweder Versager oder Schurken. Beim Steinhof steigen wir aus dem Taxi, Krähen schaukeln in der Luft, ihre grauen Nackenfedern schimmern, irgendwo hämmert ein Specht. Es ist ein charakterloser Tag, der Himmel sieht aus wie ein schmutziger Gletscher. Das Wetter erinnert an jenes in Knechts Buch, ans Frieren der Marian. Der Leser folgt dieser Marian, die ins Ungewisse stürzt, von einer überteuerten Stadtwohnung mit beheizter Toilette, weichem Klopapier, Luftbefeuchter und Klimaanlage (Marians Liste des leeren Lebens ist mehrere Seiten lang) in die verlotterte Hütte ihrer toten Tante, an einen Ort, wo es fast nur noch Wald gibt. So heisst denn auch das Buch: «Wald». Früher, als sie das Haus auf dem Land noch nicht hatte, kam Doris Knecht oft hierher ins Erholungsgebiet Steinhof, wo ordentliche Kieswege und hübsche Baumreihen die Illusion von Natur vermitteln und die Stadt trotzdem nahe genug ist, dass man sie am Fuss des Hügels schimmern sieht. Knecht sagt, sie habe die Spielplätze in der Stadt nicht mehr ertragen können, darum habe sie sich zusätzlich zu ihrer Mietwohnung in der Stadt noch das Haus auf dem Land gekauft, weit weg von UBahn, S-Bahn und Flughafen. Damit ihre Kinder auf echten Wiesen spielen können. Knecht erliegt aber nicht der Selbstversorger-Sehnsucht. Sie hatte auf dem Land versucht, Tomaten zu züchten. Sie verfaulten. Sie setzte Kürbissetzlinge. Die Schnecken kamen. Sie sagt: «Da bin ich dann jeweils froh, dass ich ein Auto habe und in den Supermarkt fahren kann.» Ihre Heldin ist ein bisschen erfolgreicher im Garten, sie schafft es, einiges Gemüse anzupflanzen. Allerdings stiehlt sie dann doch vor lauter Verzweiflung das Lieblingshuhn einer Bäuerin. Doris Knecht ist in Vorarlberg zur Welt gekommen, einer ländlichen Gegend, und mit neunzehn sei sie nach Wien geflüchtet, sagt sie. Sie begann ein Studium und brach es ab, arbeitete als Putzfrau und Sekretärin, begann Kurzmeldungen für den «Standard» zu schreiben und war zehn Jahre später Chefredaktorin des Stadtmagazins «Falter». Vor fünfzehn Jahren begann sie beim «Magazin» eine Kolumne zu schreiben, die bis heute in verschiedenen Zeitungen fortgeführt wird, ein paar Hundert Geschichten über das Leben von Doris Knecht. Allerdings nicht das echte Leben, zumindest nicht zu hundert Prozent. «Die Leute glauben, mich zu kennen, aber das bin nicht ich», sagt sie. Partys seien nicht so ihre Sache, sie fühle sich in anonymen Massen nicht wohl, lebe lieber in ihrer Höhle. Oben in den Bäumen wachsen Misteln, unten geht ein älteres Paar, sie klammern sich an Walkingstöcke und tragen Kleidung wie Radrennfahrer. «Ich glaube, ich habe mit der Zeit eine soziale Phobie entwickelt», sagt sie. In der Ferne geht eine kleine Frau über ein grosses Feld, ein weisser Umhang schaut unter ihrer Jacke hervor und flattert im Wind; dann setzt sich die Frau auf eine Kinderschaukel und wippt unter dem bleiernen Himmel hin und her. «Anfangs habe ich wohl vor allem geschrieben, um Anerkennung und Lob zu bekommen, aber heute spielt das nicht mehr eine so grosse Rolle», sagt Knecht. Der kalte Wind wird immer stärker, und sie zieht sich eine blaue Mütze über die Ohren und purpurrote Handschuhe über die Finger. «Obwohl, Anerkennung schon.» Wir sind mittlerweile einen Kreis gegangen, vorbei an der ehemaligen Irrenanstalt, vorbei an der verrückten Kirche von Otto Wagner, die seinerzeit den Kaiser erzürnte, und wir sind wieder am Anfangspunkt angelangt. «Wenn Sie sich so gerne zurückziehen, warum sind Sie dann Schriftstellerin geworden?» «Weil das Schreiben das Einzige ist, was ich kann.» «Aber Schriftsteller müssen auch an Lesungen.» «Das ist dann immer lässig, aber es macht mich auch froh, wenn sie wieder vorbei sind.» «Und Sie verstecken sich wieder?» «So schreibe ich das nächste Buch.» Hinter einem langen Holzstapel dringt das Kreischen einer Säge hervor. Ein weisser Traktor mit orangen Überrollbügeln schiebt Baumstämme durch den Dreck. Wir fahren in Bus Nummer 46A den Hügel wieder hinunter, am Gasthaus Starchant und einem Hallenbad vorbei. Anfangs haben die Häuser noch Gärten, dann stehen sie immer näher beisammen und bilden schliesslich Reihen von Blocks. Wir steigen beim Brunnenmarkt aus. Der Wind ist hier unten kaum noch zu spüren, stattdessen brummt die Stadt. Es ist jetzt fast 14 Uhr, Doris Knecht will nach Hause. Sie muss kochen gehen für ihre Kinder. Doris Knecht auf dem Land, Wien aber noch in Sichtweite Bild DAV I D PAY R 9 HAZEL BRUGGER DUFT DER INSOMNIA Wenn ich nachts nicht schlafen kann, lese ich gerne die neusten Einträge in Parfümforen. Selbst ernannte FragranceAficionados geben dort ihr Innerstes preis und schreiben über Wirkung und Emotion hinter Düften. Die Texte wären ausgedruckt oft mehrere Meter lang und von einer ehrlichen Schwurbeligkeit, die ich mir ausserhalb des Pyjamas nicht antun könnte. Man lässt sich bewerten, kommentiert Kommentare und kann virtuelle Auszeichnungen verschicken. Diese Foren haben ihre ganz eigenen Stars, und manchmal kriegt man einen Wortwechsel mit, der auf Vertrautheit zwischen den einzelnen Usern deuten lässt. Um die Gerüche selber geht es nur am Rande – denn wie in jeder Szene ist man hier, um sich als Teil des Ganzen und weniger extrem banal zu fühlen. Ein Spritzer würde genügen, und plötzlich wäre Taurus 67 wieder in der Dorfdisco, und draussen ist es 1983. Man tanzt zu Michael Sembello, und die Mädels sehen gut aus. Das allererste Handy ist auf dem Markt und wiegt 800 Gramm, Jordanien kriegt einen neuen Flughafen, auf Galapagos wird der letzte Riffbarsch gesichtet. Taurus 67 hat sich eine Fahrt im mattglänzenden Wikingerschiff gegönnt, sich den schwarzen Drachen auf die Haut gestäubt. Spiel? Spannung? Schokolade? Nein, er hat etwas viel Besseres zu bieten, etwas Exotisches, un vergesslich: «Drakkar Noir» von Guy Laroche, ein olfaktorischer Hochgenuss. Kopfnote: Artemisia, Basilikum, Bergamotte, Lavendel, Rosmarin, Zitrone und Zitronenstrauch; Herznote: Gartennelke, Jasmin, Koriander, Wacholder und Zimt; Basisnote: Amber, Eichenmoos, Leder, Patchouli, Sandelholz, Tanne, Vetiver und Zedernholz. Klar, denke ich, während ich müde werde und versuche, mir den Geruch vorzustellen. Lavendel kenne ich, Koriander hätte ich notfalls noch zur Schnupperprobe in der Küche, und wer oder was Artemisia ist, müsste ich zu- erst noch googeln. Über Düfte zu lesen, ist so abstrakt, wie als Hörender Clips zu schauen, in denen Konzerte in Gebärdensprache dargestellt werden. Doch leider ist der schwarze Drache nicht mehr das, was er in den Achtzigern einmal war. Man hat mit dem Millennium auch die Rezeptur geändert – es ist traurig, einem Feuertier so den Lebensgeist zu nehmen. Ähnlich Rilkes Panther nunmehr eine zensierte, abgeschwächte Version seiner selbst. Der Flacon überzeugt Taurus 67 auch nicht mehr wirklich, er ist zu sehr en bloc und nicht filigran genug. Optisch kommt hier nur die Schwere durch, man könnte dem Duft als Laie leicht eine Lautstärke und Aufdringlichkeit vorwerfen. Dabei ist es diese lederne Leichtigkeit, die einen packt, die einen streift wie schwingende Mottenflügel an der Nackenhaut, wie der verlorene Kuss einer Fremden in einer Nacht ohne Mond. Etwas, das durch Klarglas-Elemente vielleicht besser unterstrichen würde. Ich stelle mir Kinder vor, die in der Schule erzählen, dass ihr Vater Parfümflaschen designt. Kinder, die vielleicht nie gezeugt worden wären, wenn die genetischen Differenzen der Eltern beim Kennenlernen nicht durch einen ansprechenden Duft überdeckt gewesen wären. Kinder, welche die Natur so eigentlich nicht vorgesehen hat, kleine Armeen von «Drakkar»-Babys in der Obhut von unparfümiert inkompatiblen Eltern. Die Dorfdisco gibt es heute nicht mehr, sagt Taurus 67. Früher konnten die Mädchen sich sicher sein, ihn dort auch noch frühmorgens tanzend im Nebel vorzufinden. Der Drache trug einen Schild gegen Schweiss, hatte Zähne zum Anbeissen und ein alles verzehrendes Feuer für die Nacht. Heute ist er gräulich und mit dritten Zähnen. Er blinzelt müde in die Runde. Ich stelle mir Düfte vor und wie die Schlaflosigkeit ein Ende nimmt. Ich träume von Artemisia. Die Slampoetin H A Z EL BRUG GER ersetzt diese Woche ausnahmsweise Katja Früh. Bild LU K A S WA S SM A N N DA S M AGA Z I N 17/201 5 M A X KÜNG GUTE FR AGEN Das erste Mal habe ich es mit Charlotte probiert. Es hat nicht geklappt. Dann habe ich es mit Ditta versucht. Obwohl es anfangs ganz vielversprechend aussah: Es war nicht wirklich befriedigend, wie es am Ende herausgekommen ist. Danach habe ich es mit Désirée gewagt. Schon bald aber war mir klar: Das wird auch wieder nichts. Es gibt gute Fragen, eine davon ist: Warum tragen Kartoffeln eigentlich immer Frauennamen? Die Erklärung ist wohl – so habe ich irgendwo mal gelesen –, dass früher die Bauern die tollsten Kartoffelzuchten nach ihrer schönsten Tochter benannten, aus Stolz auf sowohl Kartoffeln wie auch ihre Töchter, denn beides versprach ja so etwas wie Zukunft. Aber wenn dem so wäre, wie verhielte sich das denn mit dem Sprichwort, dass die dümmsten Bauern die grössten Kartoffeln haben? Eine andere gute Frage ist: Warum werden verdammt noch mal meine Pommes frites nicht so gut wie die, welche man in Belgien auch in der hinterletzten Bude serviert bekommt? Dass diese belgische Spezialität, das Frittieren, nicht so simpel ist, wie es scheinen mag, das weiss ich. Es gibt da ein paar nicht zu unterschätzende Faktoren, so wie es jeder Wissenschaft eigen ist. Soll man einmal oder zweimal frittieren? Zwischen den Frit- tiergängen die Ware tiefkühlen? In Raps- oder in Erdnussöl frittieren? Oder doch Rinderfett nehmen? Pferdefett? Bei welcher Temperatur? Wie lange? Soll man die Kartoffeln dick schneiden oder dünn? Waschen oder nicht? Und natürlich: Welche Kartoffelsorte soll man nehmen? Mehligkochend? Festkochend? Was dazwischen? Und Kartoffelsorten gibt es viele; das Lexikon listet allein für den Anfangsbuchstaben A nicht weniger als 46 verschiedene Sorten auf: Antonia! Afra! Agnes! Nun, in Belgien scheints verwendet man Bintje. Das hat mir ein Belgier einst erzählt. Was ich nicht wusste: Auch Bintje ist ein Frauenname, wenn auch hierzulande und heute wenig geläufig. Die Kartoffel Bintje heisst Bintje, weil: Ihr Züchter war ein Botaniker namens Kornelis Lieuwes de Vries, geboren 1854 im zur Gemeinde Tytsjerksteradiel gehörenden Ort Hurdegaryp. Die von ihm gezüchteten Kartoffeln benannte er jeweils nach seinen Kindern. Da er aber bloss neun Kinder hatte, brauchte er für seine zehnte Züchtung einen Namen, und da De Vries auch Lehrer war, nahm er einfach den Namen seiner kleinsten Schülerin: Bintje Jansma. Im Jahr 2012 wurde die Bintje noch zur «Kartoffel des Jahres» gewählt, aber heute scheint sie bei uns aus den Läden verschwunden zu sein, wohl wegen ihrer grossen Anfälligkeit gegenüber Kraut- und Knollenfäule und Kartoffelnematoden. Wo ich auch fragte: Bintje? Schulterzucken. Es gibt zwei Dinge, über die sehr viel geschrieben wird. Das ist einerseits – wie in diesem Fall hier – das Essen, andererseits die Sexualität. Die beiden Dinge weisen eine gewisse Verwandtschaft auf. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand und darüber hinaus um die Befriedigung von individuelle Bedürfnissen. Viele halten sowohl das Essen wie auch die Sexualität für überbewertet. Viele sagen, das Essen sei der Sex des Alters. Ich glaube, es ist umgekehrt: Der Sex ist das Essen der Jugend. Wie dem auch sei, meiner Meinung nach weist das Essen der Sexualität gegenüber gewisse Vorteile auf. Zum Beispiel finde ich es toll, dass man beim Essen seine Kleider anbehalten kann. Noch besser als zu essen ist aber das Kochen. Und etwas vom Schönsten am Kochen ist es, wenn man den feinmaschigen Metallkorb ins siedende Öl absenkt, im Korb die von Hand geschnittenen bleichen Kartoffelstifte, und man dieses Geräusch vernimmt: ein zischendes Brodeln oder brodelndes Zischen, das sich fortan stets leicht verändert. Morgen versuch ich es mal mit Amandine, der Liebenswerten. Vielleicht klappt das ja. Obwohl: Ich glaube, es muss Bintje sein. Bintje … M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin». 11 Jacques Herzog spricht darüber, warum viele Schweizer Veränderungen ablehnen, wie unterschiedlich sich Städte trotz Globalisierung entwickeln – und warum Herzog & de Meuron nie einen eigenen Stil anstrebten. Von Finn Canonica Porträt Till Janz 12 DA S M AGA Z I N 17/201 5 «M AN KANN EINE STADT NICHT EINFACH LASSEN, WIE SIE IST, SONST STIRBT SIE.» Das Magazin — Jacques Herzog, die Welt ist auf jedem Smartphone ständig präsent, warum finden heute noch Weltausstellungen statt? Sind solche Ausstellungen nicht ein Anachronismus? Jacques Herzog — In der bisherigen Form sind sie anachronistisch und eine Verschwendung von viel Geld und Ressourcen. Die letzte Weltausstellung von Shanghai steht exemplarisch dafür: eine Ansammlung von Pavillons, jeder mit prätentiösem individuellem Design aufgebaut und mit Ausstellungen ausgestattet, die auch sonst wo stattfinden könnten und deshalb wenig Sinn machen. Die Länder der Welt präsentieren sich durch unterschiedliches Design ihrer Pavillons und werden paradoxerweise gerade dadurch ununterscheidbar. Es ist ein Wettbewerb des Designs, dabei müsste es um Inhalte gehen. Und dann ist die Ausstellung vorbei, und kein Mensch weiss mehr, was das Thema war. Der Eiffelturm ist das wohl dauerhafteste Produkt einer Weltausstellung. 14 Der Eiffelturm und der Crystal Palace in London waren Ausnahmen, technische Errungenschaften ihrer Zeit, die so nur anlässlich einer Weltausstellung realisierbar waren. Das kann heute kein nationaler Pavillon mehr leisten. Deshalb muss man dieses Konzept abschaffen oder radikal neu angehen. Der Besucher sieht eine mehr oder weniger kohärente Show, die irgendwie im Zusammenhang steht zum Grossthema der Ausstellung, aber kaum ist er draussen, ist alles vergessen. Er erinnert sich nur noch an die unendlich grosse Gastromeile und den Stress, den er hatte, als er mal eine Toilette suchen musste. Dennoch haben Sie sich dafür entschieden, am Masterplan der Mailänder Ausstellung mitzuarbeiten. Wir stiegen darauf ein, weil auch Carlo Petrini, der Slow-FoodBegründer, im Team war. Petrini ist eine beeindruckende und begeisternde Persönlichkeit. Seine Überlegungen zur Produktion von Nahrungsmitteln in Bezug zu spezifischen Landschaften haben uns überzeugt. Wir besuchten ihn im Piemont, wo er eine weltweit angesehene Universität für «Gastronomic Sciences» aufgebaut hat. Unsere Zusage erfolgte in der erklärten und von allen – inklusive der damaligen Bürgermeisterin Letizia Moratti – mitgetragenen Absicht, das Konzept einer Weltausstellung ganz neu anzugehen: Mehr Inhalt, möglichst wenig Design. Das Thema der Ausstellung – «Feeding the Planet, Energy for Life» – erschien uns dafür ein sehr geeignetes und drängendes Thema. Die Ausstellung beginnt in einer Woche. Wie muss man sich das Gelände in Mailand vorstellen? Unser grosses Anliegen war, mit unserem Masterplan den läppischen Design-Wettbewerb der Länderpavillons überflüssig zu machen und dafür die spezifischen Beiträge der verschiedenen Länder zur Ernährung der Welt als Inhalt zu fokussieren. Ebenso wichtig war die Nachhaltigkeit des Plans. Das Gelände ist heute eine grosse Grünfläche neben der Messe. Wir plädierten dafür, auf eine weitere gesichtslose Bebauung im Stil der Mailänder Trabantenstädte zu verzichten – uns schien es klüger, das Expo-Gelände als grossen, urbanen Garten für die Nahrungsproduktion zu erhalten. Es sollte eine Art Gartenstadt entstehen, mit einzelnen Gebäuden und Gastbetrieben darin, beinahe dörflich, als Kontrast zur Dichte der Metropole Mailand und als einmaliges Asset für die Attraktivität des benachbarten Messegeländes. Zusammen mit den Architekten Stefano Boeri, Richard Burdett und Mark Rylander haben wir einen solchen Plan entworfen. Carlo Petrini war als Mentor mit dabei. Es wird dennoch nationale Pavillons geben. Ja, das ist ja klar und auch als Botschaft zu verstehen: Es geht um eine Welt der unterschiedlichen Länder und der spezifischen Landschaften mit ihren spezifischen Qualitäten und Herausforderungen. Möglichst jedes Land soll ja dabei sein können. Leider ist es uns nicht gelungen, die Expo-Leitung dazu zu bringen, auf die einzelnen Länder einzuwirken, damit sie auf ein eigenständiges Design ihrer Pavillonarchitektur verzichten. Bis heute ist nicht klar, wer das abblockte ... dabei wäre die Gelegenheit ja günstig gewesen, mit der Schweiz, welche als erstes Land ihre Beteiligung zusagte, ein Anfangssignal zu setzen. Welch verpasste Chance! «Steckt das Geld in die Gärten» DIE NEUE DINERS CLUB ® KARTE VON CORNÈRCARD. Die ideale Begleitung für aktive Menschen, die leidenschaftlich gerne die Welt erkunden, das DA S M AGA Z I N 17/201 5 Gute Architektur ist mehr als das «Design» von Häusern, nebst Raum gestaltet sie immer auch Umgebung und schafft so einen Ort. Die Miyuki-Strasse ist eine kleine, nicht besonders hübsche Strasse in Tokios Aoyama-Bezirk. Es gäbe keinen Grund der Welt, sich länger in dieser Strasse aufzuhalten als die paar Minuten, die es braucht, um sie zu durchschreiten – wenn nicht diese beiden Gebäude wären, die sich dort schräg gegenüberstehen. Beide wurden von Herzog & de Meuron für das italienische Modeimperium Prada gebaut. Das mächtigere erscheint wie ein grosser, jedoch eigentümlich lebendiger Kristall mit einem bienenwabenartigen Innenleben. Schräg gegenüber steht, wie sein Antipode, das neuste Werk des Basler Büros. Es ist eine geheimnisvolle Schatulle aus Stahl, deren Inneres wie weich gepolstert wirkt, obschon aus einer dicken Schicht aus Kupfer. Es kann kein Blick in das Gebäude dringen, also «schnell, schnell hinein, bevor ich wieder zuklappe», bedeutet einem das leicht geöffnete Vordach, das gleichzeitig Fassade ist zur Strasse hin. Auch für dieses Projekt von Herzog & de Meuron gilt, was viele ihrer Arbeiten auszeichnet: Sie sind visuelle Rätsel, bei denen man erst nach ein paar Minuten merkt, dass einem die Lösung ja direkt vor den Augen steht. So unterschiedlich die beiden Bauten auch sind, auf geheimnisvolle Art entfalten sie zusammen noch mehr Wirkung und verleihen dieser banalen Strasse im vielerorts gesichtslosen Tokio eine Identität. Jacques Herzog lässt viel Welt in seinen Kopf, was dazu führt, dass man seinen eigenen Kopf im Gespräch mit dem Architekten immer wieder neu kalibrieren muss: Urbanisierung der Schweiz, die Kräfte der Globalisierung und ihre Folgen auf das gebaute Bild der Welt, die Bedeutung von lokaler Identität, die Weltausstellung in Mailand – die Breite der Themen, mit denen sich die Architekten von Herzog & de Meuron produktiv beschäftigen, ist immens. Architektur wird in den Räumen ihres Basler Büros im besten Sinne des Wortes verstanden als eine Disziplin, in der alle Fäden zusammenlaufen. Die Schweiz täte gut daran, wenn sie die Visionen ihrer zahlreichen, hervorragenden Architekten vertiefter diskutieren würde. gewisse Etwas schätzen und das Leben mit seinen vielen Facetten auskosten. Der Spezialist für Kredit- und Prepaidkarten. dinersclub.ch 16 barn nicht wirklich. Aus dieser Grundhaltung heraus ist er immer eine Spur unfreundlich und auf Distanz bedacht. Die Schweizer wollen sich abgrenzen und sich zu nichts bekennen. Das belegen die Abstimmungsresultate der letzten Jahre. Das kann man zu interpretieren versuchen und gut oder schlecht finden. In jedem Fall ist dies auch Ausdruck eines Freiheitsdranges, welcher der Schweiz im Verlaufe ihrer Geschichte zu manchem Vorteil verholfen hat. Für jegliche Idee von Stadt ist es aber fundamental wichtig, dass man mit anderen in Kontakt treten will, dass man Brücken schlägt, Öffentlichkeit sucht und sie auch akzeptiert. Die grosse Theorie des französischen Soziologen und Stadttheoretikers Henri Lefebvre besagt, dass ein Ort umso urbaner ist, je mehr soziale Interaktionen an ihm stattfinden. Im Denken Henri Lefebvres ist der Begriff der Differenz zentral. Dort, wo Andersartiges aufeinanderprallt und sich produktiv austauscht, entsteht Urbanität. In den Zentren einiger Schweizer Städte kann man diese auf Differenz gründende Urbanität im Ansatz erkennen. Diese Urbanität erfordert auch Dichte und eine gewisse Masse. Genau das sind aber Dinge, die hier nicht gut ankommen, wie die letzten Abstimmungen gezeigt haben. Einzonungen, Aufzonungen, Hochhäuser ... das alles sind für Schweizer Ohren Schimpfworte. Verdichten heisst immer auch verdrängen. Verdichtung in den Städten geht oft auf Kosten der ökonomisch Schwachen. Die gesellschaftliche Balance der Schweiz ist ihre Stärke. Deshalb braucht es auch Platz und Wohnraum für alle Gesellschaftsschichten. Ein starker Mittelstand ist von zentraler Bedeutung, sonst entstehen Ghettos für Arme und ebensolche für Reiche. Neue oder nachverdichtete Quartiere können für alle Ansprüche sehr attraktiven Wohnraum bieten – das ist kein architektonisches oder städtebauliches Problem, solche Modelle existieren längst und mit Erfolg. Das Problem ist, dass die extremen Kreise sowohl der Linken/Grünen als auch der Nationalkonservativen solche Projekte bisher erfolgreich blockiert haben. Der Zeithorizont in der Politik schrumpft – die Erwartungen an Architekten und Planer steigen. Sie sollen die Schweiz bauen, aber die Politik macht keine Vorgaben, in welcher Schweiz wir eigentlich leben sollten, das Land ist zerrissen, es herrscht ein Kulturkampf zwischen der Stadt und dem Land. Noch nie, seit ich als Architekt tätig bin, hatte die Bevölkerung so wenig Verständnis dafür, dass man Stadt immer weiterbauen muss. Dabei ist dies eine unvermeidliche Tatsache: Man kann eine Stadt nicht einfach so lassen, wie sie ist, und konservieren, sonst stirbt sie. Wir müssen sie ständig verändern, und dadurch verändert sich eben auch das Leben ihrer Bewohner. Dieser Prozess macht vielen Mühe, obwohl mittlerweile verschiedene Mitbestimmungsmodelle in der Planung eingesetzt werden. War das denn in der Schweiz mal anders? Ich kann mich erinnern, wie mein Vater mir in den Sechzigerjahren die damals neue Basler Kunstgewerbeschule gezeigt Ihr Volvo weiss schon seit gestern, wo Sie morgen hinwollen. MIT VOLVO ON CALL PROGRAMMIEREN SIE IHR NAVI EINFACH PER SMARTPHONE . Und geben Ihrem Smartphone noch eine ganze Reihe weiterer nützlicher Funktionen. Öffnen und verriegeln Sie Ihren Volvo z. B. oder rufen Sie alle relevanten Fahrzeugdaten ab – egal, wo Sie gerade sind. Besuchen Sie jetzt Ihren Volvo Vertreter und testen Sie Volvo on Call persönlich. VOLVOONCALL .CH DA S M AGA Z I N 17/201 5 und nicht ins Design des Gebäudes, das war immer unser Argument. Es gibt kein «nationales Design», um «nationale Identität» auszudrücken, wie dies noch an der Landi 39 mit den Bauten von Hoffmann oder Meili versucht wurde. Bereits die Expo in Lausanne von 1964 musste der damals bildmächtigen Architektur der Moderne den Vortritt vor den nationalen Stilversuchen lassen, und in der heute globalisierten Welt sind Versuche, nationale Identität durch eine eigene Architektursprache zu schaffen, ohnehin zum Scheitern verurteilt. Für Mailand schlugen wir deshalb standardisierte Pavillons in verschiedenen Grössen und Zusammensetzungen vor und grosszügige Zeltdächer für die Promenaden und Plätze. Ausgestiegen sind wir 2013, als klar wurde, dass es bezüglich der Pavillons die gleiche Designschlacht geben sollte wie eh und je. Können Sie den Masterplan beschreiben? Die Form und Infrastruktur unseres Masterplans wird umgesetzt. Wie in der römischen Stadt wird es einen Cardo und einen Decumanus geben, zwei Hauptachsen also. Die eine verläuft von Norden nach Süden, die andere von Westen nach Osten. Wir stellten uns vor, dass auf dem Cardo – also mitten auf dem Hauptboulevard der Expo – ein langer Tisch steht, wo jedes Land unmittelbar vor seinem Pavillon seine eigenen Produkte aufträgt. In dieser Direktheit und Symbolik lag die Stärke unseres Konzepts: ein langer Tisch wie beim Abendmahl, an dem die ganze Welt zu Gast ist. Getrübt wird das Konzept, wie gesagt, durch die individualisierten Länderpavillons. Was bleibt nach der Ausstellung? Wer weiss das? Das Problem der heutigen Politik in Italien ist ihre grosse Unberechenbarkeit. Die Expo findet auf einem sehr gut erschlossenen Gelände statt – ob die Gartenidee erhalten werden kann, ist deshalb fraglich. Die Expo 2015 wird eine Gelegenheit sein, sich besser mit Mailand anzufreunden. Es fällt schwer, die Stadt ins Herz zu schliessen, im Gegensatz zu Paris oder Rom zum Beispiel. Mailand ist nicht so hedonistisch wie Rom oder Neapel; aber Mailand ist dennoch ein Mythos. Für uns Schweizer ist Mailand die erste Stadt des Südens, ein Versprechen! Jeder kennt dieses erwartungsfrohe Gefühl bei der Einfahrt in den grossartigen Mailänder Hauptbahnhof! Und dann? Mailands Städtebau ist in seiner monolithischen Kohärenz zwar faszinierend – eine Fundgrube für Architekten –, aber es gibt in dieser Stadt wenig «Leichtigkeit»: kein Wasser, keine Erhebungen, keine besondere Topografie. Mailand ist die Verkörperung der steinernen Stadt. Also genau das, womit in der Schweiz viele Mühe haben. Der antiurbane Reflex vieler Schweizer ist sehr gross, obwohl die Verstädterung des Landes längst Realität ist. Weshalb ist das so? Die Schweiz ist trotz zunehmender Urbanisierung nicht durch die Urbanität ihrer Städte geprägt. Es gibt ja gar keine grosse Stadt in der Schweiz und wird auch kaum je eine geben. Die Schweiz ist heute eine vollständig urbanisierte Landschaft, in der es keine wirklichen Städte, aber auch keine unberührte Landschaft mehr gibt. Kann man das ändern? Und: Soll man das ändern? Ich glaube, der Schweizer mag im Grunde seine Nach- SWISS PREMIUM 10 JAHRE/150 000 KM GRATIS-SERVICE 5 JAHRE VOLL-GARANTIE Volvo Swiss Premium® Gratis-Service bis 10 Jahre/150 000 Kilometer, Werksgarantie bis 5 Jahre/150 000 Kilometer und Verschleissreparaturen bis 3 Jahre/150 000 Kilometer (es gilt das zuerst Erreichte). Nur bei offiziellen Volvo Vertretern. R E C H T S: I WA N B A A N (2 X ) 18 DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DER L I N K S: C H R I S T I A N R IC H T ER S; M A RGH ER I TA SPI LU T T I N I; «Gebäude müssen ins soziale Leben einer Stadt eingebettet sein.» Prada Aoyama Gebäude in Tokio (Bild oben), Sammlung Goetz in München (Bild unten). «Wir gehen jedes Projekt völlig frei an, so, als ob es das allererste wäre.» Naturbad Riehen (Bild oben), Parkhaus 1111 Lincoln Road, Miami (unten). 20 teure Prestigebauten, der klassische Wohnungsbau interessiert die gar nicht mehr. Der einzelne Wohnungsbau ist weniger interessant als die Konzeption eines ganzen Quartiers, wo verschiedene Architekten zum Zuge kommen. Das gibt es heute zwar auch, es ist aber zum Aufgabenbereich grosser Investoren geworden – anders als bei den gründerzeitlichen, historischen Quartieren unserer Städte. Der Grossinvestor baut grosse, zusammenhängende Blöcke, quasi aus einer Hand, während früher – zum Beispiel im Gundeldingerquartier in Basel – jede einzelne Parzelle von einzelnen Kleininvestoren, Familien etc. bebaut wurde, was zu einer grösseren Vielfalt führte, die wir heute als «schön» empfinden, obwohl die einzelnen Bauten nicht immer so toll sind. Dieses Modell ist heute ökonomisch schwierig geworden, das heisst, das damit verbundene städtebauliche Dilemma ist nicht in erster Linie ein architektonisch-ästhetisches, sondern auch eines der wirtschaftlichen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Was wäre denn, rein theoretisch, die beste Lösung, um dem Land baulich Kontur zu verleihen? Mit einer radikalen Idee: Man kann nur noch dort bauen, wo schon etwas steht, ein Parkplatz, eine Rabatte, ein verlassenes Rangierfeld, eine unternutzte Bauparzelle etc., also an den vergessenen oder verwahrlosten Unorten unserer Städte. Solche Szenarien untersuchen Pierre de Meuron und ich seit einiger Zeit am ETH Studio Basel zusammen mit unserer Assistenz und den Studierenden. Das ist nicht nur ein interessanter Wahrnehmungsprozess, weil wir viel Interessantes und Unbekanntes an alltäglichen Orten entdecken, es macht auch Potenziale sichtbar, die wir alle unterschätzt haben und deren Neunutzung eine politische Chance bedeutet. Lassen Sie uns über die jüngste Publikation des ETH Studios Basel reden. Sie und Ihre Kollegen zerpflücken die These, wonach die Globalisierung alle Städte gleich gemacht habe. Natürlich gibt es in immer mehr Städten Starbucks, McDonald’s, Zara etc. – all diese globalen Konzerne eben. Dieses Phänomen betrifft jedoch vor allem die Fussgängerzonen der Innenstädte und die Geschäftszentren, Orte also, die ohnehin nicht durch das gewöhnliche Alltagsleben der Menschen geprägt werden. Dort jedoch, wo das eigentliche Leben stattfindet, in den Wohnquartieren, Industriebezirken und an den Stadträndern, haben sich Städte extrem unterschiedlich entwickelt, und dies oftmals gerade als eine Reaktion auf die Globalisierung. Im Verlaufe ihrer Geschichte werden Städte immer spezifischer. Die gegenteilige These stammt von Ihrem Kollegen Rem Koolhaas, er schuf den Begriff «Generic City», die Stadt ohne Eigenschaften, und fand damit vor zwanzig Jahren grosse Beachtung. Die These von Koolhaas war seinerzeit wichtig: Sie war anregend, provokativ und vor allem plakativ; sie hat zu vielen guten Diskussionen geführt. Aber sie ist falsch. Die meisten Thesen und Theorien haben sich im Verlauf der Architekturgeschichte als unbrauchbar erwiesen, und dennoch waren sie einst wichtig, um die Debatte, wie man Städte bauen soll, über- DA S M AGA Z I N 17/201 5 hat, voller Stolz auf den modernen Bau. Als kleiner Junge fand ich das natürlich irrsinnig spannend. Wir gingen gern auf Baustellen! Es war reizvoll, dort zu leben, wo es modern war. Heute ist es doch eher umgekehrt, und diese kritische und skeptische Haltung ist auch verständlich, wenn man sich die Flut an Hässlichkeit vergegenwärtigt, die sich in der Schweiz seit den Sechzigern breitgemacht hat. Skepsis und Kritik sind nie schlecht, schlecht sind hingegen die Lust- und Freudlosigkeit und der Mangel an Bereitschaft, Neues zu wagen und willkommen zu heissen, auch wenn es grösser ist und anders als das, was man zuvor gekannt hat. So wird die Planung in der Schweiz paralysiert und zu einem freudlosen, technokratischen Geplänkel, wo es nur darum geht, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner herumzureiten. Der extreme Föderalismus, der beinahe Fetischcharakter hat, erschwert die Raumplanung in der Schweiz zusätzlich. Der Föderalismus ist die unantastbare DNA der Schweiz – aber auch der Föderalismus muss sich wandeln, wenn wir ihn erhalten wollen. Wir brauchen einen Föderalismus, der die gelebte Alltagsrealität besser abbildet: multikantonale Grossregionen und Metropolitanregionen, die in einem Wettstreit sind. Eine starke Region Zürich reicht nicht, sondern schadet und provinzialisiert die Schweiz. Genf und Basel, aber auch andere Städte sind gleichwertig zu fördern. Wir sind gefordert, die Schweiz effizient und kompetitiv zu gestalten. Das weiss die Politik, und die Landesplanung ist in der Art aufgestellt. Aber dieses wirklich grundlegend föderalistische Bild der Schweiz ist noch nicht wahrnehmbar und noch lange nicht in den Köpfen der Menschen angekommen. Diese Diskussionen währen schon lange, es scheint sich aber nicht viel zu bewegen; die Begeisterung für Neues fehlt, es ist, als habe man den Glauben an den Fortschritt zumindest im Städtebau verloren. «Stadt bauen» heisst eigentlich, den zukünftigen Ort für den Menschen bauen. Was für ein Ort soll das sein, wie wird die Zukunft aussehen? Je lebendiger diese Diskussion geführt wird, je mehr Menschen, Quartiergruppen, Feuilletons, Fernsehformate, Schulen und Universitäten sich mit dieser Frage beschäftigen, desto mehr bewegt das unsere ganze Gesellschaft. Wir wünschen uns mehr Debatte und nicht weniger. Debatte mit Engagement und Pragmatismus, nicht mit dem Missmut und der populistischen Voreingenommenheit, wie sie inzwischen auch Lokalredaktionen wichtiger Tageszeitungen verbreiten. Sie sind skeptisch, was die Zukunft der Raumplanung in der Schweiz anbelangt. In einem letztjährigen Beitrag für die NZZ haben Sie sich fast satirisch geäussert. In der Schweiz funktioniert Planung von oben nach unten nicht, aber von unten nach oben auch nicht, weil wir zu gespalten sind. Es herrscht eine grosse Uneinigkeit darüber, in welche Richtung sich das Land entwickeln soll. Ausnahmen sind die grossen globalen Firmen, die ihre Gelände städtebaulich verdichten und in viel interessanterer Art entwickeln, als dies der Staat oder Einzelinvestoren hierzulande zu leisten imstande sind. Ein Vorwurf, der häufig an Ihre Zunft gerichtet wird, lautet: Namhafte Architekten wie Sie bauen nur noch haupt weiterzuführen. Es gab die ideale Stadt der Renaissance, die Gründungsstädte des Mittelalters, revolutionäre Stadt utopien des 18. und 19. Jahrhunderts in Frankreich und Russland, Le Corbusiers «Ville radieuse». Wenn man heute genau hinschaut, muss man feststellen, dass diese Theorien und Utopien die tatsächliche Entwicklung von Städten nicht zu erfassen vermögen; die Realität hat immer alles widerlegt. Alle Städte des Römischen Reiches waren zum Beispiel gleich angelegt, selbst die meisten Häuser waren identisch. Und doch haben sich alle im Verlauf der Geschichte ganz anders, eben «spezifisch» entwickelt. Welche Faktoren führen denn zu dem, was Sie als die «Spezifität» der Städte bezeichnen? Alle Städte werden im Verlauf ihrer Geschichte und Entwicklung von drei grossen Kräften beeinflusst: von ihrer Lage, also dem Territorium, auf dem sie sich entwickeln; von den Machtstrukturen, in die sie eingebunden sind – diese sind zum Beispiel politischer oder ökonomischer Natur; und schliesslich von dem, was meine Kollegen und ich als Differenz bezeichnen. Darunter verstehen wir die Fähigkeit einer Stadt, sich zum Beispiel ökonomisch zu diversifizieren oder kulturelle Vielfalt zu erzeugen. Das Zusammenspiel dieser drei Kräfte zwingt jede Stadt in spezifische Muster, welche diese Unterschiedlichkeit hervorbringen. Es fällt auf, dass Sie skeptischer geworden sind gegenüber Grosstheorien. Sie plädieren für das reine Schauen, für einen unverstellten Blick sozusagen. Uns interessieren das Denken und Schauen mehr als Theorien, weil dies unsere alltägliche Praxis unterstützt. Wir sind jedoch nicht theoriefeindlich; wir haben ja auch eine lange Geschichte mit dem Basler Soziologen Lucius Burckhardt, und Aldo Rossi war einer unserer Lehrer an der ETH – auch er ein Mann mit grossem Theoriegepäck. Wir vergleichen Architektur gern mit einer Landschaft, einer künstlichen Topografie, die für den Menschen gemacht wird, damit er sich wohlfühlt. Dazu gehörten im Verlauf unserer Karriere zunehmend grössere, öffentliche und teilweise sehr sichtbare Projekte in völlig unterschiedlichen Gesellschaften auf dieser Welt. Dass viele dieser Projekte so gut funktionieren, das heisst von den Menschen einer Stadt angenommen und «selbstverständlich» wurden, ist das für uns entscheidende Thema. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Projekten konnte nicht aus einer «Theorie» heraus entstehen, sondern eher aus einer «Strategie» heraus: durch genaues, unvoreingenommenes Beobachten, naives Hinschauen sozusagen. Ein Architekt muss einen Ort verstehen, bevor er ihn verändert. Das ist eine grosse Herausforderung, denn die Veränderung soll ja dauerhaft sein. Herzog & de Meuron haben in den letzten Jahren sehr sichtbare Objekte an prominenter Lage gebaut. Es war uns immer wichtig, nicht nur das Raumprogramm des Bauherren zu erfüllen, sondern auch Öffentlichkeit zu schaffen; Orte, wo der Mensch lokale Identität spürt, eine Atmosphäre erlebt und dennoch mit der Welt verbunden bleibt. Gebäude müssen ins soziale Leben einer Stadt eingebettet sein – nur so überleben sie, nur so schafft ein Architekt auch Dauerhaftes. Die Tate Modern ist ein Beispiel für einen solchen Bau, der an einem eigentlichen Nichtort, der Southbank in London, ungeheuer viel Öffentlichkeit geschaffen hat. Ja, die Tate Modern veranschaulicht gut, was ich mit dieser dauerhaften Veränderung meine. Mit diesem Bau entstand ein völlig neuer, öffentlicher Ort. Es ist nicht nur ein Museum, vielmehr bietet die Turbinenhalle als öffentliche Zone einen Treffpunkt für ganz London und für sagenhafte fünf Millionen Besucher jährlich. Viele gehen dorthin, bloss um in diesem Raum zu stehen, der alle zwölf Monate mit einer neuen Grossinstallation eines Künstlers bespielt wird. Was empfinden Sie denn noch, wenn Sie in der Tate sind? Wir sind entspannt, wenn wir sehen, dass dieser Raum so gut bespielt wird und so populär ist. Aber wir sehen es nicht als «unser» Gebäude; wir haben keine so persönliche Beziehung zu Gebäuden, sie sind zwar von uns, aber nicht für uns gemacht und müssen ohne uns funktionieren. Mal ganz grundlegend gefragt: Was ist das denn eigentlich – Architektur? Es ist der Versuch, das Leben für den Menschen angenehmer zu machen. Ohne Gebäude müssten wir draussen leben, hätten keinen Schutz vor Wind und Wetter und Feinden. Vor etwa 12 000 Jahren begannen Menschen sesshaft zu werden – seit damals bemüht sich der Mensch, «Architektur» als eine dauerhafte Einrichtung zu schaffen, die ihm dient und vor allem auch gefällt! Wir sprachen von Städten, Metropolen und Agglomerationen. Lassen Sie uns den Massstab verkleinern. Was ist das wichtigste Element der Architektur? Schon nomadische Völker entwickelten Architekturen, etwa ein Grab, eine Felsmalerei oder einen Zaun. Der Zaun – respektive seine festere Form, die Mauer – ist vielleicht das grundlegendste Element der Architektur. Er unterscheidet eine Seite von der anderen, definiert Innen und Aussen, trennt Dein und Mein. Ohne Mauer gäbe es keine menschliche Zivilisation – nur das Paradies kennt keine Mauer, weil alles eins war und weil es keine Unterscheidung gab und diese auch nicht brauchte. Menschen haben immer gebaut, auch ohne professionelle Architekten. Kann es sein, dass die Rolle der Architektur überschätzt wird? Im oben erwähnten Buch des ETH Studios, «The Inevitable Specificity of Cities», sind ja viele Städte nicht nur der Dritten Welt beschrieben, in denen ganze Quartiere aus «informeller» Planung entstehen, viele davon ohne Architekten und gar ohne professionelle Baufirmen. Zahlreiche dieser Quartiere sind nicht einfach Slums und Wohnorte benachteiligter Menschen, sondern viel komplexere soziale, ökonomische und ästhetische Lebenswelten. In einem so stark regulierten Land wie der Schweiz sind solche Orte unvorstellbar – und doch wäre der Versuch, in unseren Agglomerationen versuchsweise Orte für Verdichtung mittels Selbstregulierung einzurichten, interessanter als das «partizipative Bauen» der Siebzigerjahre, welches bloss biederes Design hervorbrachte. Die informellen Quartiere von Nairobi, Niltal, Casablanca, Mexiko-Stadt oder Belgrad sind ungleich lebendiger als viele von professionellen Architekten gebaute Orte. 21 Wie rasch sehen Sie eigentlich, ob ein beliebiges Gebäude Qualität hat? Man sieht einem Gebäude an, ob es mit «Ambitionen» daherkommt oder nicht. Gebäude können wie Menschen prätentiös wirken. Deswegen ist der Selbstbau des Laien ja so interessant, weil eine Absichtslosigkeit, ja eine Art Unschuld zum Ausdruck kommt. Es gibt zwar auch hier diese erkennbaren ästhetischen Vorlieben, die wir häufig als Kitsch abtun, wenn sie in den Schweizer Vorgärten sichtbar werden. Informelle Quartiere sind aber anders. Sie sind gebaute Notwendigkeit. Solche Häuser haben eigentlich immer eine Qualität. Hierzulande ist in jedem Haus immer extrem viel Absicht oder Ambition erkennbar; man sieht sofort, wenn Architekten einen sogenannten guten Geschmack haben. Geschmack ist aber eigentlich das Schlimmste, besonders wenn er sich im ganzen Land ausbreitet – wie nun schon seit Jahren diese riesigen rechteckigen Fensterscheiben, die uns wie blinde Augen aus rechteckigen Kisten anstarren. Sie sagten, es gebe keinen HdM-Geschmack. Wenn man sich alle Ihre Arbeiten anschaut, kann man sogar sagen, es gibt keinen HdM-Stil – keine Handschrift, die Ihre Arbeiten sofort erkennbar macht. Wir haben nie etwas angestrebt, das man als einen eigenen, typischen Stil bezeichnen würde. Pierre de Meuron und ich haben stets – eigentlich seit unseren gemeinsamen Anfängen als Primarschüler – das Experimentelle gesucht, weil es unserem Charakter und unserer Neugierde entspricht. Auf erkennbaren Stil zu verzichten, war also zunächst keine bewusste Entscheidung. Erst nach einigen Jahren und unseren ersten Gebäuden haben wir das Potenzial und die Neuartigkeit dieser Haltung verstanden. Wir erkannten die täglichen Schwierigkeiten, so völlig ohne selbst auferlegte Regeln immer neue Projekte anzugehen, wir sahen aber vor allem den enormen Freiraum, in den wir vorstossen konnten. Wir wollen uns bis heute nicht selbst dazu versklaven, ständig ikonische Gebäude bauen zu müssen, die mehr an uns erinnern als an den spezifischen, neuen Ort, der jeweils durch einen Bau geschaffen wird. So gesehen, ist es nicht klug, für einen Stil oder einen Geschmack zu stehen. Wir sagen das immer wieder, nicht aus Bescheidenheit oder Selbstkasteiung, sondern weil wir unabhängig bleiben wollen und neugierig sind auf Neues. Es gibt keinen HdM-Stil, aber doch einen Weg, den Sie und Pierre de Meuron in Ihren Arbeiten gegangen sind. Ihre frühen Gebäude, wie etwa der Minimalismus des DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D L I N K S: M A RGH E R I TA S PI LU T T I N I; R E C H T S: N AC Á S A & PA RT N E R S «Pierre de Meuron und ich haben stets das Experimentelle gesucht.» Steinhaus bei Tavole, Ligurien (links), Miu Miu Gebäude in Tokio (diese Seite). Museums für die Sammlung Goetz, kann man verstehen als eine Antwort auf den Postmodernismus der Achtzigerjahre, mit diesen Gebäuden, die aussahen wie grosse Kaffeetassen oder Fassaden hatten, welche die Akropolis zitierten. Unsere Nähe zur Kunst und zu Künstlerfreunden hat unsere architektonische Spur in den Anfängen sehr begleitet: der amerikanische Minimalismus der Sechzigerjahre, Pop, aber auch die deutsche Malerei und natürlich Beuys. Am stärksten sind wir wahrscheinlich beeinflusst von der Konzeptkunst, weniger vertreten durch einzelne Künstler als von der strategischen Macht der Konzepte. Jedes Projekt wird mittels einer eigenen Strategie konzeptuell aufgestellt. Dieses Konzept muss so gut sein, dass es am Schluss im fertigen Bau nicht mehr erkennbar bleibt; der Bau soll dann ganz selbstverständlich an seinem Ort stehen, basta. Den Architekten und seine Ideen werden Historiker eh einst ausgraben, wenn es dafür einen Bedarf gibt. Später kam dann das Ornament dazu, Sie versöhnten sozusagen den Minimalismus mit dem Ornament. Diese Synthese lässt viele Ihrer Gebäude irgendwie flirrend und sehr organisch leicht erscheinen, Ihre Gebäude sind immer auch Objekte, die man so noch nie gesehen hat. Sie scheinen wie aus einer anderen Zeit zu sein, als ob sie gigantische Figuren wären eines Brettspiels extraterrestrischer Künstler. Was man als Ornament bezeichnet, wird im gemeinen Sprachgebrauch oft falsch verstanden. Es geht nicht um Dekoration, also nicht darum, eine Gebäudehülle irgendwie zusätzlich zu verzieren. Das Ornament selbst konstituiert vielmehr den Bau, schafft dessen Form. In unseren besten Bauten sind idealerweise Konstruktion, Raum und Ornament nicht mehr unterscheidbar, sie fallen zusammen. Wenn das mal erreicht ist, erklärt sich alles wie von selbst, Ornament, Raum und Konstruktion müssen nicht mehr begründet werden; es herrscht eine grosse Ruhe. Meiner Meinung nach sieht man das exemplarisch am Prada-Aoyama-Gebäude in Tokio aus dem Jahre 2003. Ein komplexes, aber gleichzeitig rational klares Gebäude, es ist wie ein irreales Lebewesen, das gleichzeitig hart ist wie ein Diamant, aber dann doch wieder weich. Es begann schon früher, mit dem Steinhaus in Ligurien, der Dominus Winery in Napa Valley, sehr deutlich ist dieses Prinzip auch beim Parkhaus 1111 Lincoln Road in Miami oder beim Olympic Stadium in Peking. Die Skala Ihrer Arbeiten ist gewaltig. Ein grosses, komplexes Museumsprojekt entsteht in Hongkong, letztes Jahr bauten Sie in Riehen das Naturbad, ein vergleichsweise winziges Projekt mit einer fast Zen-artigen Simplizität. Wie ist das möglich? Ich habe versucht, das mit unserer Tabulosigkeit zu erklären, die eben von festgelegten ästhetischen und theoretischen Maximen absieht. Wir gehen jedes Projekt völlig frei an, so, als ob es das allererste wäre. Man sollte auch nicht immer gleich eine Meinung haben. F I N N C A NON IC A ist Chefredaktor des «Magazins»; finn.canonica@dasmagazin.ch Der Fotograf T I L L JA N Z lebt in Berlin; www.tilljanz.com 22 23 DA S M AGA Z I N 17/201 5 — F E R DI N A N D O S C I A N N A / M AGN U M PHO T O S; C ON T R A S T O/ DU K A S 72 STUNDEN MILANO In Mailand wird in einer Woche die Weltausstellung eröffnet. Grund genug für eine Reise, mit frischem Blick und ohne die üblichen Vorbehalte gegenüber der Metropole. Der Italienkenner Dieter Bachmann unternimmt einen neuen Annäherungsversuch. Der eigentümliche Charme der Modestadt Mailand: Stazione Garibaldi. 25 DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DE R I M U Z S: A L E S S A N DRO GR A S S A N I; FA BIO P OL O S A ; PAOL O VA L EN T I N I; R IC H A R D K A LVA R /M AGN U M PHO T O S – A PROJ E C T S U PP ORT E D BY I N T E S A S A N PAOL O Wer Mailand besucht, landet irgendwann auf der Piazza Duomo (oben links). Doch für viele ist der Bahnhof Milano Centrale und vor allem die Stimme des Sprechers, der die Ankunft und Abfahrt der Züge ankündigt, das Erste, was sie von Mailand sehen bzw. hören (oben rechts). Porta Nuova (unten links): Europas grösste Baustelle. Unten rechts: Ältere Männer, die auf jung machen, an der Via Montenapoleone. 26 DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DE R : C A L O GE RO RU S S O / LU Z; F E R DI N A N D O S C I A N N A / M AGN U M PHO T O S Hinein! – Nach Como noch eine Weile schütteres Grün. Robinien und Erlen an Bachrändern, Wiesen und Flusstälchen. An den Bahngeleisen liegen Plastik und Papier, Flaschen, leere Büchsen, Schie nenteile, Kabel, Zementplatten. Carimate, Seregno, trostlose Bahnhöfe; und irgendwann, nach einigem Bremsen und Wiederanrucken, Lissone. Fabriken, Werkhallen, leere Fensterhöhlen, zertrümmertes Glas. Monza. Dann endlich Milano Centrale. 7,4 Millionen Einwohner im Ballungsraum, Wohnen, Arbeiten und der wirre Nudelsalat von Strassen, in dem die Italiener Weltmeister sind, 1,3 Millionen auf dem eigentlichen Stadtgebiet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt unter anderem Luchino Viscontis «Rocco e i suoi fratelli» von 1960, das Familiendrama auf der Folie der Einwanderung aus dem Süden: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren kamen Millionen. Ich glaube mich an die Zeit zu erinnern, als man Mailand noch durchqueren musste; zu erinnern an eine Ferienfahrt, frühe Fünfzigerjahre, die, täusche ich mich nicht, am Domplatz vorbeiführte und an einem Polizisten auf einer Kanzel, mit weissen Handschuhen; Hitze, Chaos, Staub. Oder erinnere ich mich in Wirklichkeit nur an das Foto von Werner Bischof von 1946, als diese Verkehrskanzel vor dem Dom eine Art Nabel der Welt war – da gings nach Brescia, Verona, dort nach Monza, Lecco und hier nach Piacenza, Bologna? Spürt man an seiner aufgehobenen Hand schon die Verzweiflung, die Niederlage im Kampf gegen das Chaos? Oder auf jeden Fall das Chaos, das man Mailand nachsagt? Nun kam ich im Auftrag. Nahm mir vor, tapfer zu sein. War auf jeden Fall neugierig. Das Wetter hatte, nach kalten Regentagen, ein wenig aufgehellt. Countdown – Die Aufregung überall war nicht überraschend. Die Pflästerer, die Baumaschinen, die Gärtner, der Lärm, der Staub in der Luft. Die verzwei- felten Vorbereitungen für den grossen Tag. Absperrungen, Umleitungen. Die Fussgänger wie in Raubtiergängen um die aufgebrochenen Strassenbeläge herumgeschleust. Alte grosse Bäume schlugen grade zögernd aus mit zartem Grün, sie waren am Fuss frisch geharkt. Auffällig waren die vielen neu gepflanzten, kahl noch und mit Holzpfählen geschützt. Überall riesige Werbeflächen, auch am Dom, grade da. Samsung behauptete mit buntem Geflimmer, sich um das kulturelle Erbe Italiens zu kümmern. Derweil wurde die Plattform vor dem Domeingang grossflächig abgesperrt und die Bodenplatten ersetzt. Warum erst jetzt, die letzte Minute vor dem l. Mai? Auf dem Corso Buenos Aires röhrten ein roter Ferrari und ein schwarzer Porsche um die Wette, beide mit Tessiner Nummer. Sie wurden überholt von schweren Motorrädern, die ihren Lärm übertrafen. Die Gehsteige schwarz von Menschen, ein so noch nie gesehenes Völkergemisch. Der Ausländeranteil sei 20 Prozent. Aber es sah nach einer Mehrheit aus. Von der Strassenbahn aus konnte man den Betrieb wie aus einer Loge sehen. Die Trams fuhren langsam und blieben lange stehen; der öffentliche Verkehr hat keinen Vortritt. Man hat Musse, die Fassaden, Läden und Kneipen zu studieren. Ein Büstenhaltergeschäft hiess Una e Una. In einem schönen lombardischen Innenhof mit Loggien ums ganze Quadrat verkündete eine Sonnenuhr, sie zähle nur die heiteren Stunden: Horam non numero nisi serenam. Sie lag im Schatten. Zwischen den römischen Säulen vor San Lorenzo sassen junge Zeittotschläger, «nullafacienti» oder aber «fannulloni»?, liessen den Ghettoblaster laufen, tanzten und drehten Joints. Dann fuhr ein blau-weisser Alfa aufs Trottoir, die Carabinieri filzten einen der Jungs. Die anderen sassen ungerührt, das fiel auf. Ich setzte mich dazu, eine schüchterne Sonne schien. Es fiepte in meiner Rocktasche. Ein Schweizer Milano-Habitué, den ich gefragt hatte, was er an Mailand anziehend finde, sandte eine SMS: «urban, im besten sinn. die stadt lebt, weil die strasse lebt. Die bars, die restaurants und blumen kioske. fürchterlichstes strassenbelagsgemisch. herrliches schaufenster-schauvergnügen.» Eugenio Montale hat geschrieben: «Mailand ist eine enorme Ansammlung von Eremiten.» Gilt das nicht auch für Paris? Ich spürte eine grössere Unruhe, bebend vor Gegenwärtigkeit. Zum Beispiel Porta Nuova, Europas grösste Baustelle. Vor der Stazione Garibaldi wurden in den letzten Jahren dreissig neue grosse Gebäude hochgezogen. Piazza Gae Aulenti heisst der Ort, nach der berühmten Architektin und Designerin. Dort der Torre Unicredit, mit 231 Metern das höchste Gebäude Italiens. Der Verlag Feltrinelli baut an der Porta Volta ein neues Verlagszentrum, mit wem wohl? Die Architekten heissen Herzog & de Meuron. Dem Autor eines brandneuen Stadtführers, Henning Klüver, «Gebrauchsanweisung für Mailand», hat Inge Feltrinelli, die tolle Inge, gestanden, ihr fehlten in Mailand vor allem Grünanlagen und Bäume. Eigentlich sei Mailand hässlich. «Aber ich liebe es.» Am 7. April veröffentlicht der «Corriere della Sera» eine 342 Seiten starke Design- und Möbel-Sonderbeilage, gratis, darin viel Werbung, aber auch eine Menge über ein ganz neues Mailand; Stichwort Rinascita, Wiedergeburt. Anschauungsunterricht – So wie es in Pisa eine Dummheit wäre, den Schiefen Turm zu meiden, nur weil alle hingehen, wäre es in Mailand ein Fehler, nicht eine Weile in der Galleria Vittorio Emanuele II zu verbringen. Der Notierer installiert sich in der zweiten Reihe der Tischchen, die unter In einem schönen lombardischen Innenhof verkündete eine Sonnenuhr, sie zähle nur die heiteren Stunden: Horam non numero nisi serenam. Sie lag im Schatten. Am 1. Mai beginnt die Expo Milano. Der belgische Pavillon war Mitte März noch im Rohbau. Die Pasticceria Cova (Bild unten) gibt es schon seit 1817. 28 29 30 sich und in die vier Passagenfluchten, die von hier abgehen, stehen klein in der grossen Halle, schwache Schatten werfend wie auf einem Stich von Piranesi. Der grösste Misanthrop muss sie nun lieben, diese Menschheit; «es gibt keine andere», hat ein anderer Misanthrop gesagt. Am Ende steht er auf und gliedert sich wieder ein in den nicht abreissenden Menschenstrom, die Dauerprozession der Sterblichen. 26 Euro für zwei Bier und eine Menge Anschauungsunterricht. Teatro Elfo – Es war Sonntagnachmittag, gegen halb vier. Ich musste mich beeilen, um rechtzeitig am Corso Buenos Aires zu sein. Ich steckte das Notizbuch in die Jackentasche und setzte das Theatergesicht auf. Nahm ein Stück weit die famose Via Montenapoleone, Mailands glitzernde Modemeile, und steuerte über die Via Manzoni und Piazza Cavour auf dem Weg zur Porta Venezia die Giardini Indro Montanelli an, einen Park mit verschlungenen Spazierwegen. An der Kasse sollte eine Karte für mich hinterlegt worden sein. Das E-Mail, das mich anmeldete, war nicht angekommen. Und nun bemerkte ich, dass ich auch alle Ausweise und das Geld im Hotel hatte liegen lassen. Ich versuchte es mit Dringlichkeitsfloskeln, bot meine Uhr als Pfand, was freundlich zurückgewiesen wurde. Zwei Platzanweiser mit Walkie-Talkies warteten auf den spät Kommenden. Ich war der Letzte. Trat von einem Fuss auf den anderen. Das junge Mädchen hinter der Scheibe schaute mich an, druckte eine Karte aus, sah mich noch einmal an, schob die Karte unter Glas durch und sagte nur: Ecco. Ich bedankte mich und sagte, dass das in der Schweiz nicht möglich gewesen wäre. Wir lächelten gemeinsam. Als der Vorhang aufging, fand ich mich auf gleicher Höhe mit der kreisrunden Bühne, deren hintere Hälfte von einem roten Vorhang begrenzt wurde. Ein grosser Spiegel und ein Schminktisch, Sessel links und rechts davon waren die üppige Garderobe eines Theaters, nein, einer Oper. Thomas Bernhard, «L’ignorante e il folle», «Der Ignorant und der Wahnsinnige» – in der Regie von Ferdinando Bruni und Francesco Frongia. Hinreissend. Das Teatro Elfo entstand in einer Zeit, als Leute wie Ariane Mnouchkine (Théâtre du Soleil), Peter Stein (Schaubühne) oder Peter Brook (Bouffes du Nord) das Theater als Kollektiv neu erfanden. Als in Mailand das Piccolo Teatro mit Giorgio Strehler und Paolo Grassi noch der Magnet war, der so viele Theaterliebhaber in die Stadt zog. Das Elfo blieb eigen-artig und unabhängig. 2010 eröffnete es in dem umgebauten, der Stadt gehörenden ehemaligen Puccini sein eigenes Theater mit drei autonomen Spielräumen: der Sala Shakespeare (500 Plätze), der Sala Fassbinder (300) und der Sala Pina Bausch (100). Man darf die Namen als Hommage sehen, doch auch als Programm. Im Süden – Ich ging in der Gegend der Navigli spazieren, jener Kanäle – oder der traurigen Reste, die von ihnen geblieben sind –, die einst die Wasser des Ticino, der Adda, von Olona und Lambro bis in den Stadtkern hinein schiffbar gemacht hatten. Einladend sahen die Cafés und Osterien aus, morgens um neun, mit Platz zwischen den Häusern und dem Kanal; da sassen auch schon Zeitung lesende Leute entspannt in Korbstühlen. Innen quadratische Tischchen und Stühle, eng wie in Paris; auf der handgeschriebenen Tafel vor der Tür signalisierten die Wirte eine moderne Marktküche. Eine junge Frau, Kellermeisterschürze und Jeans, wässerte mit dem Schlauch das Pflaster vor ihrem Lokal. Das alles sah sehr urban aus. Ich ging vorbei. Ich dachte: Das Tückische an Mailand ist vermutlich, dass man mit ihm vertraut sein muss, um mit ihm vertraut sein zu können. Ich fuhr von der Darsena, der verwaisten Schifflände, mit dem Tram zur Porta Romana, stieg in den 77er-Bus und fuhr hinaus aus der Stadt, bis zur Endstation: Abbazia di Chiaravalle. Im Süden war Mailand ganz anders als im Norden. Neuere Wohngebiete und ein grosser Markt, und nach den letzten Häusern kam gleich das Land, Felder, pappelgesäumte Flüsschen oder Kanäle. Darüber ein grosser Himmel – Po-Ebene. Wenige Kilometer östlich hätte man, starke Nerven vorausgesetzt, Metanópoli besuchen können, la città del meta- DA S M AGA Z I N 17/201 5 der roten Markise ein Draussen im Drinnen simulieren, nämlich Freiluft unter dem gewölbten Glasdach. Hat also noch eine Reihe von Tischen vor sich, mit den entsprechenden Gästen, zum Beispiel einem Gentiluomo, der eine gescheitelte, unfassbar gepflegte, über den Ohren wie bei Clooney hochgeschorene Superfrisur ausstellt. Davor fliesst der Strom der sich schiebenden, drängenden Menschenmenge – Theatrum Mundi. Alle drei, vier Tischchen steht ein sauber gekleideter Kellner, weisse Kellnerjacke und schwarze Hosen, Goldknöpfe, schnalzt und lockt gelegentlich ins Menschengewühl, das vor ihm vorbeizieht. Accomodatevi! Maulaffen feilhalten. Es wird frisch gezapftes Nastro Azzurro gereicht, nebst Chips und den viel zu grossen, den geschmacklosesten Oliven. Am Nebentisch eine ranke Lateinamerikanerin, Ohrgehänge, ein in den Nacken geschobener, riesiger weisser Borsalino, für die der Kellner nun tausend unterwürfige Anbiederungen, Aufmerksamkeiten, Knickse und Balzschritte hat. Ja, bis zwei Galane sich zu der Dame gruppieren. Balzender Kellner zieht sich auf Zehenspitzen zurück. Die Kinder im Menschenstrom sind die Einzigen, die zum Glasdach hinaufsehen. Die alten Paare, vierbeinig im Passgang, beladen mit Hekatomben vergangener, zu Gewohnheit gewordener Tage, schauen zu Boden. Junge Verliebte, denen man das Hotelzimmer ansieht, aus dem sie kommen und auf das sie sich schon wieder freuen. Manche von denen, die vorbeiziehen, lächeln, das bemerkt er plötzlich, der glotzende Müssiggänger, und hoch über allem, unter der zentralen Kuppel, von der inzwischen flach stehenden, draussen untergehenden Sonne beleuchtet, blinkt in einem ihrer vier Zwickel eines der Mosaike, die über den tragenden Eckpilastern die Welt in vier Kapitel teilen, Amerika, Europa, Afrika und das nun aufleuchtende: Asien. Australien fehlt, als überzählig aus der Wahl gefallen. Unter der Kuppel, die auf die Grosse Ausstellung hin begehbar gemacht wird, auf dem herrlich ornamentierten Boden vom Ende des 19. Jahrhunderts stehen die Passanten, schauen um sich, unter Ich dachte: Das Tückische an Mailand ist vermutlich, dass man mit ihm vertraut sein muss, um mit ihm vertraut sein zu können. Letzter Reisläufer – «Nach Chinatown?», fragte der Taxifahrer, als ich den Strassennamen nannte. «Ja, nur noch Chinesen wohnen dort, wo Sie hinwollen», sagte der Mann. Und noch etwas Besonderes: «Wissen Sie, was? Wenn die Chinesen sterben, werden sie nicht bestattet – sie verschwinden einfach.» Rätsel fremder Völker. Wir bogen von einer Piazza in die Via Bramante da Urbino ein, und tatsächlich waren nun 32 plötzlich alle Aufschriften in chinesischen Zeichen. Kommst du zu den Chinesen?, das hatte auch Humm schon am Telefon gefragt. Sein Atelier im obersten Stock eines ehemaligen Fabrikationsgebäudes steht geschützt im Innenhof einer Blockrandbebauung. Seit den Siebzigerjahren in Mailand, wohnt und arbeitet Felix Humm hier, ein Schweizer Grafiker in Mailand – vielleicht der Letzte einer illustren Reihe von Schweizer Reisläufern der Grafik und des Designs. Der Schweizer, die in den Jahren des wirtschaftlichen Booms, den Sechzigerjahren, nach Mailand kamen, prägend wurden bei Rinascente, Pirelli, Olivetti, den Firmen im Aufschwung. Vorbei die Zeiten, als Max Huber und Lora Lamm in Mailand der Massstab für gute Grafik und Typografie waren. Mit anderen wie Serge Libiszewski als Fotograf, Hans Suter als Werbeunternehmer, und als es noch Kunden gab, die auf die neue rationale, hoch ästhetische Gestaltung setzen wollten. Humm war damals unter den Jüngsten, bald mit grossen Kunden – Birra Wührer, San Pellegrino, Stefanel, Italtel, Volvo Italia, Zenith, Fiat, Grafiche Boffi. «Von der Werbung hatte ich aber dann einmal genug», sagt er, der sich als Typograf versteht, als Liebhaber der Lettern. Humm hat dann für Chasper Pult die Identity des neuen Centro Culturale Svizzero gemacht, des CCS, und jahrelang dessen Auftritte und Aussendungen gestaltet. Er hat Ausstellungen gestaltet, CD-Cover entworfen, Bücher designt – bis hin zu Reto Hännys kürzlich erschienenem «Blooms Schatten». Er hat eine Menge Preise kassiert, und er war als Nachfolger von Bruno Monguzzi – «das ist der grösste Grafiker, den die Schweiz hat» – Lehrer an der Kunsthochschule in Lugano. Im Atelier unter dem Dach stehen zwei MacBooks unter einer riesigen Palme. Auf seinen Tischen liegen, säuberlich ausgerichtet, Zeugnisse einer jahr- NISSAN PULSAR zehntelangen Arbeit. Es sieht ein bisschen aus wie eine Hinterlassenschaft. In Mailand bleiben. Mit gut zwanzig gekommen, an die siebzig geworden, da kommt man nicht mehr so leicht weg. Wir gehen essen, zu einem Sizilianer unten an der Strasse, also mitten in China. Der Wirt bringt als Antipasto einen frisch angerichteten Salat aus Orangen, Zwiebelringen und Heringsstückchen. Nordsee und Mittelmeer. Mitten in China sitzen wir in Mailand an der Heringsgrenze, irgendwo zwischen Stralsund und Palermo. Urbanes Urgestein – Und immer wieder das sanfte Zuklappen der Schwingtüren in den alten Kirchen. Ich war von einem enttäuschenden Augenschein im eben erst eröffneten Mudec, Museo delle Culture, einer Art Völkerkundemuseum mit unklarem Auftrag, ein Neubau, von dem sich der Architekt, David Chipperfield, wegen eines kriminell verpfuschten Fussbodens distanzierte, durch die lange Via Tortona zurückgegangen, zentrumwärts. Über die Passerelle bei der geradezu afrikanisch heruntergekommenen Stazione Porta Genova an die nahe Porta Ticinese und dann nur noch ein paar Schritte zu der hübschen Piazza Sant’ Eustorgio. Stiess die Schwingtür auf, ging aus dem 21. ins 4. Jahrhundert zurück und hatte eine der ehrwürdigsten Mailänder Kirchen vor mir. Im 4. Jahrhundert sollen dort die Reliquien der Heiligen Drei Könige aufbewahrt worden sein, bevor Barbarossa sie entführte. Mich fasziniert die hinter der Basilika gelegene Cappella Portinari aus dem 15. Jahrhundert, Einfluss florentinischer Architektur des 14. Jahrhunderts – und in ihr der Sarkophag des aus einer Katharer-Familie stammenden San Pietro Martire. Der gewaltige Marmorsarg, in etwa zwei Metern Höhe von acht Figuren getragen, welche acht Tugenden verkörpern. An der einen Ecke verblüffte mich die Vorsicht (Prudenza) mit ihren zwei LEISTUNGSSTARK. BEI ANTRIEB, RAUM UND PREIS. NISSAN PULSAR JETZT NEU MIT 1.6 l DIG-T, 190 PS (140 KW) 25 190.– 1 AB FR. JETZT INKL. EUROBONUS DIE KOMPAKTEN WENDIGEN VON NISSAN. NISSAN MICRA AB FR. 10 950 .– 2 NISSAN NOTE AB FR. 13 190 .– 3 NISSAN PULSAR AB FR. 17 990 .–4 DA S M AGA Z I N 17/201 5 no. Die staatliche Erdölgesellschaft ENI hat dort ab 1952 für Verwaltung, Infrastrukturen und Mitarbeiter eine Kunststadt mit heute 6000 Einwohnern aus dem Boden gestampft – mit Bürotürmen, Wohnblocks, einer technischen Hochschule nebst Sportanlagen und der in Mailand offensichtlich unvermeidlichen Skulptur von Giò Pomodoro. Nein. Es ging darum, zwischendurch einmal frischere Luft zu schöpfen. Chiaravalle, das Zisterzienserkloster, roter Backstein, 12. Jahrhundert, steht mit seinen Seitenschiffen breit wie eine brütende Henne im grünen Feld. Wenige Kilometer vom Moloch, in friedlicher Ruhe, mit einem grossartigen Chorgestühl, einem herrlichen Kreuzgang. Daneben wartete das Laghett. Einfache Trattoria, ländlich, für den Sommer eine Pergola mit Glyzinien. Im Innern die geräumige Gaststube. Weisse Vorhänge, ein gesticktes, geschwungenes L in der Mitte. Das Essen unkompliziert, Pappardelle al sugo di brasato, Lenticchie e cotechino. An einer langen Tafel ein Dutzend älterer Herren, in Altmännerpullovern, Prälaten in Zivil. Nur am Stehbündchen am Hals sind sie als solche erkennbar. Knuspriger Mandelkuchen und ein Gläschen Vecchia Romagna. Die Schrecken der Stadt sind verblasst, und es eilt keineswegs mit der Rückfahrt. Draussen in der Sonne wartet der Fahrplan, hakt seine Zwölfminutenintervalle ab, sagt unhörbar: Komm – oder bleib noch einen Takt. Abgebildetes Modell: NISSAN PULSAR ACENTA, 1.6 DIG-T, 190 PS (140 kW), Katalogpreis Fr. 30 390.–, 1NISSAN PULSAR ACENTA, 1.6 l DIG-T, 190 PS (140 kW), Gesamtverbrauch: 5.7 l/100 km, CO2-Emissionen: 134 g/km, Energieeffizienz-Kategorie: D. Katalogpreis Fr. 30 390.–, abzgl. 17% Euro-Bonus (Fr. 5200.–), Nettopreis Fr. 25 190.–. Abgebildetes Modell: NISSAN MICRA TEKNA, 1.2 l 80 PS (59 kW), Katalogpreis Fr. 19 315.–. 2NISSAN MICRA VISIA, 1.2 l 80 PS (59 kW), Gesamtverbrauch: 5.0 l/100 km, CO2-Emissionen: 115 g/km, Energieeffizienz-Kategorie: D. Katalogpreis Fr. 11 790.–, abzgl. 7% Euro-Bonus (Fr. 840.–), Nettopreis Fr. 10 950.–. Abgebildetes Modell: NISSAN NOTE TEKNA, 1.2 l DIG-S, 98 PS (72 kW), Katalogpreis Fr. 25 550.–. 3NISSAN NOTE VISIA, 1.2 l 80 PS (59 kW), Gesamtverbrauch: 4.7 l/100 km, CO2-Emissionen: 109 g/km, Energieeffizienz-Kategorie: C. Katalogpreis Fr. 16 840.–, abzgl. 21.5% Euro-Bonus (Fr. 3650.–), Nettopreis Fr. 13 190.–. 4NISSAN PULSAR VISIA, 1.2 l DIGT, 115 PS (85 kW), Gesamtverbrauch: 5.0 l/100 km, CO2-Emissionen: 117 g/km, Energieeffizienz-Kategorie: C. Katalogpreis Fr. 20 990.–, abzgl. 14% Euro-Bonus (Fr. 3000.–), Nettopreis Fr. 17 990.–. CO2-Emissionen: Ø aller Neuwagen 144 g/km. *Es gelten die Leasingkonditionen der RCI Finance SA, 8902 Urdorf: Leasing-Laufzeit 12–60 Monate, Restschuldversicherung inklusive. Obligatorische Vollkaskoversicherung für Leasingvertrag nicht inbegriffen, effektiver Jahreszins 3.97%. Eine Kreditvergabe ist verboten, falls sie zur Überschuldung der Kunden führt. Leasing-Beispiel: NISSAN MICRA VISIA, 1.2 l 80 PS (59 kW), Katalogpreis Fr. 11 790.–, abzgl. 7% Euro-Bonus (Fr. 840.–), Nettopreis Fr. 10 950.–, Anzahlung Fr. 2737.–, 48 mtl. Leasingraten Fr. 99.–, 3.97% eff. Jahreszins. Angebot ist gültig für Bestellungen von Privatkunden bei allen an der Aktion teilnehmenden NISSAN Partnern vom 01.04.2015 bis 30.04.2015 oder bis auf Widerruf. NISSAN SWITZERLAND, NISSAN CENTER EUROPE GMBH, Postfach, 8902 Urdorf. INKLUSIVE 3.9% LEASING * Wir packen es an: mit konkreten Angeboten unterstützen wir Menschen, die ohne Arbeit sind. Danke, dass Sie uns dabei helfen. www.sah-be.ch PC-Konto 30-761339-3 Eine schwarze Rose für M. – Ging dann doch noch in den Dom, die «grösste Kathedrale der Welt». Auf ihr Dach hatte ich eigentlich gewollt. Aber ich war in Italien: Ascensori fuori servizio. Zu Fuss wären es 750 Stufen gewesen. Im Innern zermurmeltes Halbdunkel. Man bewundert sofort die Grösse. Gleich darauf misstraut man ihr. Es ist wohl die Nötigung zum anfänglichen Staunen, die verstimmt: der Imperativ des Glaubenmüssens in diesem Bahnhof Gottes. DA S M AGA Z I N 17/201 5 SPINAS CIVIL VOICES Arbeitslosigkeit mu ss verschwinden. Gesichtern, von denen das eine vorwärts, das andere aber rückwärts blickt: Es ist unsere Ängstlichkeit, dachte ich, die der Bildhauer meinte, gibt es das denn, Vorsicht als Tugend? Der Innenhof des ehemaligen Klosters, auf den ich hinaustrat, war Parkplatz und Fussballfeld, ein Netz für Korbball fehlte nicht, Fahrräder standen da, vertrocknete Pflanzen in Kübeln. Ich spürte auch hier noch, nach dem sanften Zuklappen der Kirchtür hinter mir, die Erleichterung, die andere Luft dort drin, Dankbarkeit für den Zeitensprung, den so ein Gebäude verschafft. Man kommt an solchen Orten an die tiefsten Ebenen der Stadt. Kann süchtig werden nach so etwas. Also ging ich weiter nach San Lorenzo und sah mir an der linken Innenwand ein rührendes «Abendmahl» an, die «Ultima Cena» eines Meisters, dessen Fresko ganz klar Leonardos «Cenacolo» nachempfunden war. Naiver und dadurch anrührend. Ich hatte noch nicht genug von dieser ältesten Schicht mailändischer Kultur und flanierte, indem ich Nebenstrassen benutzte, Via del Torchio, Via Lanzone und durch diesen tessuto urbano, welcher wie ein Flickenteppich war und so ganz anders als in den italienischen Innenstädten, die wir wegen ihrer Kompaktheit anstaunen, ein architektonischer Flickenteppich, Stadtbild mit Brüchen, insofern modern. Mittelalter, Ottocento; Faschismus und die Neubauten nach den Bombardements des Zweiten Weltkriegs. An einem nasebohrenden Portier vorbei kam ich in einen Innenhof des Dix-neuvième, hier eben Ottocento, Brunnen, dunkle Ranken. Fassaden, hoch aufragend zu einem fernen Himmel, wie Wohntürme, die eng zueinander standen – städtische Verdichtung; Nachbarschaft. Ich kam schliesslich nach Sant’Ambrogio, noch einmal mailändisches Urgestein. Grosse Basilika, weitläufige Klosteranlage; die Kirche gebaut nach 1110 an dem Ort, wo der Patron der Stadt, der heilige Ambrosius, am 5. April 397 beigesetzt wurde. Und trat über den wunderbaren Vorhof wieder hinaus in die Gegenwart, wo junge Leute an der Sonne sassen auf den Steinbänken der Piazza Sant’Ambrogio, laut und ausgelassen, viele in dunkler Luft und manche mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupt wie wiedererstandene Dantes: und mit Spumante, aufmüpfigen Sprechchören und viel Fotografieren ihren Studienabschluss feierten. Vorsichtshalber steckte ich für diesen sündigen Einfall an einer Seitenkapelle eine Kerze an. In der Riesenkaverne lenkte eine weisse Skulptur den Blick auf sich, scheinwerferbeleuchtet. Ein Werk von Tony Cragg, namhaftes Mitglied des herrschenden Kunstbetriebs, ein weisser, wolkenartig in die Höhe gedrehter Marmorgelato, dessen wichtigste Eigenschaft sein Gewicht zu sein scheint. «3400 Kilogramm Marmor» stand gross angeschrieben auf jeder der Stelen, die links und rechts flankierten. Es ging um Effekt, und einen solchen hatte die Kirche offenbar in ihren Dienst stellen wollen, Propaganda fide. Inzwischen war die 70. Stunde Mailand angebrochen. Sollte ich noch etwas unternehmen? Da bat mich das Museo del Novecento gleich neben dem Dom zu sich herein. Der Ruf dieses wunderbaren Palazzo dell’ Arengario mit seinen zwei hohen Rundbogen, in den Dreissigerjahren errichtet – ja, Mussolini –, vor wenigen Jahren umgebaut und als Galerie der italienischen Kunst des 20. Jahrhunderts gewidmet. Der Doppelbau in diesem spezifisch mailändischen De-Chirico-Licht, klar, hell, kantig – grosse Architektur. Mir war zum Abschied ein Geschenk zugedacht. Italienische Malerei des 20. Jahrhunderts – war die nicht, ausser im Futurismus, nur marginal oder epigonal gewesen? Diese Fünfziger- und Sechzigerjahre, als Italien mit etwas ganz anderem, dem Film nämlich, glänzte? Nun kam ich in eine filigran auf fünf Stockwerken arrangierte Galerie, in der eine ungewohnte Ruhe herrschte. An einem Mittwochvormittag kaum Besucher. Die Bilder schienen untereinander zu flüstern und erzählten die Geschichte eines künstlerischen Sonderwegs, von Zeit und Krieg, von Tradition und Experiment. Im Einstiegsbereich, der wie im New Yorker Guggenheim sich hochdrehenden Spirale, hing eine Ikone von 1901: «Il Quarto Stato» von Pellizza da Volpedo. Das berühmte Breitleinwandpanorama der (Land-)Arbeiter, die auf den Betrachter in entschlossen geschlossener Reihe zugehen, ja, das aus dem Vorspann von Bertoluccis «Novecento». An der Stirnwand des letzten Saals hing eine grosse Leinwand von Kounellis, dem Griechen, der seit Jahrzehnten in Rom lebt: eine schwarze Rosensilhouette auf beigem Grund, annähernd zwei auf drei Meter ... Kounellis’ Rose, Design plus Rätsel, passte in diese Stadt. Sie sagte, zurückhaltend: auf Wiedersehen. Das wird kein Problem sein, sagte ich. In der 72. Stunde Mailand stand ich auf der Rolltreppe, die in Milano Centrale, dem assyrisch-mailändischen Monster, zu den Bahnsteigen hinaufführt, und ich spürte, wie nun auch ich lächelte in dieser, wie man mir sagt, von so vielen gehassten Stadt. Schwimmen und Kontaktlinsen – das geht! Wussten Sie, dass Kontaktlinsen im Auge schwimmen? <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2N7M0NQYAwYMLwg8AAAA=</wm> <wm>10CFWLKw7DQAwFT-TV82_XjmEVFhVU4Uui4NwfNQ0rGGnAzLaVNzy81ve-forBZqSjp2tJcsseiAqMFsO4oGIC9oXdBmey_i1kFuLA_DUEJbF5i3VSnXfWruP8AvVbBI91AAAA</wm> Genauer gesagt auf einem feinen Tränenfilm leicht über der Hornhaut? Daniel Ulrich erklärt es Ihnen aber gerne genauer. Der Optometrist hat sich mit Hingabe und Faszination auf Kontaktlinsen spezialisiert. Der leidenschaftliche Experte analysiert Fehlsichtigkeiten präzise und sorgt gleichzeitig dafür, dass seine Kunden wieder gestochen scharf sehen. Kochoptik liegt Ihre Sehkraft am Herzen, gutes Sehen bedeutet schliesslich pure Lebensfreude. Unsere ausgewiesenen Spezialisten setzen alles daran, die perfekte Kontaktlinse für Sie zu finden. Kommen Sie zu uns und lassen Sie sich beraten. Wir freuen uns darauf. Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH BERN Arbeit und Integration Der Autor DI ET ER BACH M A N N lebt in Umbrien und Zürich. Eben erschien sein neuer Roman «Die Gärten der Medusa» im Limmat-Verlag. redaktion@dasmagazin.ch www.kochoptik.ch Gratisnummer 0800 33 33 10 Der Vater tötet die Mutter im Streit. Lügt den Kindern vor, sie habe ihn verlassen. Jahrelang bleibt der Mord unentdeckt – bis der Tochter Zweifel kommen. MAMAS LEICHE IM KELLER DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D: PR I VAT Von Malte Herwig Das Unglück der Familie Paulus begann vermutlich lange vor dem 14. Februar 2008. Wer weiss das schon? Die Nachbarn jedenfalls ahnten nichts. Die Ehe galt als vorbildlich. Oft sah man das Paar Händchen haltend durch das Dorf spazieren. Sicher, es gab ab und zu Streit. Der Mann, sagte die Frau, arbeite zu viel und kümmere sich nicht genug um die Kinder. Die Frau, sagte der Mann, habe Ansprüche, und irgendwoher müsse das Geld für teure Kleider und Möbel schliesslich kommen. Doch zu Handgreiflichkeiten kam es nie im Haus der Familie Paulus. Brauste die Mutter auf, gab der Vater schnell klein bei. «Er war immer ruhig, nett, freundlich», wird sein Sohn später vor Gericht aussagen. Nach zwanzig Jahren Ehe, nach einem Streit am Morgen eines Februartages vor sieben Jahren, erwürgt der Mann seine Frau. Er betoniert die Leiche im Keller ein, in den Sockel eines Weinregals, dessen Bau sie noch zusammen geplant haben. Den gemeinsamen Kindern, 15 und 18 Jahre alt, erzählt er, die Mutter habe ihn verlassen. Bei der Polizei erstattet er Vermisstenanzeige, zweimal. Dann passiert fünf Jahre nichts. Die Nachbarn glauben ihm. Die Polizei glaubt ihm. Die Kinder glauben ihm – was bleibt ihnen auch übrig? Das Leben geht weiter. Die Kinder werden erwachsen. Der Mann heiratet wieder. Er hat eine Leiche im Keller. Er kümmert sich jetzt mehr um die Kinder. Vor allem zur Tochter entwickelt sich ein enges Vertrauensverhältnis. Der Vater sei fünf Jahre lang «ohne Wenn und Aber» für sie da gewesen, erzählt die Tochter. Ganz anders als früher. Da habe der Vater immer so viel gearbeitet, dass er kaum Zeit für die Familie hatte. Kann man das, will man das glauben? Ist es zu fassen, dass ein Mann zum guten Vater wird, nachdem er die Mutter ermordet hat? Dass er es schafft, den Mord zu vertuschen und ein Lügengebäude zu errichten, in dem er fortan mit seinen Kindern lebt, als wäre nichts geschehen? 3500 Einwohner hat Ittenbach bei Königswinter. Einfamilienhäuser, hingewürfelt zwischen grüne Hügel am Rhein. Spiessige Vorstadtidylle, heile Welt. Hier kennt jeder jeden – glauben die Leute wenigstens. Bei der Kinderkirmes hängen die Dorfbewohner jedes Jahr eine Stoffpuppe an den Maibaum. «Um die bösen Geister zu vertreiben», erklärt Christina Junghans, die Tochter von Gerd und Sigrid Paulus. Junghans sitzt im Garten ihrer kleinen WG in einem Nachbarort von Ittenbach und raucht. Sie war 15, als der Vater ihr und ihrem Bruder erklärte, die Mutter sei verschwunden. Die Kinder sind damals schon auf der Heimfahrt im Schulbus, als der Vater sie anruft: Sie sollen vorher aussteigen und in einem Restaurant zu Mittag essen. An der Haltestelle wartet der Vater allein auf sie. «Papa, wo ist Mama?», fragt die Tochter. «Mama ist abgehauen.» Gerd Paulus wirkt weder aussergewöhnlich traurig noch aufgebracht. Er spielt seine Rolle perfekt, wie immer in den nächsten Jahren. «Ich dachte, sie hat vielleicht einen Kerl kennen gelernt, der Kohle hat», sagt Christina Junghans. Ein Bild aus glücklichen Tagen: Familie Paulus – Tochter Christina, Mutter Sigrid, Vater Gerd 36 37 Heute ist sie 22, und sie hat einiges gelernt in der sehr kurzen Zeit, die sie zum Erwachsenwerden hatte. Zum Beispiel, dass manchmal alles von einem selbst abhängt und man nie aufgeben darf, nach der Wahrheit zu suchen. Selbst wenn einem der eigene Vater und die Polizei erklären: Gibs auf, es ist sinnlos. Es stimmt: Die Mutter hatte Ansprüche. Den Kindern sollte es gut gehen. Deswegen stritten sich die Eltern oft über Geld. Vielleicht kann ein Kind von 15 Jahren sogar schon verstehen, dass die Mutter den Vater wegen solcher Dinge verlässt. Aber dass die Mutter auch das Kind verlässt, das kann und will ein Kind nicht verstehen. «Ich habe mich immer gefragt», sagt Junghans, «ob ich daran schuld gewesen bin. Warum hat sich die Mutter nicht einmal gemeldet, wenn wir Geburtstag hatten oder Weihnachten war?» Während der Vater im Keller das Weinregal zubetoniert, baut er darüber sein Lügengebäude, als wäre es ein Eigenheim. Er will sie beschützen vor der Wahrheit, dass ihr Vater die Mutter umgebracht hat. Und er ist zu feige, ein Geständnis abzulegen. Zwei Wochen nach der Tat erfindet der Vater wieder eine Lüge. Die Mutter, erzählt er den Kindern, sei zurückgekommen, als sie in der Schule waren. Zwei Männer mit einem Lieferwagen hätten ihr geholfen, ihre Sachen fortzubringen. In Wirklichkeit verkauft der Vater heimlich die Habseligkeiten der Mutter. Der Schmuck geht an den Juwelier zurück, ihr Handy, eine Damenhandtasche und ein Paar Schuhe versteigert er bei Ebay. Er fälscht die Unterschrift seiner Frau und überweist Geld von ihrem Konto, um die Schulden der Familie zu bedienen. Er ist ein guter, ein fürsorglicher Lügner. Auch auf dem Kindergeldantrag für seine Tochter fälscht er die Unterschrift der toten Mutter. Niemand ausser den Kindern scheint die Mutter zu vermissen. «Wir haben Weihnachten so gefeiert, als wäre sie nie da gewesen», erzählt Christina Junghans. Nur eine Schwester der Mutter habe den Vater einmal angeschrien: Du hast sie umgebracht und im Garten vergraben! Aber das war auf einer Feier, die Tante war betrunken, und keiner nahm sie ernst. Der Vater baut sein Lügengebäude aus. Er zimmert, malt und mauert, wann immer eine Ecke darin einzustürzen droht. Die Polizei fahndet nicht nach der Frau. «Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, haben das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, auch ohne diesen den Angehörigen oder Freunden mitzuteilen», heisst es lapidar auf der Internetseite des Bundeskriminalamts. Es sei nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben vorliege. Immer am 14. Februar backt die Tochter Apfelstrudel. Der Tag, an dem die Mutter verschwand, wird ihr Muttertag. 2009 dann ein Hoffnungsschimmer. Auf der Polizeiwache teilt man der Familie Paulus mit, die Personalien einer Frau namens Sigrid Paulus seien bei einer Verkehrskontrolle in Düsseldorf aufgenommen worden. Doch die Spur läuft ins Leere. Weitere Informationen über die Person gibt es nicht. Der Vater hält es für einen Wink des Schicksals. Nun steht sein neues Haus auf festem Fundament. Wenig später lernt er eine neue Frau kennen, die Ende 2010 zu ihm zieht. Christina zieht aus, bald darauf heiratet sie. Dass sie selbst zu ihrer Hochzeit kein Lebenszeichen von der Mutter erhält, kann sie nicht verstehen. Sie kann es sich nicht mehr anders erklären: Der Mutter muss etwas zugestossen sein. Sie wendet sich an RTL und bittet den Sender, dem Verschwinden ihrer Mutter nachzugehen. Der Vater widersetzt sich nicht. Falls die Wahrheit herauskommt, soll es so sein. Ende 2012 leitet die Polizei endlich Ermittlungen ein – weil die Tochter hartnäckig bleibt und sich nun auch das Fernsehen für den Fall interessiert. Die Familie tritt in mehreren Sendungen auf, und der Vater erklärt unter Tränen, wie seine Frau verschwand. Einer Boulevardzeitung sagt er, die Polizei habe ihn darüber informiert, dass der Ehemann meistens der Verdächtige sei: «Aber wenn ich ein reines Gewissen hätte, meinten sie, müsse ich mir ja keine Sorgen machen.» Wenn die Tochter und ihr Ehemann zu Besuch sind, geht Gerd Paulus mit dem Schwiegersohn in den Keller, um Wein zu holen. Er lässt sich dabei nichts anmerken. Der Verdacht ist ein Puzzle mit tausend Teilen. Es dauert lange, bis sich alles zu einem Bild zusammenfügt. Man braucht Geduld und Ausdauer. Christina Junghans ist zwanzig Jahre alt, als sich ihr Vater im Frühjahr 2013 vor dem Amtsgericht Königswinter von seiner seit fünf Jahren verschwundenen Ehefrau scheiden lässt, um seine neue Partnerin heiraten zu können. Aber die Tochter traut sich jetzt, Dinge zu denken, die sie früher nicht ausgehalten hätte: Vielleicht ist die Mutter tot, vielleicht hat sie jemand umgebracht. Aber wer? Im Mai geht Christina Junghans zum ersten Mal zur Mordkommission. Als ihr die Beamten sagen, dass ihr Vater verdächtig sei, will sie es zuerst nicht glauben. Das Puzzle ist noch nicht fertig. Aber sie arbeitet weiter daran. Die Staatsanwaltschaft Bonn leitet ein Verfahren gegen Unbekannt ein. Im Oktober zieht sie nach der Trennung von ihrem Mann wieder in ihr Elternhaus – in ein Zimmer direkt neben dem Keller, in dem der Vater ihre Mutter einbetoniert hat. «Mein Vater hat gesagt: Warum willst du ausgerechnet in den Keller? Da ist es kalt und feucht. Komm doch nach oben.» Eine Schwester der Mutter habe den Vater einmal angeschrien: Du hast sie umgebracht und im Garten vergraben! 38 Doch Christina Junghans lässt zum ersten Mal den Gedanken zu, dass ihr Vater die Mutter ermordet haben könnte. Hat er sie vielleicht im Garten begraben? An der Stelle, wo der Hund immer gescharrt hat, worauf der Vater dort einen Steingarten anlegte? Die Tochter geht wieder zur Mordkommission. «Mein Vater hat sich früher nie für den Garten interessiert», sagt Junghans und zündet sich noch eine Zigarette an. Etwas über ein Jahr ist es her, aber sie wirkt gefasst, während sie von dem Moment berichtet, in dem ihr Leben zusammenbrach. Sie ist allein zu Hause, als am Morgen des 30. Oktober 2013 Polizeibeamte mit schwerem Gerät und einem Durchsuchungsbefehl anrücken, um den Garten mit Leichenspürhunden abzusuchen. Als der Vater wenig später in Begleitung eines Polizisten erscheint, umarmt er seine Tochter wortlos. Dann führt er die Beamten in den Keller und zeigt auf das Weinregal. Christina Junghans blinzelt jetzt nachdenklich in die Sonne. An einer Kette um ihren Hals hängt der Ehering, den die Gerichtsmediziner am mumifizierten Leichnam der Mutter fanden. Die Wahrheit, so schrecklich sie ist, kann auch befreiend sein. «Heute weiss ich, dass Mama mich nie verlassen hat.» Das Geld für das Begräbnis der Mutter muss sich Christina Junghans zusammenbetteln. Einige Dorfbewohner spenden. Am Tag der Bestattung wetten die Boulevardreporter, wer als Erster ein Foto von der Tochter schiesst. Sie ist die Tochter des Opfers, aber im Dorf behandeln sie alle als die Tochter des Täters. Wenn sie in den Supermarkt geht, tuscheln die Leute hinter ihrem Rücken. «Alle fragen immer nur: Wie gehts dem Vater?», erzählt Junghans. «Am liebsten würde ich einen Gedenkstein auf den Marktplatz stellen, damit die Leute sich erinnern: Da war auch mal eine Frau!» Ein Drittel aller Gewaltopfer hat mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen. Doch die Chancen stehen besser, wenn sie innerhalb von 24 Stunden therapeutische Unterstützung bekommen. Christina Junghans hat das Glück, gleich nach Entdeckung der Tat auf den Notfallseelsorger Albrecht Roebke zu treffen, einen 47-jährigen Geistlichen, der Motorrad fährt und Ohrringe trägt. Als er Junghans besucht, rauchen sie erst mal eine. Der Seelsorger findet einen Draht zu der traumatisierten Tochter – und ist beeindruckt von ihrer Kraft. «Ich habe sie sofort als sehr starke Person erlebt», sagt Roebke. «Sie wusste, wo sie Hilfe braucht, und hat sie sich gezielt geholt.» Mitunter können Menschen an persönlichen Katastrophen auch wachsen. Psychologen sprechen dann von posttraumatischer Reife. «Aber das dürfen die Betroffenen nicht zugeben», sagt Roebke. «Die Leute erwarten ja, dass man daran zerbrechen muss.» Schon im November macht Christina Junghans wieder beim rheinischen Karneval mit. Sie hat sich vorgenommen, nicht zu zerbrechen. Schliesslich hat sie immer geahnt, dass die Mutter sie nicht einfach verlassen hat. «Aber sie musste erst erwachsen werden, um den Gedanken zulassen zu können, dass ihr Vater der Mörder der Mutter ist», sagt Roebke. Den Kontakt zum Vater hat sie trotz allem nie abgebrochen. Es stimmt ja, sie ist auch sein Kind. «Wenn irgendjemand anders meine Mutter getötet hätte, wäre das leichter.» Sie hat ihm ins Gefängnis geschrieben: «Ich bin jetzt Vollwaise.» Aber sie hat ja auch noch Fragen an den Vater. Zum Beispiel: «Papa, warum hast du Mama umgebracht?» Der Vater schreibt zurück: «Das ist das, was ich mich selbst auch immer frage … Aber auch ich weiss es nicht und werde wohl auch für mich nie eine Antwort finden. Und somit auch nicht für Dich. Es tut mir leid!» Das Erste, was einem an Gerd Paulus auffällt, sind die gepflegten Hände. Es sind Kellnerhände, dienstfertige Hände, die Fingernägel perfekt manikürt. Ungewöhnlich für den Insassen einer Haftanstalt. «Die Hände sind das Erste, was der Gast sieht», sagt Gerd Paulus, in einem früheren Leben Gastronom, Ehemann, angesehener Familienvater. Der 53-Jährige ist bei Mithäftlingen und Wärtern in der Justizvollzugsanstalt Köln beliebt, weil er verlässlich ist und keine krummen Dinger dreht. Er hat sich schnell eingelebt und macht als Hilfsarbeiter bei der Essenausgabe mit. Er arbeitet gewissermassen wieder in seinem Metier. Anders als Berufskriminelle neigen Affekttäter hinter Gittern weniger zu Straftaten. «Sie gelten bei der Knastleitung als zuverlässig, denn sie haben genug», erklärt Paulus. Wen man auch fragt, die Leute, die Gerd Paulus persönlich kennen, beschreiben ihn als stillen, freundlichen Mann. Keine Drogen, kein übermässiger Alkoholkonsum. Einer, der immer hart gearbeitet hat und der, wenn es Probleme gab, noch härter arbeitete. Er ist kein Mensch, der aus sich herausgeht. «Als Kinder mussten wir viermal sagen ‹Wir lieben dich›, bis er es auch sagte», erinnert sich seine Tochter Christina. Ganz anders Sigrid Paulus. Die temperamentvolle Frau hat Ansprüche und zögert nicht, diese gegenüber dem Mann geltend zu machen. Gleichzeitig gilt sie als Familienmensch und liebevolle Mutter. Sie ist immer für die Kinder da. Als Sigrid und Gerd 1988 heiraten, gibt Gerd Paulus seine gut dotierte Stellung in Düsseldorf auf, weil Sigrid in ihre Heimat nach Bonn zurückwill. 1989 ziehen sie nach Ittenbach und machen sich mit einem Restaurant selbstständig. Erst wohnen sie in einer Zweizimmerwohnung über dem Betrieb. Als 1990 der Sohn geboren wird, zieht die Familie auf Drängen der Frau Aber das war auf einer Feier, die Tante war betrunken, und keiner nahm sie ernst. 39 Gesucht – gebucht Umzugs- und Handwerkerprofis zu guten Preisen – auf renovero.ch Online Handwerkerofferten einholen und vergleichen. 40 auf das Erscheinungsbild der Familie. Die Kinder sollen Markenkleidung tragen, und der Familienwagen muss ebenso standesgemäss sein wie die Einrichtung des Hauses. Dem Vater steht das Wasser längst bis zum Hals, als er zu tricksen beginnt. Dreimal wird er von 2004 bis 2007 wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt. Die Kinder und Nachbarn haben von alldem keine Ahnung. Seine Frau aber gibt dem Mann die Schuld für die beruflichen Fehlschläge. Wenn die Post unbezahlte Rechnungen und Mahnungen bringt, macht Sigrid Paulus ihrem Unmut Luft und beschimpft ihren Mann. Am Ende belaufen sich die Schulden auf 80 000 Euro. Er lässt sich nicht anmerken, in welchen Schwierigkeiten die Familie steckt. Nach aussen bleibt er fröhlich und zuvorkommend, «wie man in der Gastronomie halt ist». Seine eigenen Gefühle stellt der Vater zurück, seine Unzufriedenheit schliesst er in sich ein. Wenn er überhaupt etwas kritisiert, dann sachlich. Seine Frau hingegen macht ihm auch vor den Kindern immer wieder lautstarke Vorwürfe und droht ihm einmal auch mit Scheidung. Gerd Paulus nimmt das nicht ernst. Schliesslich liebt er seine Frau und die Kinder und kann sich unmöglich vorstellen, dass sie ihn verlässt. Wenn die Frau wieder einmal schimpft, versucht er zu beschwichtigen. Streit ist ihm zuwider, erst recht vor den Kindern. Lieber gibt er nach. Schliesslich muss auch Sigrid Paulus eine Arbeit aufnehmen. Beide Eheleute heuern bei einer Leiharbeitsfirma an, die Eventshows anbietet. Im Jahr vor dem Mord arbeiten Sigrid und Gerd Paulus gemeinsam auf einem Rheinschiff, das KrimiDinner anbietet. Die Schichten sind lang, der Mann ist Vorgesetzter seiner Frau. Als Sigrid Paulus ihren Mann um Urlaub für ihren Geburtstag bittet, lehnt der ab. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Obwohl sie hart arbeiten, erdrückt sie die Schuldenlast. Doch was sie auch versuchen, Gerd und Sigrid Paulus scheinen kein Glück zu haben. Anfang 2008 geht der Veranstalter pleite, und die beiden sind wieder arbeitslos. Nun sitzen sie 24 Stunden täglich zu Hause. Die letzten Gehälter stehen noch aus, die Ersparnisse reichen nur für ein paar Wochen. Gerd Paulus muss sich schnell einen neuen Job suchen, was im Winter nicht leicht ist in der Gastronomie. Seine Frau macht ihm Vorhaltungen: Er gebe sich nicht genug Mühe, eine angemessen bezahlte Stelle zu finden. Er sei ja noch nie in der Lage gewesen, seine Familie anständig zu ernähren. Am 14. Februar 2008, Valentinstag, steht der Vater wie immer um sechs Uhr auf und macht Frühstück für die Kinder. Danach legt er sich wieder zu seiner Frau und schläft weiter. Um neun Uhr stehen beide auf und gehen ins Bad. Während Gerd Paulus vor dem Waschbecken steht, macht seine Frau ihm lautstarke Vorwürfe. Er müsse nun endlich eine neue Arbeit finden, aber dazu sei er wohl unfähig. Der Mann bleibt ruhig und wendet ihr den Rücken zu. Wie oft hat er das schon gehört. Aber als seine Frau aus der Dusche tritt, schimpft sie weiter und stösst ihn von hinten an. «Sie kam aus der Dusche raus, es war wieder irgendwas», erklärt Gerd Paulus später. «Sie brüllte und machte Terz, und dann hat es bei mir Klick gemacht. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben, ich konnte das Gebrülle einfach nicht mehr hören.» Der Mann dreht sich um – «Warte doch mal!» – und stösst die Frau von sich. Sigrid Paulus rutscht auf dem nassen Badezimmerboden aus und schlägt sich den Hinterkopf an der Dusche an. Wütend springt sie auf und packt seine Oberarme. Ein Streit, ein Unfall – dabei hätte es bleiben können. Sigrid Paulus hätte ihren Worten Taten folgen lassen und die Scheidung einreichen können. Gerd Paulus hätte seine Frau festhalten und beruhigen oder das Badezimmer verlassen können. An die Tat habe er keine Erinnerung, sagt der Vater: ein Blackout. Als er aufgewacht sei, habe vor ihm seine tote Frau gelegen. Kann man einem Menschen glauben, dass er sich für einen Moment in jemand ganz anderen verwandelt und wie in Trance eine Tat verübt, die ihm niemand zutraut? Die Rechtsprechung kennt die verminderte Schuldfähigkeit bei Tätern, die im Wahnsinn oder Rausch handeln. Der Gerichtsmediziner aber stellt fest, dass Gerd Paulus den Hals seiner Frau drei Minuten lang zugedrückt hat – so brutal, dass er ihr dabei den Kehlkopf zerquetschte. «Nachdem der Angeschuldigte keinerlei körperliche Reaktionen mehr wahrgenommen hatte», vermerkt das Gerichtsprotokoll, «fühlte er nach ihrem Puls und verblieb, ohne einen Notarzt oder die Polizei zu verständigen, nach seinen Angaben noch etwa dreissig Minuten im Badezimmer und überlegte, wie er den leblosen Körper aus dem Badezimmer verschwinden lassen könnte.» Der Sachverständige vor Gericht kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Keine Affekthandlung, der Angeklagte ist voll schuldfähig. Am 17. März 2014 fällt das Urteil: acht Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags. Das Gericht hält Gerd Paulus sein Geständnis zugute und glaubt ihm, dass er seine Frau spontan im Streit erwürgt hat – deswegen keine Verurteilung wegen Mordes. Wie soll eine junge Frau nun damit umgehen, dass sie den Mörder ihrer Mutter hasst, aber den Vater nach wie vor liebt? War er nicht ein guter Vater in den vergangenen Jahren und hat sich immer um sie gekümmert? Sie schreibt ihm wieder, fragt, ob er das nur aus schlechtem Gewissen getan habe. Der Vater antwortet: «Ich habe seit der Tat nie etwas für dich getan, gekauft, besorgt oder versucht, weil ich mich von meiner Schuld freikaufen wollte.» Die Tochter will die Zeit mit der Mutter, die ihr der Vater geraubt hat, wenigstens etwas nachholen. Welche Lieblingsfarbe hatte die Mutter, welche Blumen gefielen ihr, was war ihr Lieblingslied? Der Vater antwortet auf alles und schreibt dann: «Ich habe Deine Mutter geliebt, als ich sie geheiratet habe … Und habe sie geliebt bis über meine Tat hinaus.» Ist das Unglück der Familie Paulus doch nicht so einzigartig, wie wir denken? Vielleicht versteckt sich hinter dem Entsetzen über die Tat auch die Angst, dass sie überall geschehen könnte. «Die Leute halten die Ohnmacht nicht aus, dass man sich nicht davor schützen kann», sagt Albrecht Roebke und zuckt mit den Schultern. «Deshalb schimpfen sie über den Mörder und wundern sich, dass er nicht im schmutzigen Unterhemd dasitzt und man es ja immer geahnt hat.» Jeder könne in einer bestimmten Situation zum Mörder werden, glaubt der Notfallseelsorger. Das einzige Mittel dagegen: «In den Spiegel schauen und erkennen: Das hätte ich sein können.» Es gehört viel Kraft dazu, sich der Wahrheit zu stellen. Wann immer sie die Kraft findet, setzt sich Christina Junghans ins Auto und fährt an ihrem alten Elternhaus vorbei, in dessen Keller der Vater die Mutter vergraben hatte. Vor einigen Monaten ist dort wieder eine Familie eingezogen und hat sich in der Idylle am Dorfrand eingerichtet. Im Vorgarten spielen die Kinder in der Nachmittagssonne, und ein Mann läuft lächelnd über den Rasen. M A LT E H ERW IG ist Autor beim «Süddeutsche Zeitung Magazin»; info@publicorum.com DA S M AGA Z I N 17/201 5 in eine teure 180-Quadratmeter-Wohnung. Sie zahlen jetzt 2800 Mark Miete bei einem Verdienst von rund 3500 Mark. Aber der Mann will seiner Frau eine ansprechende Umgebung bieten, sie kaufen Möbel und andere Einrichtungsgegenstände. Die Frau sucht aus, er zahlt. Er will keinen Streit. Wenn er nur härter arbeitet, wird das Geld schon reichen, glaubt Gerd Paulus. Wenn sie sich aufregt und ihm Vorwürfe macht, versucht er sie durch Entgegenkommen zu beruhigen. Doch das Restaurant läuft nicht wie erhofft. Die junge Familie gerät zum ersten Mal in finanzielle Schwierigkeiten, als die Bank den Kredit nicht mehr verlängert. Der Mann arbeitet jetzt 15 bis 16 Stunden täglich. 1992 wird Christina geboren. Die Frau ist unzufrieden, weil sie mit den Kindern allein ist, während der Mann arbeitet. So hat sie sich das nicht vorgestellt. Nach der Pleite des Restaurants hält der Mann die Familie über Wasser, indem er mehrere Jobs gleichzeitig ausübt. Sechs Tage die Woche ist er nicht zu Hause, oft muss er auch an Feiertagen arbeiten. Die Familie ist ihm wichtig. Auch nach Nachtschichten steht er um sechs Uhr auf, um den Kindern das Frühstück zu bereiten, bevor er sich wieder ins Bett legt. Einen Tag in der Woche hält er sich immer für die Familie frei. 1998 zieht die Familie Paulus zur Miete in ein günstigeres Haus am Dorfrand. Doch so hart der Vater arbeitet, die Schulden wachsen. Die Gastronomie ist ein hartes Gewerbe. Viele Neueröffnungen schliessen innerhalb eines Jahres wieder. Auch mit einem neuen Restaurant geht Gerd Paulus pleite – auch weil er immer wieder Geld aus dem Geschäft zieht. Die Frau, die aus wenig begüterten Verhältnissen kommt, legt Wert 41 CHR ISTIAN SEILER DR EI STER NE SIND NICHT DR EI STER NE Dreisternrestaurants sind extraterritoriales Gebiet, ganz klar. Das fällt, gemessen an der Grundfläche der Schweizer Kulinarik, nicht besonders ins Gewicht, denn es gibt nur zwei: Andreas Caminadas Schloss Schauenstein in Fürstenau und Benoît Violiers Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier. Die Versuchsanordnung ist übersichtlich: Wie verhalten sich diese Speerspitzen der Unterhaltungsgastronomie zueinander? Steht der eine Cuisinier eher für die Vergangenheit und der andere für die Zukunft (oder beide, oder keiner)? Lässt sich am Beispiel der beiden Marktführer etwas über den Unterschied zwischen West und Ost, zwischen Deutschschweiz und Romandie feststellen, über unterschiedliche Denkweisen und Arbeitshypothesen? Ich würde sagen: Ja. Caminada und Violier repräsentieren auf spektakuläre Weise unterschiedliche Schulen des kulinarischen Denkens. Beginnen wir bei Benoît Violier. Er hat ein schweres und zugleich definiertes Erbe angetreten, als er 2012 das Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier übernahm. Das Restaurant war von Frédy Girardet zu höchsten Ehren geführt worden (drei Michelin-Sterne, die härteste Währung im Restaurantbusiness). 1996 übernahm der ehrgeizige, gestrenge Philippe Rochat das Haus und führte es auf selbem Niveau bis 2012. Dann war Violier an der Reihe, der seit 1996 für Rochat gearbeitet hatte. Mit 22 Köchen und 23 Servicemitarbeitern, einem Mitarbeiter pro Sitzplatz, bereitet er das zu, was man sich seit Jahrzehnten von einem Spitzenrestaurant erwartet: Kaviar und Gänseleber, Jakobsmuscheln und Hummer – kein Klischee, das über luxuriöses Essen kursiert, wird ausgelassen. Caminadas Team ist vielleicht halb so gross wie jenes von Violier, und auch der Anlauf, den er genommen hatte, war kür- zer. Seine Lehrzeit war komprimierter. Caminada liess sich nicht auf den Stil eines kulinarischen Übervaters einschwören, sondern holte sich in Bregenz, Baiersbronn und Uetikon Impulse, die ihm genügten, um sich 26-jährig selbstständig zu machen. Den Aufstieg von Schloss Schauenstein zum Dreisternrestaurant verantwortete er selbst, und er ging dabei einen verspielten, selbstbewussten Weg der Eigensinnigkeit. Caminadas Küche ist nicht wie irgendeine andere Küche. Die Auszeichnung durch drei Michelin-Sterne ist eher eine Herausforderung für die betont traditionsverliebten Michelin-Inspektoren als für Caminada: Seine Position als Meister der – man kommt in diesem Zusammenhang um das öde Wort nicht herum – kreativen Kulinarik wäre auch dann unbestritten, wenn ihm der Michelin nicht folgen würde. Das heisst nicht, dass man bei Violier schlechter isst. Die Perfektion des Menüs ist beeindruckend, die Präzision der Geschmäcke erstaunlich, und zuweilen (etwa bei der Kombination eines Kardonengemüses mit schwarzem Trüffel) schlagen die Einfälle des Küchenchefs auch Funken. Dennoch wohnt man dem Essen wie einer Opernvorstellung bei, tief beeindruckt, elegant angezogen und ein bisschen erstaunt, für einen Abend zu einer Gesellschaft zu gehören, die für ein Essen und ein bisschen Wein 1500 Euro ausgibt. Sicher, auch bei Caminada isst man nicht umsonst (wenn auch markant weniger teuer als in Crissier). Aber man befindet sich hier nicht in der Oper, sondern in der Vorstellung eines spannenden Films mit unabsehbaren dramaturgischen Wendungen und ziemlich lauter Musik. Der Vergleich der Schweizer Dreisterner läuft auf den Unterschied zwischen Hoch- und Populärkultur hinaus. Warum auch nicht. Beides hat Zukunft. Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K 42 DA S M AGA Z I N 17/201 5 Was für unterschiedliche Kulturen die beiden besten Restaurants der Schweiz repräsentieren DA S M AGA Z I N 17/201 5 — MON I R S H A H ROU DY FA R M A N FA R M A I A N: U N T I T L E D, 201 2 . C OU RT E S Y OF T H E A RT I S T A N D T H E T H I R D L I N E Die andere iranische Revolution: Traditionelle persische Ornamentik trifft zeitgenössische Kunst. HANS ULR ICH OBR IST TEHER ANS FACTORY Monir Shahroudy Farmanfarmaian war 22 Jahre alt, als sie 1946 den Iran verliess. Sie schiffte sich nach New York ein, studierte an der renommierten Parsons School für Kunst und Design und arbeitete zum Geldverdienen als Schaufensterdekorateurin in einem Warenhaus. Ein Kollege, der dort Schuhmodelle zeichnete, war ein gewisser Andy Warhol. Während dieser wenig später die glitzernde Warenwelt der Kaufhäuser zu Kunst veredelte und die Pop-Art entstand, fand Farmanfarmaian ihre eigene Sprache. Sie interessierte sich weniger für die Reize der Konsumgüter als die der Intarsienkunst ihres Heimatlandes und schuf riesige Spiegelkugeln und -reliefs, die unter ihren Künstlerfreunden begeistert aufgenommen wurden. Dennoch entschloss sie sich 1957, aus New York, dem damaligen künstlerischen Zentrum der Welt, in den Iran zurückzukehren. Dort baute sie etwas auf, was sich am ehesten noch mit Warhols legendärer Factory vergleichen liesse: Eine Manufaktur, in der sie mit traditionell geschulten Kunsthandwerkern Muster, Spiegelwände und Glasmalereien schuf, die das persische Erbe aufnahmen, aber neu interpretierten. Sie wollte die Schönheit der geometrischen Ornamente und Mosaiken aus den Moscheen und Pa- lästen weitergeben und auch in die Museen und Häuser tragen. Doch die islamische Revolution 1979 vertrieb sie erneut nach New York. Dort arbeitete sie an Collagen und bestückte kleine Holzboxen mit Schmuck und Bildern aus dem Iran. Sie vermisste ihr Land, sie vermisste aber vor allem die brillanten Handwerker, die es nur dort, nicht aber in New York gab. 2004 schliesslich, im sensationellen Alter von 80 Jahren, entschloss sie sich, zum zweiten Mal zurückzukehren, und eröffnete in Teheran erneut ihre Manufaktur – zum Teil mit denselben Handwerkern, von denen sie sich 25 Jahre zuvor trennen musste. Natürlich gibt es viel Zensur in dem Land, aber obwohl sie sich ihren unabhängigen Geist erhalten hat, wird sie bei ihrer Arbeit in Ruhe gelassen. Seit ihrer Rückkehr hat sie eine Produktivität entwickelt und ein Œuvre erarbeitet, das ihr gesamtes früheres Werk in den Schatten stellt. Sie erinnert damit an die grosse Louise Bourgeois, eine Künstlerin, die fast bis in ihr hundertstes Lebensjahr hinein gearbeitet hatte und erst sehr spät die nötige Anerkennung erfuhr. Nun, mit über 90 Jahren, wird endlich auch Farmanfarmaian erstmals in ihrer New Yorker Zweitheimat gewürdigt. Monir Shahroudy Farmanfarmaian: Works On Paper – New York, Guggenheim Museum Katalog, hg. v. Karen Marta. Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015 www.guggenheim.org H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London. 43 TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D 1 2 6 8 7 12 13 15 10 11 Ich liege in der Notfallstation auf so einer Pritsche. Mit dem Velo bin ich vor einer Stunde gegen ein Auto geprallt und dann unsanft gelandet. Zwei Tatütatü-Autos sind gekommen. Ich musste in mittlerer Stärke ohne Unterbruch in ein Röhrchen blasen. Ich brauchte fünf Anläufe. Der Polizist wurde wütend, weil ich so lange brauchte. Dann endlich haben sie mich in die Notfallstation gefahren. Da liege ich schon seit drei Stunden. Links liegt eine Italienerin, die Pech beim Kochen hatte. Sie hatte Öl in die Pfanne geschüttet, und dann gabs eine Flamme. Ihr Gesicht muss ziemlich übel aussehen. Sie weint stark. Ihr Mann ist mitgekommen und versucht sie zu trösten. Die Ärztin redet ganz langsam mir ihr: Wo tun aua? Der Lauteste im Zimmer ist aber Mike. Er ist Amerikaner und hat unbekannte Pillen geschluckt. Er schreit auf 17 16 19 20 22 21 24 26 25 28 29 33 40 5 9 14 18 37 4 3 FR ENKEL 105 KILOGR AMM, WIEDER HOLT DIE KR ANKENSCHWESTER 34 23 27 31 30 35 32 36 39 38 41 GESCHÄFTSESSEN, SEHR NÜCHTERN BETRACHTET: Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend. Englisch, man soll bitte ’ne Kanone holen und ihn abknallen. Doch die Ärzte weigern sich. Sie fragen: Mike, was hast du für Pillen geschluckt? Mike antwortet: Fuck you! Aber Mike, sagen sie, wir müssen unbedingt wissen, welche Substanz du eingenommen hast. Mike antwortet wieder: Fuck you. Die Doktoren werden ungeduldig. Mike, was hast du geschluckt? Aber der Amerikaner hält dicht, will nicht kooperieren und fuchtelt mit seinen Fäusten. Fuck you, schreit er und fällt plötzlich in einen friedlichen Schlaf. Ein anderer Patient ist ein Schweizer. Der Tollpatsch ist die Rolltreppe runtergefallen. Und zwar wie in einem Trickfilm, sodass er wohl am ganzen Körper geblutet hat. Hans, nennen wir ihn so, ist verdammt tapfer. Ob er grosse Schmerzen habe, wollen sie wissen. In einer Skala von 1 bis 10, wobei 10 höllisch und 1 easy ist. Hans antwortet: Bein 3, Rücken 2, Kopf 2, Arm 3, Bauch 4. Ich habe mir nur die Hand gebrochen. Sie haben mir die Kleider ausgezogen und so ein Hemd übergestreift. Unter dem Hemd, das mir bis zu den Knien reicht, trage ich eine Unterhose. Eine junge Krankenschwester ist gerade gekommen und wollte sehr intime Sachen von mir wissen. Zum Beispiel, wie viel ich wiege. Ich überlegte kurz, ob ich lügen soll. Es geht wahrscheinlich um die Narkose, die sie mir geben werden. Dann muss ich schon die Wahrheit sagen. 105 Kilogramm, antwortete ich tapfer. 105 Kilogramm, wiederholt die Krankenschwester. Dann schieben sie mich in den Operationssaal. BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich. HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz). WA AGRECHT (J + Y = I): 6 Ihr Standort: ein Markus-Werner-Roman. 12 Kitzeln das Zwerchfell sozusagen von oben herab. 18 Trip mit Ship oder Hollywood-VIP. 19 Auch Elstern sinds, rein deliktisch. 20 Fabelhafter Gockel, lässt einen schwedischen Krimiautor aufhorchen. 21 Weitgehend hölzern beide, sowohl der Industrielle H.C. als auch der Künstler M.C. 23 In Betrieb wiederholen: entspringt bei den Mongolen. 24 Steht im Anforderungsprofil von James, dem Servilen. 26 Schweizer in Preussen machten sich daran zu schaffen. 27 Inklusive – kein Raschler, wenn gross geschrieben. 28 Altes Trinkgefäss – lüpft entzweit das Gesäss! 30 Körperbauteil mit klingendem Ausklang. 32 Kätzchenträgerin – bei Goethes Stift mit inbegriffen. 33 Von Harold Geliebte, obwohl older als er. 34 Wo, wo wo heute dove. 35 Den Wein hat man nach Streichen eines Zeichens im Auge. 37 Bäumig, was bei Kissenschlachten mitgeschmissen wird. 38 Chemische Keulen sind in dem Laden nicht zu haben. 39 Ist Gnadenloser und indischen Chefs Sache nicht. 40 Bewirken schwindend Bewusstseinsstörung. 41 Freitagsgruss? Erlebt Eilandmann wider Willen! LÖSUNG RÄTSEL Nº 16: BOXENSTOPP WAAGRECHT (J + Y = I): 6 TOURISMUSEXPERTE. 14 ROTLICHTMILIEU (Prostitution ist in Schweden verboten). 18 BANANE. 19 ORESTES. 20 GES. 21 CANALE (ital. für Sender/Kanal). 22 BREME («Übre Gotthard flüged Bräme»). 23 EMBARGO. 25 Hänsel und GRETEL. 27 IMAX 29 PÊCHE Melba (Nellie). 31 EIERN. 32 ONE (engl. für eins) in m-one-y. 33 HELPLINE. 35 «Die ROTE». 36 TOE (engl. für Zehe). 37 IDEE. 38 GERA, Anagramm: Rage. 39 (B)RITEN. 40 ENNS, Anagramm: Senn. 41 (Kalb-)ERMATTEN. 42 SEEIGEL. 43 EVERTEBRAT (Wirbellose). SENKRECHT (J + Y = I): 1 Michelangelo BUONARROTI. 2 Alan Alexander MILNE (Autor von «Pu der Bär»). 3 KUHREIHEN (lockt Kühe zum Melken an). 4 Emse in GEMSE (neu: Gämse). 5 (Puff-)REIS. 6 TABATIERE. 7 ORANGERIE. 8 SIEBENTEL. 9 STEMMEISEN. 10 PLEMPLEM. 11 REGA (Notruf: 1414). 12 TUER (franz. für töten). 13 ESSGERAET (Bratwurst). 15 TALENTE. 16 CORLEONE. 17 IT-EXPERTE. 24 BEIGABE. 26 TOENE(!). 28 Streichmusik ALDER. 30 HERTA (Hertha BSC). 34 NET (engl. für Netz, von unten: ten). SENKRECHT (J + Y = I): 1 Soll Widerspenstige von Staats wegen zähmen. 2 Wie man gefiederten Freund hinter Gittern oft nennt. 3 Vertraut endet empfangsbereit. 4 Ort von Wallensteins Mord, vor Ort. 5 Ihr Symbol: Kreis mit fusswärts zeigendem Cruz. 6 Fleckenentfernung bei Werk dieses Genres wär ein Vandalenakt. 7 Stilloses Argumentabklemmen 8 Gewebe für Culotte, auch Père von Charlotte. 9 Damit wird die Schlangenfrau ein Fall für die IV. 10 Das Gewässer lässt sich zum Landstreicher steigern. 11 Gepimpte Mayonnaise mit Grusswort am Schluss. 13 Basta, geht auch als Subkultur durch! 14 Hat zwei Extremitäten mehr als der herkömmliche Herr. 15 Erlebt – sein Benehmen grenzwertig! – den zweiten Lenz. 16 Lag rebellischem Fürst angeblich weiland zu Füssen. 17 Miete steigernder Lagebeschrieb. 22 Rapide 25 senkrecht am Tiber. 25 Rückwärts orientiertes Adverb, leicht patiniert. 29 Geht nach dem Auslaufen unter. 31 Macht Light less bright. 32 Lieferte den Soundtrack zur Terrorattacke. 36 Aargauer Gemeinde – passt, neu gerich- «DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung», der «Berner Zeitung» und von «Der Bund». HERAUSGEBERIN Tamedia AG, Werdstrasse 21, 8004 Zürich Verleger: Pietro Supino tet, ins Missgesicht. LASSEN SIE SICH NICHT VON IHRER BLASE KONTROLLIEREN. Jetzt kostenloses Muster online anfordern! www.TENAMEN.ch 44 DA S M AGA Z I N 17/201 5 REDAKTION Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 45 01 Telefax 044 248 44 87 E-Mail redaktion@dasmagazin.ch Chefredaktor: Finn Canonica Redaktion: Sacha Batthyany, Sven Behrisch, Daniel Binswanger, Anuschka Roshani Artdirektion: Michael Bader Bildredaktion: Frauke Schnoor, Christiane Ludena / Studio Andreas Wellnitz Berater: Andreas Wellnitz (Bild) Abschlussredaktion: Isolde Durchholz Redaktionelle Mitarbeit: Anja Bühlmann, Miklós Gimes, Max Küng, Trudy Müller-Bosshard, Paula Scheidt, Christian Seiler, Thomas Zaugg Honorar: Claire Wolfer VERLAG Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 41 11 Verlagsleiter: Walter Vontobel Lesermarkt: Bernt Maulaz (Leitung), Nicole Ehrat (Leitung Leserservice) Werbemarkt: Walter Vontobel (Leitung), Jean-Claude Plüss (Anzeigenleitung), Claudio Di Gaetano, Catherine Gujan (Gebietsverkaufsleitung), Michel Mariani (Agenturen), Katia Toletti (Romandie), Esther Martin-Cavegn (Verkaufsförderung) Werbemarktdisposition: Jasmin Koolen (Leitung), Selina Iten Anzeigen: Tamedia AG, ANZEIGEN-Service, Das Magazin, Postfach, 8021 Zürich Telefon Deutschschweiz 044 248 41 31 Telefon Westschweiz 044 248 52 72 anzeigen@dasmagazin.ch www.mytamedia.ch Trägertitel: «Tages-Anzeiger», Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich, Tel. 044 404 64 64, abo@tagesanzeiger.ch; «Berner Zeitung», Tel. 0844 844 466, abo@bernerzeitung.ch; «Basler Zeitung», Tel. 061 639 13 13, abo@baz.ch; «Der Bund», Tel. 0844 385 144, abo@derbund.ch Nachbestellung: redaktion@dasmagazin.ch Ombudsmann der Tamedia AG: Ignaz Staub, Postfach 837, CH-6330 Cham 1 ombudsmann.tamedia@bluewin.ch Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen der Tamedia AG i.S.v. 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Ich kann es immer noch nicht glauben. Wir lebten früher in einem sehr schönen Quartier von Damaskus. Ich betrieb einen BrautSchönheitssalon, mein Mann war Buchhalter eines Restaurants. Wir hatten ein wunderbares Leben. Bis wir inmitten der Kämpfe zwischen Rebellen und Assads Soldaten waren. Drei Tage waren wir im Haus gefangen, ohne Strom, Wasser, das Essen ging zu Ende. Ich fürchtete, dass wir verhungern. Während einer Gefechtspause am vierten Tag flohen wir, mit nichts als meiner Handtasche, den Pässen, Geld und einer Goldkette, einem Geschenk meiner Mutter. Wir mussten unsere da- mals vier Töchter retten, die eins, drei, fünf und sieben Jahre alt waren. Ich versuchte, meine Angst vor ihnen zu verbergen, aber sie schrien und weinten, weil sie spürten, was vorging. Ein Bus brachte uns für 3000 Franken hinter die Grenze, ins Kurdengebiet im Nordirak. Danach liefen wir vier Stunden, meine Schuhe blieben im Matsch stecken, und ich erreichte den Irak barfuss und zu Tode erschöpft. Wir waren unter den Ersten, die ein Zelt im Flüchtlingslager Domiz bekamen. Es war ein Chaos; heute leben hier 50 000 Menschen – es ist für die Hälfte ausgerichtet. Meine Kinder fragten ständig: Warum sind wir hier? Wann gehen Protokoll L ENA C OR N ER 46 wir nach Hause? Ich antwortete immer: Seid geduldig, bald. Jetzt, vier Jahre später, haben sie aufgehört zu fragen. Ihr Zuhause vergessen. Das macht mich sehr traurig. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich meine Kinder in einem Flüchtlingslager aufziehen werde. Niemals! Langsam wurden die Dinge besser. Ich verkaufte die Kette meiner Mutter an einen Juwelier in der nächsten Stadt, kaufte dafür Make-up und einen Föhn und zog einen Kosmetikservice auf, für Mädchen, die im Camp heiraten. Mein Mann schaute nach den Kindern. Nach ein paar Monaten konnten wir jemanden bezahlen, der uns ein Haus aus YtongSteinen baute und einen Salon daneben. Es ist klein – wir schlafen alle in einem Raum –, aber doch besser als ein Zelt und mit eigenem Aussen-WC. Anfangs wagte ich nicht, meine Kinder aus den Augen zu lassen, aus Angst vor Seuchen, vor der befahrenen Strasse beim Camp. Meine grösste Angst aber war, dass sie Analphabeten blieben. Zum Glück gibt es inzwischen eine Schule, wo meine Grösseren sechs Tage die Woche lernen dürfen. Und Begleitprogramme, damit die Kinder den seelischen Stress überwinden, dessen Langzeitfolgen mich bereits ängstigen. Dann wurde ich schwanger – keine gute Idee, unter unseren Umständen. Vor zehn Monaten bekam ich meine Kleine. Sie ist das einzig Gute, was aus all dem Schlimmen hervorgegangen ist. Mein Salon war der erste, ich hatte jede Menge zu tun, schnell 20 Brautkleider im Verleih. Jetzt gibt es mehr Salons, und es läuft schlechter, vielleicht muss ich bald verkaufen. Mein Mann versucht seit vier Monaten, in Deutschland, wo meine Eltern und Geschwister leben, Asyl für uns zu kriegen. Wieder erlebten meine Kinder eine Trennung. Seitdem fragen sie täglich: Wann kommt Papa wieder? Aber wir können nur warten. Es bricht einem das Herz, sein Zuhause verlassen zu müssen. In Syrien ist alles kaputt. Es wird lange dauern, bis wir zurückkehren können. So lange treibt mich die Sorge um, was es für sie bedeuten wird, in einem Flüchtlingscamp aufzuwachsen. Aber sie sind Kinder. Ich hoffe, sie werden das alles vergessen. erie S e i D bo im Aserie 5 nzz.c DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D: GUA R DI A N N E W S & M E DI A LT D 201 5 VIER JAHR E IM LEBEN h/ 70 Jahre Kriegsende. Die NZZ erinnert. Sieben Jahrzehnte sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zum Gedenken an dieses düstere Kapitel der Menschheitsgeschichte erscheinen in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 2. Mai bis 20. Juni jeden Samstag Artikel aus einer achtteiligen Serie: Ressortübergreifend beleuchten wir die wichtigsten Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln und geben den wenigen verbliebenen Zeitzeugen eine Stimme. Verfolgen Sie die Serie mit einem Probeabo der NZZ. <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2N7U0MAEAyU2tMw8AAAA=</wm> <wm>10CFWLqw4DMQwEv8jROtm92DWsjp0OVOUhVXH_H_XBCgaMNHMcpYYf1_2877dyOGljKsFSqvW5VWC2mCO3Ap0dros74DFSf4eR0QWsb2Mfdy6HKYxa2aO9Hs83I49RFXQAAAA=</wm>
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