EINE FAST WAHRE GESCHICHTE

MIT IVAN GLASENBERG,
CEO VON GLENCORE,
UNTERWEGS IN DEN
MINEN KOLUMBIENS,
S. 32
N ° 16 — 18. A PR I L 2015
BÜNZLIQUARTIER,
PROBLEMVIERTEL,
HIPSTERZONE.
SCHWAMENDINGEN
IM WANDEL DER ZEIT,
S. 20
EINE FA ST WA HR E
GESCHICHTE
Max Küngs Romandebüt über
die Liebe seines Lebens
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DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D C OV E R : Z I L L A L E U T EN E G GE R , P OL A R BE A R , 2007 ( V I DE O S T I L L). C OU RT E S Y G A L E R I E PE T E R K I L C H M A N N, Z Ü R IC H . BI L D E DI T OR I A L: RU T H E R D T
EDITOR IAL/INHALT
Manche Geschichten sind so schön,
dass man kaum glauben kann, sie nicht
in einem Roman gelesen zu haben
oder aus einem Film zu kennen. Umge­
kehrt geht das natürlich auch: Eine
Geschichte ereignet sich in der Wirklich­
keit, bevor sie Roman wird. Mein
Kollege Max Küng hat eine solche erlebt.
Nun hat er sie aufgeschrieben, und
daraus ist ein berührender, lustiger Ro­
man geworden, der davon erzählt,
wie ein Mann und eine Frau sich prak­
tisch im Rahmen einer künstlichen
Versuchsanordnung ineinander verlie­
ben. Lesen Sie den Auszug aus Max
Küngs Romanerstling in diesem Heft
ab Seite 10. Und wer sich nun fragt,
ob das alles wahr ist und sich tatsächlich
so zugetragen hat, der lese gleich
noch seine Kolumne auf Seite 9.
Schwamendingen eben. S. 20
gungen in den Kohleminen von Glen­
core in Kolumbien inspizierten. Sie
taten dies aus ehrenwerten Gründen,
landeten doch Ivan Glasenbergs
Steuer­millionen in ihren Gemeinden.
Die Ausgabe von «Reportagen» war
bereits gedruckt, als Glencore-Boss
Glasenberg beschloss, die Eindrücke
der Säuliämtler zu überprüfen und
zusammen mit ihnen hinzufahren.
Daniel Puntas Bernet ist der Mann
Daniel Puntas Bernet ist erneut mit­
hinter «Reportagen», diesem
gereist und hat für uns aufgeschrieben,
wunderbaren Magazin, das tut, was der was die ungewöhnliche Reisegruppe
Titel verspricht: Es publiziert aus­
vor Ort erlebt hat. Lesen Sie seine Re­
schliesslich Reportagen. In der neusten portage ab Seite 32.
Ausgabe schrieb Puntas Bernet über
Finn Canonica
eine Gruppe Rentner und Lehrer aus
dem Säuliamt, die die Arbeitsbedin­
S. 10
Wir kennen uns doch kaum. Von Max Küng
S. 20Die neue Mitte. Wird alles anders in Schwamendingen?
Von Miklós Gimes mit Bildern von Ruth Erdt
S. 32Macht Glencore schmutzige Geschäfte in Kolumbien?
Von Rocío und Daniel Puntas Bernet
3
DA S M AGA Z I N 16/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: NINA CAPR EZ
Sie steigt Wände hoch, die für andere zu schwierig sind.
Wettkämpfe allerdings sind nicht ihr Ding.
Von MICHAEL HUGENTOBLER
Sie tut, als wäre es nichts. Vielleicht ist es auch nichts. Zumindest für sie.
Die Treppe führt den Berg hoch. Es ist eine sehr alte Treppe, mit schiefen Stufen, und es riecht nach wildem Knoblauch.
«Die Bärlauchtreppe», sagte Nina Caprez, als wir vorhin unten auf dem Parkplatz standen und hier hochschauten. Wir verliessen den Parkplatz und traten zwischen die Baumstämme,
die aus Flechten violetter Blumen herauswuchsen. Der Weg
stieg an, die nackten Baumkronen warfen ein Netz aus Schatten auf den Boden, und Salamander raschelten im Laub. Jetzt
wippt Nina Caprez mit den Fussballen auf den Treppenstufen, als ginge ihr der Aufstieg zu langsam.
Sie verdient ihr Geld damit, Felswände emporzuklettern.
Darin ist sie eine der Besten der Welt. Kürzlich kam der Teaser
eines Films heraus, in dem sie am Berg Naranjo de Bulnes klebt,
der aussieht wie ein riesiger umgedrehter Blumentopf. Sie steigt
die glatte Wand empor, rutscht immer wieder ab. Wer solche
Filme nicht gewöhnt ist, kann fast nicht hinsehen.
Frau Caprez, warum tun Sie sich das an?
Sie dreht sich um und stemmt die Faust in die Hüfte. «Ich
tu mir überhaupt nichts an», sagt sie. Sie schaut nach unten zum
Walensee, hinter ihr glitzern schneebedeckte Bergspitzen,
Mürtschenstock, Glärnisch, Rautispitz. «Es macht mich einfach glücklich.» Sie senkt den Blick, betrachtet ihre Turnschuhe. Dann sagt sie nochmals: «Ein Antun ist es sicher nicht, eher
ein Urtrieb, und der beginnt schon bei kleinen Kindern, die
überall hochsteigen.» Im Klettern liege eine Reduktion aufs
Wesentliche, sagt sie, da seien keine Gedanken an unbezahlte
Rechnungen oder gestapeltes Geschirr im Spülbecken, da sei
nur der Gedanke an den nächsten Griff. «Das ist meine Freiheit», sagt sie.
Links der Treppe ist eine Metalltafel am Felsen festgeschraubt. Eingraviert steht, dieser Weg habe früher die Dörfer
Weesen und Amden verbunden und sei in Vergessenheit geraten, als man 1882 die Strasse baute. Wer heute hierherkommt,
will aber nicht nach Amden, sondern zur Wand am Ende der
Treppe. Nina Caprez geht die Stufen mühelos hoch, trotz ihres Rucksacks, in dem ein achtzig Meter langes Seil liegt, ein
Paar Kletterfinken, eine grosse Dose Magnesium, zusätzliche
Kleidung, ein Klettergurt, eine Flasche Wasser und ein Knoten roter, silberner und grüner Karabiner. Sie geht so beschwingt,
als bestünde ihr Körper zu einem Teil aus Helium.
Aufgewachsen ist Nina Caprez im Prättigau und hat mit 13
angefangen, Skitouren zu machen und Berge zu besteigen. Mit
17 kletterte sie, mit 19 war sie im Nationalteam und schaffte es
im selben Jahr am Weltcup ins Halbfinale, mit 20 gewann sie
den Schweizer Meistertitel. Dann sagte sie plötzlich, sie mache
nicht mehr mit, und zog nach Frankreich.
Sie sind Spitzensportlerin, nehmen aber nicht an Wettkämpfen
teil?
«Richtig.»
Warum denn?
«Das ist nicht mein Ding. Ich bin lieber draussen am Fels
als in einer Halle.»
Und damit kann man überleben?
«Anfangs schlug ich mich als Bardame durch.»
Und jetzt?
«Nun habe ich Sponsoren, die an dieselben Werte glauben wie ich. Vielleicht will ich auch nur beweisen, dass es noch
andere Wege gibt, um als Kletterprofi zu überleben.»
Und irgendwie misst sie sich doch: indem sie durch Wände steigt, die für andere zu schwierig sind. Sie war die erste Frau,
die den Delicatessen auf Korsika schaffte, Carnet d’adresse in
Grenoble, Dame Cookie, Ali Baba, es ist eine lange Liste.
Am Ende der Treppe legt sie den Rucksack zu Boden,
streckt den Arm aus und stützt sich mit einer Hand an einem
Baumstamm ab. Sie hat grosse Hände. Diese Hände passen
nicht zu ihrem Gesicht. Das Gesicht erinnert an Broschüren, wo
Menschen im Sand sitzen und Palmen aufs Meer hinauswachsen. Die Hände sind gross, mit seltsam abgerundeten Fingerkuppen, wie die Hände des Steinmetzen. Als sie sich hinsetzt
und Schuhe und Socken auszieht, sagt sie: «Das ist halt kein
besonders schöner Anblick», und unter den Socken kommen
rote Zehen zum Vorschein. Sie stülpt sich die Kletterschuhe
über, die zwei Nummern zu klein sind.
Das sieht schmerzhaft aus.
«Ist es auch», sagt sie.
Sie rollt das Seil aus dem Seilsack, steigt in den Klettergurt
und tastet mit den Fingerkuppen über den Fels. Er ist kühl und
trocken. «Anfangs, als ich noch als Bardame arbeitete, wusste ich nicht, wo das alles hinführt», sagt sie. Sie knipst den Magnesiumbeutel an den Klettergurt. «Da habe ich geübt, geübt,
geübt, jeden Tag.» Sie taucht die Hände in das Magnesium und
patscht die Handflächen zusammen. Eine weisse Wolke erscheint vor ihrem Gesicht. «Aber wenn man mal für etwas richtig kämpfen musste, lässt man nicht so schnell wieder davon
ab.» Sie streckt den Arm aus und tastet im Fels nach einem Vorsprung. «Seit etwa vier Jahren habe ich nun das Gefühl, dass ich
eine gute Kletterin bin.» Dann hievt sie sich hoch.
Ein paar Vögel zwitschern, sonst hört man nichts, ihre Bewegungen sind langsam. Es sieht aus wie Yoga in einer Felswand. Man hat das Gefühl, als gäbe es nichts auf der Welt, das
einfacher ist, als eine senkrechte Wand hochzuklettern.
Als sie am Seil wieder herunterschwebt, sagt sie: «Ah» und
lächelt, und dann sagt sie: «Ich gehe gleich nochmals.»
Ihr Atem ist ganz ruhig. Als wäre das alles nichts. Vielleicht
ist es auch nichts, zumindest für sie.
Nina Caprez auf einem ihrer senkrechten Spaziergänge in der Nähe des Walensees
Bild PAT R ICI A VON A H
7
HAZEL BRUGGER
BETROFFEN UND SO
Im Philosophiestudium (welches ich seit
zwei Jahren semi-erfolgreich abbreche)
haben wir unter anderem darüber geredet, wo der Mensch hingeht, wenn er
stirbt. Natürlich kamen wir zu keinem fixen Endresultat. Sonst könnte man mit
Philosophie ja richtig fett Kohle machen
und Stephan Klapproth würde in der
«Sternstunde» nur über Dinge reden,
die noch definierter wären als sein
Scheitel.
Als wir im Hörsaal übers Jenseits sprachen, war mir noch egal,
was mit mir einmal passiert. Jetzt
weiss ich: Wenn ich einmal tot
bin, dann will ich einfach auf keinen Fall zu Markus Lanz in die
Sendung. Ich will nicht, dass der
Lanz dann seinen widerlichen
Senf zu meiner Leiche gibt. Um
sie dann als würdeloses Würstchen zwischen zwei Werbepausen
zu verputzen, unter geschmacklosen Glitzertränen und dem Applaus des Publikums. Gut also,
dass ich vor drei Wochen nicht in
der Germanwings-Maschine sass,
die in den französischen Alpen
zerbarst.
Plötzlich waren sich alle sicher: Wenn hundertfünfzig Leute
bei einem Flugunfall ums Leben
kommen, dann betrifft das alle.
Dann ist der Tod nichts Privates
mehr, dann ist er perverse Faszination. Dann muss jedes Sprachrohr der Public Domain ganz schnell
Gebete formulieren, in Gedanken bei
den Angehörigen sein, und jedes Detail
zum Unfall sollte möglichst schnell kundgetan werden. Denn schliesslich haben
alle ergriffen zu sein, alle müssen trauern und ihre Betroffenheit auch kundtun.
Ein Unfall macht den ohnehin schon un-
vermeidlichen Tod noch viel tragischer,
und weil wir so unendlich froh sind, dass
nicht uns das Unheil passiert ist, fühlen
wir uns den Opfern gegenüber schuldig.
Wer in der Öffentlichkeit stirbt, wird
auch in der Öffentlichkeit zu Grabe getragen, keine Diskussion.
An Lesungen, die ich seit dem Absturz besuchte, wurden ganze Texte zum
Thema vorgetragen. Frei nach dem Mot-
to «Es ist nicht lustig, also ist es Hochkultur» wurde von Koffern erzählt, die
niemand abholte. Es wurde geklatscht
für pseudolyrisches Geschwafel über An­
gehörige, die sich in den Schlaf weinen,
und von «Betten, die für immer kalt bleiben» würden. Da seien schliesslich auch
Kinder an Bord gewesen. Kinder! Un-
schuldige, lebenslustige Kinder! Das Totschlagargument jeder «Das hätte aber
nicht sein sollen»-Diskussion. Zehn
Punkte für die Menschlichkeit, ein Halleluja im Namen des Mitgefühls, Standing Ovations en masse für die, die
nicht mehr selber stehen können. Igitt.
Igitt. Igittigitt.
Aber kann mir eine Person, die zu
Lebzeiten keinerlei Einfluss auf mich
hatte, als frisch Verstorbener tatsächlich irgendwas bedeuten?
Und wer müsste denn eigentlich
an Bord eines abgestürzten Flugzeugs sitzen, damit man nicht öffentlich betroffen wäre? Hundertfünfzig kettenrauchende, pädophile Steuerhinterzieher über
neunzig, die privat gern Tokio Hotel hören und ihren Abfall nicht
trennen?
Richtiges Trauern ist im Internet nun halt mal schwieriger
denn je. Ich weiss intimste Details
über verstorbene Leute, die sich
lebendig nie in mein Privatleben
verirrt hätten. Kann WhatsappNachrichten an Tote lesen, ohne
dass ich weiss, wie ihr Gesicht aussah. Kein Wunder, werden Vo­
yeurismus und Anteilnahme,
Gaffer und Betroffener unter diesen Umständen auch schon mal
verwechselt.
Wenn es für manche Leute
also ein Philosophiestudium ersetzt, über Unfalltote zu trauern, sollen
sie das ruhig tun. Und Sie, Herr Lanz,
tun Sie bitte nicht so, als würden Sie das
aus einem anderen Grund tun als dem,
dass Sie richtig fett Kohle machen wollen. Denn wäre Anteilnahme etwas
wirklich Altruistisches, würde sie ja Anteilgabe heissen.
Die Slampoetin H A Z EL BRUG GER schreibt hier im Wechsel mit Katja Früh.
Bild LU K A S WA S SM A N N
DA S M AGA Z I N 16/201 5 M A X KÜNG
«2310»
Liebe Leserin, lieber Leser,
also, es geht um dieses Buch, das ich geschrieben habe. Wenn
man ein Buch geschrieben hat, dann wird man schnell gefragt:
«Wovon handelt es? Worum geht es denn?» Nun, etwas, das
auf dreihundert Seiten stattfindet, in ein paar Worten zu sagen,
das ist nicht einfach – aber es ist auch nicht schwierig. Das Buch
handelt von einer Frau und einem Mann. Der Mann ging zu einer Vernissage. Die Mitbewohnerin des Mannes hatte ihn dort
hinbestellt. Sie wollte ihm jemanden vorstellen, der gerade in
der Stadt war: eine Frau, von der die Mitbewohnerin des Mannes glaubte, sie könnte ihm gefallen, sie würde zu ihm passen,
vielleicht, eventuell. Die Mitbewohnerin aber war kurzfristig
verhindert. Sie kam nicht. Niemand wurde dem Mann vorgestellt. Er trank allein ein Bier und ging wieder nach Hause. Eine
Weile später stolperte er über einen seltenen Vornamen. Ihren
Vornamen. Er stolperte darüber in einer E-Mail, die eine Einladung war für eine Kunstvernissage. Er schrieb ihr darauf eine
Mail, fragte sie, ob sie sie sei. Sie schrieb zurück: Ja, sie sei die,
die er meinte, die Bekannte seiner Mitbewohnerin. Er schrieb
ihr erneut. Sie antwortete. Er fand, sie hatte Humor. Er fand, sie
schrieb sehr schön. So ging es hin und her. Irgendwann fingen
sie an zu chatten.
Damals machten die Computer noch kratzenden Lärm,
wenn man sich ins Internet einwählte. Immer wieder mitten im
Chat brach die Leitung zusammen. Er schickte ihr selbst gebrannte CDs mit seiner Lieblingsmusik und gab sich sehr viel
Mühe bei der Gestaltung der Covers. Sie schickte ihm Zeichnungen von Haustieren, die sie nicht hatte. Er war viel unterwegs, und überall sah er Dinge, die er ihr schenken wollte: Er
kaufte sie und brachte Pakete auf die Post. Bei einem Juwelier
liess er zwei Ringe fertigen aus Silber, mit jeweils einem Namen
drauf: ihrem, seinem. Er schickte ihr den Ring, der seinen Namen trug. Sie streifte ihn manchmal auf den Finger, heimlich.
Sie war in einer festen Beziehung, seit Jahren. Es war kompliziert. Sie lebte in Berlin. Er in einer anderen Stadt. Tausend Kilometer lagen dazwischen. Nie sahen sie sich. Nie hörten sie
ihre Stimmen. Irgendwann tauschten sie ihre Handynummern
und fingen an, sich SMS zu schreiben. Es wurden recht viele
SMS. In einem Monat fast tausend Stück. So ging es lange. So
ging es ein Jahr und noch länger. Briefe. Pakete. SMS. Es kam
einiges zusammen.
Dann hatte der Mann beruflich in Berlin zu tun. Er nahm
ein Zimmer im Hotel Park Inn am Alexanderplatz, das damals
noch Hotel Forum hiess. Das Zimmer hatte die Nummer 2310,
der Blick ging auf den Fernsehturm. Er schickte ihr eine SMS:
«2310». Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür. Er öffnete. Da stand sie. Er bat sie herein. Es war für beide ein seltsa-
mer Moment. Was sollten sie tun? Sie schwiegen, hielten sich
an den Händen, mehr nicht. Er roch ihr Parfüm. Er hörte ihren
Atem. Sie waren wie gelähmt. Irgendwann sagte er: «Bitte geh
wieder. Wir fangen nochmals an.» Sie ging aus dem Zimmer. Er
schloss die Tür. Sie wartete einen Moment, vielleicht eine Minute. Eine Minute ist eine sehr lange Zeit, manchmal. Dann
klopfte sie nochmals, es klang genauso wie zuvor. Er öffnete
die Tür. «Komm herein», sagte er. Sie betrat das Zimmer, dann
küssten sie sich. Davon handelt das Buch.
Wenn man ein Buch geschrieben hat, dann wird man
schnell gefragt: «Ist es eine wahre Geschichte?» Und die Antwort ist: Ja, so ist es, es ist eine wahre Geschichte. Grösstenteils
wenigstens.
So wahr etwas sein kann, an das man sich erinnert, wenn
man es selbst erlebt hat.
M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin».
9
Über ein Jahr schreiben sie einander, Meta aus Berlin,
Moritz aus der Schweiz – ohne sich je gesehen und
gesprochen zu haben. Es ist die Liebesgeschichte unseres
Kolumnisten: erzählt in seinem ersten Roman.
Von Max Küng und
Bilder Zilla Leutenegger
10
DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D: Z I L L A L E U T EN E G GE R , P OL A R BE A R , 2007 ( V I DE O S T I L L). C OU RT E S Y G A L E R I E PE T E R K I L C H M A N N, Z Ü R IC H
W IR K ENNEN UNS
DOCH K AUM
Es war bereits wieder dunkel, als Moritz in der alten
Wurstfabrik ankam, um dort darüber nachzudenken,
ob eine Arbeit zu erledigen war, ob er einen Artikel
abliefern musste. Klumpen sass auf dem alten Ledersofa und spielte Mario Kart. Moritz liess sich neben
ihn auf das Sofa plumpsen, er nahm einen Schluck
aus Klumpens Bierdose, die auf dem Boden stand.
«Wie läuft das Rennen?», wollte Moritz wissen. «Ich
gewinne», sagte Klumpen, «wie immer. Musst du
noch arbeiten?» – «Keine Ahnung. Muss ich mir erst
überlegen. Und du?» – «Ich mach heut gar nichts
mehr. Mal abgesehen von Mario Kart natürlich.»
Eine Weile schwiegen sie, blickten in den Fernseher,
sahen Yoshi auf den von Mario gestreuten Bananen
sich im Kreise drehen, Klumpen fluchte. Sie sprachen
von dem gestrigen Abend, der Nacht, dem Morgen
und wie zerstört sie noch waren. Sie spielten, und irgendwann sagte Moritz: «Erinnerst du dich noch an
diesen Maler, ich weiss nicht mehr, wie er heisst,
diesen affigen Typen, der auch mal bei uns in der alten Wurstfabrik einziehen wollte.»
«Ratzenberger?»
«Hiess er so?»
«Weiss nicht mehr, kam mir nur eben in den
Sinn. Was ist mit ihm?»
«Ich war ja mal bei ihm im Atelier. Shit. Er malt
abstrakte Bilder, in Öl, mit Spachteln schmiert er
dann die Bilder zu Flächen und gibt den Arbeiten
dann hochtrabende Titel.»
«Wie denn?»
«Was?»
«Die Titel! Wie hiessen die Titel?»
«Oh, das weiss ich doch nicht mehr. Aber ich
weiss noch, wie er in seinem Atelier stand und mir
seine Arbeiten zeigte, er hatte echt noch eine Staffelei und so eine Palette, die man hält, indem man den
Daumen durch so ein Loch steckt, er gab voll den
Künstler durch, er machte voll einen auf, ich weiss
nicht, Picasso oder so.»
«Er malte wie Picasso?»
«Nein, ich meine, er malte total schlecht, aber
er machte einen auf Maler, vom Style her. Und die
Titel, es waren immer französische Titel, das weiss
ich noch, weil er sagte, dass heute alle englische Titel für die Arbeiten nähmen, er mache das anders,
englisch sei ihm zu Mainstream, und dann stand ich
vor so einem Bild, und er hatte gelbe Farbe mit dem
Spachtel in rote Farbe gestrichen, dann noch etwas
Blattgold drauf, meine Güte, es sah genau so aus, wie
man sich abstrakte Kunst vorstellen würde, würde
man sich abstrakte Kunst vorstellen, und dann sagte
er den Titel des Werkes, ich weiss nicht mehr, ‹La nuit
et le rêve de Madame Camembert› oder so was Gespreiztes. Aber seinetwegen hatte ich eine seltsame
Affäre. Oder nein, es war keine Affäre, es war ja ein
einmaliges Vergnügen. Ich hatte einen One-NightStand, der aber kein One-Night-Stand war, denn es
war Tag.»
«Ein One-Day-Stand!»
«Genau. Es war ein One-Afternoon-Stand. Ich
hab den Malermeister da beim Italiener getroffen, wo
wir auch schon waren, gleich hinter dem Bahnhof.»
«Ah, wo der Chef nach dem Essen immer mit
der Schnapsflasche auf dem Stuhl steht, um einzuschenken?» – «Ja, genau. Picasso winkte mich zu sich
an den Tisch, zwei Frauen sassen bei ihm, die eine
war seine Freundin, die andere eine Freundin der
Freundin. Ich fand, sie sah gut aus. Als sie zur Toilette
ging, wartete ich einen Moment, dann sagte ich, ich
müsse am Automaten Zigaretten holen. Der Automat
stand natürlich beim Eingang zu den Toiletten, und
als sie aus der Toilette kam, da steckte ich ihr einen
11
12
zurück ins Schlafzimmer und blätterte in einer Ausgabe von ‹auto, motor und sport›, die auf dem Nachttisch lag, trank den Prosecco leer, und nach einer
Weile kam sie zurück ins Schlafzimmer, zog den Bademantel wieder aus, sagte: ‹So, jetzt kümmere ich
mich wieder um dich.› Ich kann dir sagen, das war
sehr, sehr seltsam.»
«Wie lange ist das her?»
«Lange.»
«Und hast du sie je wiedergesehen?»
«Nie mehr.»
«Krass. Hab ich dir mal die Geschichte erzählt,
wie ich Railwayferien gemacht hab?»
Moritz schüttelte leicht den Kopf.
«Ich weiss gar nicht, ob es das noch gibt: Railway. Wir fuhren kreuz und quer durch Europa, mit
Harry hab ich das gemacht, der ist dann irgendwann
nach Barcelona, arbeitet für eine Bank, ziemlich heftig unterwegs, Koks und so, nun ja, wir fuhren in Europa rum, und in Paris nahmen wir den Zug nach
Avignon, weil wir nach Nizza wollten.»
«Okay.»
«Und wir in einem Sechserabteil mit zwei Norwegerinnen. Wir tranken Bier, französisches Bier –
Heineken?»
«Heineken ist kein französisches Bier, das ist
aus Holland. Kronenbourg ist französisch.»
«Egal. Wir alle ein bisschen blau. Und die Mädchen waren nicht wirklich schön, noch nicht mal
hübsch, aber wir waren damals jung und nicht wählerisch. Und sie haben auch kräftig mitgetrunken. Sie
waren lustig.»
«Bist du heute wählerisch?»
«Nein, aber damals noch weniger. Jetzt bin ich
wählerischer. Kann man das sagen?»
«Wählerischer?»
«Ja.»
«Man kann alles sagen, was man sagen kann.»
«Wählerischer. Gut. Die eine war ein bisschen
weniger hässlich als die andere und irgendwie sympathisch, und sie lachte über alle doofen Witze, und
irgendwann gingen wir vors Abteil, um auf dem Gang
zu rauchen, und sie sah mich so an und sagte dann:
‹Ride me.› Mich durchschiesst es heiss. Verdammt,
denke ich, so direkt sind die Norwegerinnen. Meine
wildesten Fantasien wurden wirklich Wirklichkeit.
‹Ride me.› Ich dachte noch: Wo? Auf der Zugtoilette? Und ich sehe sie so an und fasse ihr an den Busen,
und sie haut mir eine runter.»
«Und was war, äh, das Problem?»
«Na ja, sie hat nicht ‹Ride me› gesagt, sondern ‹Write
me›. Ich hab natürlich verstanden, was ich verstehen wollte. Sie wollte eine beschissene Brieffreundschaft.»
«Und hast du ihr dann mal geschrieben?»
«Nein, natürlich nicht. Vor allem war der Rest
der Zugfahrt irgendwie peinlich.»
«Ja, das kann ich verstehen.»
«Das Verstehen und sein Kind.»
Moritz holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. «Danke», sagte Klumpen, «noch ein Rennen?» – «Wie lange spielen wir eigentlich schon Mario Kart?» – «Seit du gekommen bist.» – «Nein, ich
meine: Wie viele Jahre spielen wir es schon?» – «Keine Ahnung. Lange schon. Mag mich nicht erinnern.
Tausend Jahre könnten es schon sein.» – «Wir haben
unsere Pubertät ausgedehnt, bis jetzt, und so langsam finde ich, dass sie zu Ende gehen sollte.» – «Und
was soll danach kommen?», fragte Klumpen, nahm
noch einen Schluck Bier und rülpste. Moritz sagte:
«Ich will nicht noch mit fünfzig in der Hafenbar
hocken, am selben Platz, denselben Schrott erzählen und den Mädchen nachgaffen. Schau dir Rainer
Zufall an: Sieht so unsere Zukunft aus?» – «Und was
wäre die Alternative?» – «Ich weiss nicht.» – «Willst
du so voll den Biederkeitstraum verwirklichen? Frau
heiraten? Familie gründen? Kinder machen? Sonntags in den Zoo? Wandern in den Bergen? Mal einen
Segelausflug mit Kumpels an der Ostsee machen und
Frau und Kind allein zu Hause lassen, damit ein dahergelaufener Idiot sich um sie kümmert, weil sie
sich langweilt? Ein Häuschen bauen? Katze oder
Hund zulegen oder beides?» – «Wenn, dann nur den
Hund, keine Katze. Katzen sind dumm. Und niemals
wandern in den Bergen.» – «Ganz schön grosse Fragen, die wir hier wälzen.» – «Ganz schön grosse Dinger, absolut.» Klumpen wedelte mit dem NintendoController vor Moritz’ Gesicht. «Lass uns lieber ein
bisschen Mario Kart spielen. Kleines Rennen gefällig? ‹Special Cup›?» DA S M AGA Z I N 16/201 5 Zettel zu mit meiner Adresse, und ich sagte ihr, dass
ich gern mit ihr schlafen würde. Du musst dir vorstellen, da gab es noch keine Handys. Also Handys
gab es schon, aber niemand hatte eines, und sie waren noch gross wie Reisekoffer.»
«Ich erinnere mich.»
«Ich schrieb ihr also meine Adresse auf ein Stück
Papier. Zwei Tage später erhielt ich eine Postkarte.
Darauf stand ihre Adresse und ich solle dann und
dann vorbeikommen. An besagtem Tag um besagte
Zeit klingelte ich frisch geduscht an ihrer Tür. Ich
wusste, dass sie verheiratet war. Ihr Mann aber war
mit Freunden segeln. Das ganze Wochenende über.
Ich küsste sie sofort, aber sie machte sich los und
ging in die Küche, holte eine Flasche Champagner
oder Prosecco, ich weiss nicht mehr, aber ich mag
mich an die Gläser erinnern, es waren blaue Kelche,
ich dachte erst, sie komme da mit Blumenvasen, dabei hatte ich gar keine Blumen mitgebracht.»
«Was hast du ihr mitgebracht?»
«Nichts, nur mich selbst. Sie sagte dann, so ein
Gläschen Sekt zum Lockerwerden, das sei doch eine
tolle Idee. Also tranken wir, dann knutschten wir, und
wir zogen uns aus, und dann trieben wir es im Ehebett, und ich hatte total Schiss, dass irgendwo weit
weg kein Wind aufgekommen war, dass das Segelboot leck war, dass ihr Mann seinen Urlaub mit den
Kumpels abbrechen musste, weil ihm schlecht war,
eine Magenverstimmung, was weiss ich, dass er früher heimkäme, zur Tür herein, einfach so, man kennt
das ja aus dem Fernsehen, aus dem Kino, und dann
würde der Typ mich aus dem Fenster schmeissen.
Wir waren sicher im vierten Stock oder so. Ich wäre
tot. Hm. Aber es kam kein gehörnter Ehemann ins
Zimmer. Ja, und dann fing ein Kind an zu schreien.
Ich dachte: Wow, die haben aber dünne Wände hier.
Dann stand sie auf.»
«Wie hiess sie?»
«Keine Ahnung. Sie stand also auf und sagte irgendwas, sie müsse mal kurz schauen, zog den Bademantel über, ging aus dem Zimmer, und ich folgte
ihr, das Kindergeschrei wurde immer lauter, sie öffnete eine Türe zu einem Zimmer, und in dem Zimmer stand ein Babybett, und in dem Babybett lag ein
schreiendes Kind. Es schrie wie am Spiess. Wahnsinn, wie laut Babys schreien können. Sie sagte dann,
sie müsse dem Kleinen mal das Fläschchen geben,
ich solle im Schlafzimmer warten. Ich hatte echt
einen Schock. Darauf war ich nicht vorbereitet, davon
wusste ich nichts, dass sie ein Baby hat. Also ging ich
13
Der Sommer war noch nicht zu Ende, der Herbst
hatte noch nicht begonnen. Moritz schrieb Meta, er
wolle ihr ein Projekt vorschlagen. Sie würden sich in
einem Hotel treffen. Beide wären zur selben Zeit im
selben Hotel, aber in verschiedenen Zimmern, man
würde sich nicht sehen. Sie und er. Jeder würde für
sich tun, was er tun wollte.
Sie schrieb ihm, dass sie die Idee mochte. Es sollte aber, so regte sie an, ein grosses Hotel sein, ein
möglichst grosses Hotel, und sie müssten aufpassen,
dass sie sich nicht begegneten, in der Lobby, auf dem
Flur. Sich so nahe zu kommen, ohne sich zu treffen.
Es kam ihr vor wie eine superromantische Idee.
Und dann fügte sie eine andere Idee hinzu. Sie
schrieb: «Wir gehen ins Kino. Du in der kleinen Stadt,
ich in Berlin. Wir müssen einen Film suchen, der zur
selben Zeit in beiden Städten läuft. Lass uns einen
Film finden. Und Popcorn essen.»
Er schrieb zurück, dass sie dies unbedingt machen sollten. Und so taten sie es, eine Woche später.
Meta mailte ihm einen Scan des Berliner Kinoprogramms, und Moritz glich es mit jenem der kleinen
Stadt ab. Es fand sich kein Film, der exakt um dieselbe Zeit in beiden Städten anfing. Aber er fand einen
Film, der in Berlin bloss fünf Minuten früher begann.
Er schlug ihr den Film vor, und sie befand ihn für gut,
denn es war ja völlig egal, was für ein Film es wäre,
und an jenem Tag war er so früh wie noch nie vor Vorstellungsbeginn in einem Kino und sie ebenfalls. Er
schrieb ihr eine SMS.
«Habe Ticket gekauft. Hole jetzt Popcorn. Mit
Salz oder Zucker?»
Sie schrieb: «Mit beidem.»
«Gibt es nicht. Kaufe einmal süss, einmal salzig.
Dann misch ich es.»
14
«Hier nur alte Säcke im Kino. Ich glaube, die versprechen sich zu viel vom Titel.»
Der Zufall wollte es, dass der einzige Film, der
zur selben Zeit – beinahe wenigstens – in beiden
Städten lief, «Une Liaison Pornographique» war. Er
hatte deswegen Bedenken. Ja, er dachte tatsächlich,
das Wort «Porno» im Titel könne die eigentlich ultraromantische Idee des Kinogangs an zwei Orten zur
selben Zeit irgendwie beschmutzen, aber es war ihm
auch schnell klar, dass es sich – entgegen der klaren
Ansage des Titels – nicht um einen Pornofilm handelte, so gar nicht.
Im Kinosaal in der kleinen Stadt war er fast allein. Ein junges Paar sass noch im Saal, weiter hinten,
die Platzwahl war frei, und er mochte es, vorn zu sitzen, denn er war gern nahe am Bild, er verstand nie,
warum die hinteren Plätze begehrter sind. Die Leute hinter ihm, die konnte er während der Vorführung
vergessen, die vor ihm nie. Am schlimmsten waren
die neben ihm. Und immer, immer hatte er Angst,
jemand setze sich direkt nebenan. Auch wenn der
Saal dunkel wurde, die Dia-Werbung schon lief, die
Filmwerbung, die Vorfilme, so blieb er angespannt,
dass doch noch jemand kommen könnte, im allerletzten Moment. Er wartete nur darauf, dass die Türe
wieder aufging, einen Spaltbreit, Gestalten hereinhuschten, Tickets in den Lichtstrahl der Taschenlampe des Platzanweisers hielten, um ihm die Platznummer zu zeigen, der Kinoangestellte genau bis zu
seiner Reihe ging, den Zuspätkommenden den Weg
leuchtete und der Lichtstrahl auf dem Sitz neben ihm
zum Ruhen kam. Immer hatte er diese Angst. Auch
dieses Mal. Die Türe jedoch ging nicht auf. Niemand
kam mehr. Er holte sein Mobiltelefon hervor und
schrieb. «Vorfilm.» Ihre Antwort kam prompt. «Ups.
Habe vergessen, auf lautlos zu stellen. Peino.» Er
schrieb: «Zum Glück sieht niemand, wenn du rot
wirst.»
Sie schrieben sich im Minutentakt Nachrichten.
Es war auch nicht so, dass der Film übermässig fesselnd war. Das Schreiben von SMS war für beide eine
gute Art, sich die Zeit zu vertreiben. Im Film ging es
um eine Frau und einen Mann, die sich via Inserat
kennenlernen, um miteinander in einem Hotelzimmer Sex zu haben. Treffen sich in einem Café, gehen
dann ins Hotel und dort durch einen gänzlich roten
Flur auf ihr Zimmer Nummer 118. Es geht um eine
spezielle Sache. Um welche sexuelle Fantasie es aber
ging, das sollte auch am Ende des Filmes ein Geheimnis bleiben.
«Franzosen lieben das Quatschen mehr als UgaUga machen», schrieb er ihr. Sie schrieb zurück: «Wir
hätten den James Bond sehen gehen sollen.»
«Schöner Satz: sehen gehen sollen.»
«Oder ‹Mission Impossible 2›.»
«Vielleicht finden wir heraus, in welchem Hotel
der Film gedreht wurde.»
«Machbar für Privatdetektivin Meta.»
«Vielleicht treffen wir uns dann dort, in Paris.»
«Und dann reden wir die ganze Zeit?»
«Ich glaub, mir fällt grad ein: Ich war noch nie in
Paris.»
«Ich hab dort gelebt. Eine Weile. Achtung!»
«Was Achtung?»
«Gleich stirbt einer?»
«Wer?»
«Wart.»
«Du verarschst mich doch.»
Die beiden Protagonisten im Film treffen sich
im Café bloss, um dann im Hotelzimmer ihren Spass
zu haben. Aber dann geschieht das Unvermeidbare,
das Unausweichliche: Als sie ihm gesteht, dass sie
ihn liebe, so liebe, wie sie zuvor noch nie jemanden
geliebt habe, und er zu weinen beginnt, weil sie sagte, dass sie mit ihm alt werden wolle, und er sagt, sie
werde ihn am Ende hassen, weil sie nach und nach
mehr Dinge an ihm entdecken werde, die sie stören,
da sagt er nach einem tiefen Blick in ihre Augen: «Wir
kennen uns doch kaum.» Und sie: «Man kennt sich
ja nie wirklich. Man kennt nicht mal sich selbst.
Warum also sollte man den anderen kennen?»
Moritz notierte sich den Dialog in Gedanken,
weil er fand, das seien nun mal ein paar gute Sätze
gewesen, die könnte er irgendwann später in seinem
Leben gebrauchen. Ein super Anmachspruch für alle
Fälle. Einfach eine Frau ansprechen, die dann sagt:
Wir kennen uns doch gar nicht. Antwort: Man kennt
sich ja selbst nicht. Warum also sollte man den anderen kennen? Topspruch. Spruch der Sprüche. Das
würde klappen. Dann sah er, dass ein Mann mit einem Trenchcoat das Kino verliess, etwas murmelnd.
Er schrieb ihr: «Ein Trenchcoat-Perverso ist gegangen. Und ich nicke bald ein.»
Sie schrieb zurück: «Schlaf gut. Im Kino schlafen
heisst, dem Film vertrauen. Wer hat das gesagt?»
«Keine Ahnung.»
«Godard.»
«Wow. Du hast aber aufgepasst in der Schule!»
«Willst du noch ein Deleuze-Zitat?»
«Wart. Ich hab dir auch ein Zitat.»
Und dann schrieb er ihr einen Satz aus dem Film,
etwas, was die weibliche Hauptdarstellerin eben gesagt hatte, als sie über Sex sprach mit ihrem Geliebten. «Im Film ist Sex entweder Katastrophe oder Paradies. Nie etwas dazwischen. Im Leben aber ist es
immer etwas dazwischen.»
«Ich bin da nicht ihrer Meinung.»
«Nein?»
«Nein mit drei Ausrufezeichen. Aber wir weichen ab.»
«Schade habe ich kein Buch mitgebracht. Ich
könnte gut etwas lesen.»
«Wäre es nicht zu dunkel, um zu lesen?»
«Man sollte nie ohne Taschenlampe aus dem
Haus.»
«Das nächste Mal doch James Bond.»
«James Bond würde niemals ohne Taschenlampe
ins Kino gehen!»
«Bei James Bond weiss man nie, wer am Ende
gewinnt.»
Als die Schauspieler gegen Ende des Filmes im
Bett lagen, postkoital unter weissen Laken, sie den
Kopf auf seiner Brust, da sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht:
«Ich habe Angst.»
Worauf er antwortete: «Ich habe auch Angst.»
«Was geschieht mit uns?»
«Ich weiss es nicht.»
«Ich muss nachdenken.»
«Ich auch.»
Bald darauf war der Film vorbei. Sie ging, noch
während der Abspann lief. Sie ging immer sofort,
weil sie nicht einsah, warum sie den Abspann lesen
sollte, wenn sie sofort wieder alle Namen vergass.
Als sie aus dem Kino kam, da war es draussen noch
15
#visitaustria
16
besten Freundin Annemarie in den Estrich des Schulhauses einbrach, fünfte Klasse, Primarschule. Sie war
Blutsschwester mit Annemarie, unter einem Haselbaum wurde die Blutsschwesternschaft feierlich beschworen. Mit einer Nähnadel stupften sie sich gegenseitig in die Zeigefingerspitzen, drückten Blutstropfen heraus, hielten die blutenden Spitzen ihrer
Finger aneinandergepresst, sahen sich in die Augen,
platzten fast vor Stolz, und noch viel später spürte
Meta ein dumpfes Pochen im Finger und betrachtete
den dunklen Fleck, wo das Blut aus ihrem Körper gekommen war, Tropfen bloss, aber doch ihr Blut. Annemarie und sie, sie und Annemarie, sie waren eins.
Irgendwann aber wurde Annemarie Fan des lokalen
Fussballclubs, dies sehr plötzlich, aber nicht grundlos, sondern eines Nachbarsjungen wegen, der Fussballfan war und sie in ihn verknallt. Dann war es vorbei mit der Blutsschwesternschaft, weil sie nur noch
den Fussballtrottel im Kopf hatte. Damals aber waren sie dickste Freundinnen, jede hatte den Blutsschwesternausweis in der Hosentasche stecken,
einen selbst gebastelten Ausweis mit je zwei Tropfen
Blut darauf, und als sie das Treppenhaus der Schule
hochschlichen, da war nicht mehr klar, ob es Metas
Idee gewesen war oder Annemaries. Die Estrichtüre
war nicht abgeschlossen. Sie war sonst immer abgeschlossen. Der Abwart musste es vergessen haben.
Oder Lehrer Handschuh, der nicht wirklich Handschuh hiess, schon lange im pädagogischen Business
war, aber seit ein paar Jahren nicht mehr das praktizierte, was er lange praktiziert hatte, nämlich Linkshänder auf Rechtshänder umzuprogrammieren. Das
Licht im Estrich, es war gedämpft. Ein hoher Raum.
Dachbalken. Es roch, wie es nur auf einem Estrich
riecht, nach Staub und Harz und Dingen, von denen
sie nichts wussten. Sie hielten sich an der Hand, und
ein Schauer ging über beider Rücken, als sie vor dem
Regal mit den Präparaten standen. Sie blickten in
tote Augen, in denen niemals Leben gewesen war, der
Mäusebussard hob seine Schwingen, seine krummen Krallen hielten eine Maus, den Kopf hatte er
leicht zur Seite gewendet, so als störe ihn gerade etwas beim Schlagen seiner Beute. Sie sahen den Staub
im Licht tanzen, das durch die Dachluke hereinfloss
wie Melasse. Dann hörten sie ein Geräusch, schnell
versteckten sie sich hinter einem Stapel alter Schulbänke, kauerten sich so tief, wie sie nur konnten,
spürten schon nach Sekunden den Krampf in den
Muskeln, und Meta wusste nicht, ob das ihr Herz war,
das sie so rasen hörte, oder Annemaries. Sie sahen
Manchmal will man
auch nur seine Ruhe.
Aber wer sagt, dass man
dabei alleine sein muss.
w w w. a u s t r i a . i n f o
DA S M AGA Z I N 16/201 5 hell. Aus dem Kino zu kommen und der Tag war noch
Tag und nicht Abend und schon gar nicht Nacht, das
war immer ein Erfolgserlebnis. Sie kam von der
Dunkelheit des Saales in die helle Stadt, die im Normalbetrieb funktionierte, und es würde eine Weile
dauern, bis sich ihre Augen an das Tageslicht gewöhnt
hätten, ja, sie war noch wie benommen, etwas taub,
als wäre ein Teil von ihr noch im dunklen Saal und in
einem anderen Zustand. Deshalb mochte sie Kino –
der Dunkelheit wegen, es ging ihr gar nicht so sehr
um die Filme. Die Filme waren nur ein Grund, aus
dem Alltag hinaus in die Dunkelheit zu schlüpfen,
für neunzig Minuten. Tagsüber ins Kino zu gehen war
für sie eine Bestätigung ihrer Freiheit, der Freiheit,
tun zu können, was sie wollte. Ja, sie fand, wer tagsüber ins Kino gehen kann, der muss ein freier Mensch
sein. Sie war eine Weile in Paris gewesen, ebenfalls
ein Atelierstipendium, es war zwei Jahre her wohl,
und in Paris ging sie jeden Tag ins Kino. Das war das
Allerbeste an Paris: dass die Kinos schon morgens
geöffnet waren. Einmal schaffte sie sechs Filme hintereinander. Morgens um zehn nach neun ein Ozon,
um Punkt zwölf ein Angelopoulos (bei dem sie tatsächlich einschlief, was irgendwie gut zum Titel des
Filmes passte: «Die Ewigkeit und ein Tag»), um drei
ein Rohmer, um sieben ein Assayas und danach noch
zwei andere.
Sie ging noch eine Weile durchs Quartier und trug
das Geheimnis mit sich herum, dass sie mit einem
Mann im Kino gewesen war, den sie noch nie gesehen und noch nie getroffen hatte, noch nicht einmal
gesprochen hatte sie mit ihm, sie wusste nicht, wie
seine Stimme klang. Sie mochte das Geheimnis. Sie
hatte mehrere Leben. Aber sie hatte auch Mühe, jetzt
wieder einfach so in ihren Berliner Alltag zurückzukehren. Sie hatte, je länger es mit ihnen beiden ging,
immer mehr Mühe, den Schalter einfach wieder umzulegen. Georg wäre sicher noch bei der Arbeit und
weder telefonisch noch per Mail noch per SMS noch
sonstwie erreichbar. Er baute sicher aus grauem Karton ein Modell eines Hauses, das niemals gebaut würde, baute an einer Zukunft, die nicht sein würde, die
niemals stattfinden würde. Und Paul wollte sie nicht
sehen. Ihr Nokia piepste. Es waren acht helle Piepstöne: drei kurz, zwei lang, drei kurz. Im Morsealphabet heisst das SMS. «War schön mit dir im Kino. Lass
es uns wieder tun.» Sie schrieb zurück: «Ja. Gern.
Immer. Überall. Alles.» Das Geheimnis, das sie durch
die Stadt trug, jetzt nach dem Kino, das sie lächeln
liess, es war ein Gefühl wie damals, als sie mit ihrer
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gebührenfrei unter 00800 400 200 00.
lange, bis sie das Gemälde genug koloriert hatte, das
in ihr entstand und zeigte, wie sie ihren Eltern erklären musste, was sie an einem schulfreien Nachmittag in einem verschlossenen Estrich der Schule zu
suchen hatte, wie sie in Gottes Namen überhaupt dort
reingekommen war, wo die Türe doch verschlossen
war, und welche Strafe es dann geben würde. Und so
schaffte sie den Sprung auf das Dach der Turnhalle,
geduckt gingen die beiden zum Rand des Daches.
Leider war es dann gar nicht so einfach, von der Turnhalle hinunterzukommen, auch nicht über das Dach
des Häuschens, wo die Velos eingestellt waren und
die frisierten Mofas. Und beim Hinunterspringen verknackste sich Meta den Knöchel, und noch Tage später erinnerte sie der Schmerz an das Gefühl der Gefahr auf dem Estrich der Schule. Sie mochte dieses
Gefühl. Ja, sie hatte Blut geleckt. Sie wollte mehr davon. M A X K Ü NG L I E S T:
am 6. Mai in Basel, Parterre
7. Mai, St. Gallen, Palace
28. Mai, Luzern, Neubad
7. Juni, Bern, La Cappella
8. Juni, Zürich, Kaufleuten
11. Juni, Aarau, KiFF
M A X K Ü NG ist «Magazin»-Autor. Sein Romandebüt «Wir kennen uns doch kaum» erscheint am 24. April
im Rowohlt Verlag. max.kueng@dasmagazin.ch
Z I L L A L EU T EN EG GER ist Künstlerin und mit dem Autor verheiratet.
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DA S M AGA Z I N 16/201 5 Handschuh, er kam herein, ging auf einen Schrank
zu, schloss ihn auf. Sie konnten nicht sehen, was er
tat. Nahm er etwas heraus? Sie sahen nur, wie er den
Schrank wieder schloss, sich umdrehte und in ihre
Richtung blickte, als ob er etwas gehört hätte. Aber
er hatte nichts hören können, denn sie machten kein
Geräusch, und ihr Herz konnte er nicht schlagen hören, das wusste Meta, sosehr es auch schlug. Bloss
wenn jetzt eine Maus daherkäme, dann konnte sie
für nichts garantieren, dann würde sie losschreien
und kreischen und brüllen und … aber es kam keine
Maus. Handschuh drehte sich wieder um, ging zur
Türe und zog sie hinter sich zu. Sie hörten, wie er die
Türe mit dem Schlüssel abschloss. Annemarie fing an
zu weinen, und Meta suchte eine Lösung, und sie fand
sie, wenn sie auch in einem kleinen Fenster bestand,
durch das sie auf das Flachdach der angebauten Turnhalle gelangen konnten. Annemarie weigerte sich,
durch das Fenster zu klettern. Sie weigerte sich so
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Das Zürcher Quartier Schwamendingen ist eine landesweite Marke:
Bünzliquartier für die einen, Problemviertel für die anderen – und
von überall hört man die Autobahn. Jetzt soll sich alles ändern. Die
Fotografin Ruth Erdt hat die Entwicklung in Bildern festgehalten.
Text Miklós Gimes
20
DA S M AGA Z I N 16/201 5 DIE NEUE MITTE
Bild links: Kellnerin in der Ziegelhütte, dem neuen alten Treffpunkt des Quartiers.
Diese Seite: Abbruch einer Siedlung an der Altwiesenstrasse im Frühling 2014.
300 neue Wohnungen entstehen, «Grün wohnen. Urban leben», steht in der Broschüre.
Für eine 4,5-Zimmer-Wohnung, 130 Quadratmeter, zahlt man 3000 Franken.
21
Das Trainerhosen-Quartier
Ihre Freunde verstanden sie nicht, sagt Ruth Erdt. «Als würde
das Klischee ‹Schwamendingen› auf mich abfärben. Das Quartier, wo die Trämler wohnen. Freunde warfen mir vor, dass ich
mich verkrieche. Aber ich habe hier gefunden, was ich suchte.»
Wir sitzen in ihrem Atelier im ausgebauten Dachstock, es
ist kühl, Ruth Erdt trägt eine lange Wolljacke, man könnte tat-
Rund 10’000 Produkte,
selber hergestellt.
sächlich denken, sie hätte sich eingerichtet in einer eigenen
Welt, einmal traf ich sie an der Arbeit im Garten, bevor wir uns
an den Computer setzten. «Es gibt hier keinen Dresscode, die
Leute sind freier und wilder, es ist nicht alles abgeschliffen.
Zürich ist anstrengend», sagt Ruth Erdt nach einer Pause.
«Dauernd heisst es: Was bist du? Was machst du? Wie siehst
du aus? Schwamendingen ist wie eine Insel, wo man sich nicht
beobachtet fühlt, wie ein Pausenplatz ohne Aufsicht.» Früher
sei sie, ohne nachzudenken, im Trainer in die Migros gegangen, langsam ändere sich das, aber die Leute urteilten hier nicht
nach dem Aussehen oder dem Beruf. Vielleicht habe Schwamendingen seine Eigenheit bewahren können, vermutet Ruth
Erdt, weil sich in der Stadt das Klischee vom Bünzliquartier so
lange gehalten habe.
Natürlich gab es auch Phasen, da wurde ihr alles zu viel.
Nicht im Sommer, da habe sie ihre Freunde in ihren Garten locken können, Grillpartys, lange Nächte; aber im Winter sei ihr
Sozialleben eingeschlafen. Sie habe sich wie in einem Ghetto
gefühlt, mit all den Leuten, die hier gestrandet seien, mit der
Autobahn, dem rauchenden Kamin, später sei der Fluglärm
noch dazugekommen. Was haben die mit uns vor?, habe sie sich
gefragt. Manchmal dachte sie, dass es schön wäre, im Seefeld
oder am Klusplatz zu leben, in einer Wohnung mit Stukkaturdecke, wie einige ihrer Freunde. «Aber wenn ich ehrlich bin,
war mir das Ghetto lieber als das Angepasste.»
Doch dann habe sie gespürt, dass sich etwas verändert. Ungefähr zehn Jahre ist das her. Studenten-WGs hätten sich eingemietet, ein Zeichen, dass bald Häuser abgerissen würden.
Die ersten neuen Siedlungen seien gebaut worden, wer sich im
Zentrum keine Wohnung leisten konnte, suchte in Schwamendingen. «Jahrelang habe ich nach Leuten Ausschau gehalten,
mit denen ich Kaffee trinken kann, jetzt waren sie plötzlich da.»
Der Prozess der Gentrifizierung hatte begonnen.
Wo Zürich urban ist
Seit dem Abschluss der Fotoklasse an der ZHdK Ende der Neunzigerjahre arbeitet Ruth Erdt als Künstlerin und Fotografin.
Vor vier Jahren erhielt sie vom Tiefbauamt Zürich (Kunst im
öffentlichen Raum) den Auftrag, die Veränderungen im Quartier zu dokumentieren. 2006 war in einer Volksabstimmung
die «Einhausung» der Autobahn angenommen worden, der
Verkehr wird überdacht, auf dem Plan sieht man einen schmalen Park, der sich wie eine Schlange einen Kilometer lang durch
Schwamendingen windet, die Häuser an der Autobahn werden verschwinden, die Bewohner sollen umgesiedelt werden,
viele wissen nicht, wohin. Ruth Erdt fuhr mit dem Velo durchs
Quartier, sprach mit den Leuten, fotografierte. In einer Wohnung an der Autobahn traf sie eine alte Frau, sie sei eingezogen, als die A1 noch nicht unter dem Fenster durchbrauste,
ihre Kinder seien hier gross geworden. «Am Morgen und am
Abend sehe ich den Stau vom Sofa aus», sagte sie, aber Ruth
Erdt hatte das Gefühl, dass die alte Frau gern bleiben würde.
2017 soll mit der Einhausung begonnen werden, früher oder
später wird sie gehen müssen.
Ein Teil von Schwamendingen wird neu gebaut, Tausende
von Wohnungen, moderner, grösser, teurer, eine neue soziale
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<wm>10CFXLoQ4CQQxF0S_q5L1uO22pJOs2CLJ-zAbN_ysCDnHducfRPvDrvj_O_dkEzWQLpll7-dCYmJ2IkWEN0hT0G8qhMwt_h5ilOrC-RkChrRQr0VokSjW28b5eH9qG02F4AAAA</wm>
––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Was uns am Herzen liegt, das
machen wir selber. Zum Beispiel
unser Bifidus Joghurt, das wir
in einem unserer eigenen
Schweizer Betriebe herstellen.
DA S M AGA Z I N 16/201 5 Ruth Erdt war zweiundzwanzig, als ihre Tochter auf die Welt
kam. Sie hatte an der Zürcher Kunstgewerbeschule Grafik studiert und in besetzten Häusern gewohnt, doch als sie schwanger wurde, ist sie mit ihrem Mann in eine Genossenschaftswohnung nach Wollishofen gezogen, wo die Tramlinie sieben endet. Sie habe sich gefühlt wie ein eingesperrtes Tier, erzählt
Ruth Erdt. «Die Nachbarn beobachteten, was du auf dem Balkon machst, sie kontrollierten, wo du den Abfall hinbringst,
ob du den Waschplan einhältst.»
Ihre Rettung war ein altes, verwinkeltes Häuschen in
Schwamendingen, in der Nähe des Waldes, mit Garten. «Wir
bleiben da nicht lange», habe sie erst gedacht, Schwamendingen wirkte abweisend, eine Autobahn durchschneidet das
Quartier, über den Häusern schwebte der Rauch der Kehrichtverbrennung. Am Schwamendingerplatz hockten Penner, und
im Gasthaus Hirschen sassen seltsame Gestalten. Aber das
Quartier sei ein Freiraum gewesen, entdeckte sie. Man habe
mit allen reden können, «niemand interessierte, wie wir angezogen waren, wann wir ins Bett gingen, ob wir den Rasen
mähten». Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Ruth Erdt
wohnt immer noch hier.
Kurz vor dem Wegzug aus Wollishofen wurde auch ihr
Sohn geboren, die Kinder seien auf den Strassen Schwamendingens aufgewachsen oder im Wald. Ihre Tochter lebt jetzt als
Künstlerin in Berlin, der Sohn studiert an der ETH Architektur.
Schwamendingen habe verschiedene Gesichter, am Waldrand, wo Erdt wohnt, ist es fast ländlich, Richtung Oerlikon,
Auzelg sei der Ton rauer. «Die Einheimischen berichteten von
Jugendbanden, von Strassenzügen, die gegeneinander Krieg
führten», sagt Ruth Erdt. «Ich habe das nicht mehr erlebt.»
Aber im Jugendtreff hinter ihrem Haus, wo sie eine Zeit lang
als Betreuerin arbeitete, gab es Jugendliche, die harte Drogen
nahmen, Mädchen, die geschlagen wurden, Teenager, die mit
siebzehn Vater wurden.
Ihre Kinder gingen ins Gymnasium. Wobei ihre Tochter
erst in der Sekundarschule war. Dort gaben frühreife Mädchen
mit Absätzen und sexy Klamotten den Ton an, ihre Tochter,
eine Träumerin, sei noch nicht so weit gewesen, sagt Ruth Erdt.
Ihr Sohn behielt den Kontakt zu den alten Freunden, die eine
Lehre machten, als Schreiner oder Lastwagenmechaniker.
«Schwamendingen hat ihn geprägt, weil es anders ist, irgendwie haben die Jungs gespürt, dass ihr Quartier einen besonderen Ruf hat, ohne dass wir darüber geredet hätten. Mein Sohn
war stolz auf seine Herkunft, er trug einen Gürtel, auf dessen
Schnalle die Postleitzahl 8051 eingraviert war, und wenn er
mit seiner Hip-Hop-Band auftrat, klang es ein bisschen, als
käme er aus der Banlieue, ‹wir müssen hier kämpfen, haben
es nicht so einfach wie ihr, aber wir schaffen das›.»
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Mehr auf: www.vonuns-vonhier.ch
22
Schicht zieht ins Quartier. «Man merkt es beim Einkaufen»,
sagt Ruth Erdt, «wenn man plötzlich einem perfekt angezogenen Mann gegenübersteht. Wow, denkt man, was macht der
da? Der Druck nimmt zu, aber langsamer als in der Stadt», sagt
sie, «ein neues Lebensgefühl keimt vorsichtig auf, aber Schwamendingen ist zäh; eine Marke, die sich eine Weile halten wird.
Wir reden hier über kulturelle Nuancen – die konkrete Frage
ist, was mit denen geschieht, die rausmüssen, wenn hier die
Mieten steigen.»
Nicht weit von Ruth Erdts Hexenhäuschen steht seit ein
paar Jahren eine Siedlung der Wogeno, gute Zürcher Architektur, gebaut nach Minergie-Richtlinien. Alle paar Wochen
organisieren die Bewohner eine Bar, ein älterer Herr und seine
Frau erzählen mit dem Glas in der Hand, dass sie vierzig Jahre
in Hottingen gewohnt hätten, dem bürgerlichen Quartier mit
den schönen Wohnungen, dann wurde die Miete unbezahlbar.
Es gefalle ihnen hier, man finde schnell Anschluss. «Bis man in
Hottingen dazugehört, dauert es lange», sagt der Mann. «Ausser man ist Hausbesitzer. Oder Akademiker. Oder Mitglied ei-
ner Zunft.» Ruth Erdt erzählt von einem Künstler aus dem
Quartier, der jeden Tag im Migros-Restaurant am Schwamendingerplatz einkehre, er liebe die Anonymität des Ortes. Schwamendingen, sagt der Architekt Michael Eidenbenz, Oberassistent an der ETH, habe wahre Urbanität. «Weil verschiedene
Lebenswelten aufeinandertreffen, Wohnungen, Gewerbe, Natur. Zürichs Innenstadt», sagt er, «ist steril geworden.» Es sieht
aus, als habe die Stadt ihre Ränder entdeckt. Wo das Raue zu
Hause ist, das Unansehnliche.
Ruth Erdt hört zu, sie sagt wenig. Sie hat sich schön aufgemacht, sie hat einen eigenen Stil, ausserhalb der Trends. Sie
weiss, dass die Begeisterung für die neuen Quartiere am Stadtrand vielleicht der Anfang ist vom Ende. «Neue Urbanität?»,
sagt sie. «Wir sind hier alles andere als urban. Wir werden es
irgendwann vielleicht sein – noch aber sind wir vor allem ein
Geheimplatz.» Es wird sie auch weiterhin geben, die kleinen,
nicht normierten Freiheiten, das Einkaufen im Trainingsanzug. Aber eines Tages werden sie zum ästhetischen Zitat. Als
Erinnerung an Schwamendingen. Zwei beliebte Quartieranlässe: Die Schwamendinger Chilbi (Bild links) und die Jungtierschau
(diese Seite), an der jedes Jahr Züchter ihre Häsli, Schafe, Hühner und Vögel ausstellen,
dazu gibt es Bratwürste. «Frau Brigitte ist eine der Organisatorinnen, sie züchtet Kaninchen mit
Lampiohren.»
24
25
DA S M AGA Z I N 16/201 5 Oben: Eine der Sehenswürdigkeiten des Quartiers: die berühmte Waschanlage beim Auhof, 24 Stunden am Tag offen,
sieben Tage die Woche.
Unten: Hüttenkopfstrasse, ältester Teil Schwamendingens, einige Häuser sind aus dem 15. Jahrhundert. «An der Chilbi
kommt es gegen Mitternacht meistens zu Schlägereien beim Autoscooter. An diesem Abend treffen sich auch die
Heimwehschwamendinger, die für ein paar Stunden nach Hause kommen. Alle Vereine betreiben einen Stand: Die CVP
macht Raclette, die SP einen Sonntagsbraten, die SVP Käseschnitten. Der ornithologische Verein serviert Güggeli.»
Rechte Seite: «Schülerinnen am Ball der Sekundarschüler im Schulhaus Leutschenbach.»
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DA S M AGA Z I N 16/201 5 28
Links: Die Auhof-Badi, wo sich im Sommer alle treffen. «Jede Gruppe hat
ihren festen Platz. Die beiden Studenten posierten gerne. Sie sprachen Englisch.»
Diese Seite: Auch Hellboy wohnt im Quartier.
29
Ruth Erdts Bilder sind zu sehen in der Ausstellung «Lokaltermin Schwamendingen».
Bis 26. April in der Galerie Tenne und bis 10. Juli rund um den Schwamendingerplatz.
Mehr unter www.zuerich.ch/kioer
DA S M AGA Z I N 16/201 5 Oben: Wie sieht Schwamendingen aus? Genau so.
Unten: «An der Tulpenstrasse, nahe der Autobahn. Der Mann sah so zufrieden aus.»
Rechte Seite: Der Prime Tower von Kreis 12, gebaut in den Siebzigerjahren. Ruth Erdt:
«Ein Wahrzeichen des klassischen Schwamendingen.»
M I K L Ó S GI M E S ist Reporter des «Magazins»; miklos.gimes@dasmagazin.ch
Die Fotografin RU T H ER DT lebt in Schwamendingen; www.erdt.ch
30
31
BI L D: D OM I N IQU E RO T H EN
Macht Glencore
schmutzige
Geschäfte
in Kolumbien?
Eine Gruppe Rentner und Lehrer aus dem Säuliamt
will es wissen – und stellt Ivan Glasenberg,
den CEO des Rohstoffkonzerns Glencore, zur Rede.
Eine Tatortbegehung in Südamerika
Von Rocío und Daniel Puntas Bernet
«Mir tut es weh zu sehen, wie die Bevölkerung unter den Minen leidet»,
sagt Heiner Stolz (Dritter von links), 74, Rentner aus Obfelden ZH.
ders verachtenswertes Geschäftsgebaren. Gleichzeitig loben
Börsenexperten Glencores integriertes Geschäftsmodell.
Sieben Bewohner aus dem Säuliamt, einem bürgerlich geprägten Landstrich zwischen Zuger- und Zürichsee, wollten
es genauer wissen. 2012 musste der Glencore-CEO Ivan Glasenberg im Zuge der Fusion mit Xstrata und des anschliessenden Börsengangs seiner Wohngemeinde Rüschlikon im Kanton
Zürich 360 Millionen ausserordentliche Einkommenssteuer
entrichten. Dieses Geld floss über den kantonalen Finanzausgleich den einzelnen Gemeinden zu. Da witterten ein paar
Bürger die Chance, dem dubiosen Konzern endlich genauer
auf die Finger zu schauen. «An diesem Geld klebt das Leid von
Tausenden und die Zerstörung der Umwelt!», rief einer an der
Gemeindeversammlung von Hedingen. «Es ist dreckiges Geld,
wir wollen es nicht. Lasst es uns den Produktionsländern zurückgeben!»
Eine politisch unrealistische Forderung – aber die Saat für
etwas Verwegenes, Historisches. In der Folge sammelten Dutzende Bürger in den Gemeinden Hedingen, Obfelden, Hausen,
Affoltern am Albis, Kappel am Albis und Mettmenstetten Unterschriften. Die Idee: wenigstens zehn Prozent des Geldes
Hilfswerken zu spenden, die in den Produktionsländern Glencores aktiv sind – und damit ein Zeichen zu setzen. Tatsächlich: In den einzelnen Abstimmungen im Herbst 2013 sagten
die Stimmbürger von fünf der sechs Gemeinden Ja. Medien
weltweit berichteten über den Coup.
«Auf den Spuren von Glasenbergs Drecksgeld»
In der Euphorie der Stunde kam der Bewegung noch eine andere Idee. Im Zusammenhang mit Glencore war immer wieder von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien die Rede
gewesen, von Gewerkschaftern, die mit dem Tod bedroht wurden, von mit Kohlestaub vergifteter Umwelt, von vertriebenen
Dorfbewohnern. Warum sich nicht ein eigenes Urteil bilden?
Heiner Stolz rief auf zur «Tatortreise». Und Anfang Januar
2015 stiegen sieben Säuliämtler, drei Frauen und vier Männer
zwischen 56 und 74 Jahren, in den Flieger nach Guajira und
Cesar, dem Herz der kolumbianischen Steinkohleförderung.
«Auf den Spuren von Glasenbergs Drecksgeld», wie es zu
Hause am Stammtisch ein paar salopp formulierten.
Das erste Mal traurig und wütend wird Heiner Stolz am
dritten Reisetag – in Tamaquito, einem verlassenen Indianerdorf in der Nähe von El Cerrejón, der grössten Steinkohlemine Südamerikas, die zu je einem Drittel Glencore, BHP Billiton und Anglo American gehört. Sie ist mit 69 000 Hektaren
so gross wie Frankreichs zweitgrösstes Weinanbaugebiet, die
Rhône. Von der Aussichtsplattform sind die riesigen Krater,
welche über Jahrzehnte ausgehoben wurden, kaum zu überblicken. Hunderte von Baggern und Lastwagen wirken aus der
Ferne wie Spielzeuge in einem viel zu grossen Sandkasten. Sie
fördern jedes Jahr weit über 30 Millionen Tonnen Steinkohle,
welche grösstenteils nach Europa exportiert werden. Durch
die Förderung entsteht Kohlestaub, den der Wind in alle Himmelsrichtungen übers flache Land trägt. Er setzt sich, kaum
sichtbar, auf Pflanzen und auf Feldern fest, legt sich auf Flüsse und Seen, dringt in Häuser ein, in die Atemwege der Men-
schen. Das vielleicht Perfideste am Kohletagebau ist seine
vermeintliche Harmlosigkeit. Was ist schon etwas aufgewühlter Staub gegen das Reaktorunglück in Fukushima oder die
Hunderte von Millionen Liter Rohöl, die nach der Explosion
der Plattform «Deepwater Horizon» in den Golf von Mexiko
flossen?
Versiegte Flüsse, kranke Kinder
Nach Tamaquito kam der Staub schleichend, näherte sich vom
gegenüberliegenden Flussufer, vergiftete die dort liegenden
indigenen Gemeinden, eine nach der anderen. «Wir merkten
lange nichts davon», sagt Jairo Fuentes vom Stamme der
Wayúu, der hier zur Welt kam und dessen Nabelschnur hier
vergraben liegt. Er hat die Schweizer Gruppe nach einer holprigen Fahrt mit dem Jeep und einer kurzen Wanderung an den
früheren Ortskern geführt, ein lichtes Waldstück, auf dem
Holzreste, zwei Fussballtore, Steinformationen am Boden und
verwitterte Kochvorrichtungen vom einstigen Dorf­l eben zeugen. Jairo, dunkler Teint und schmale Augen, trägt ein weisses
Hemd, auf dem die farbigen Embleme der verschiedenen Clans
aufgestickt sind. Er spricht mit einer weichen Stimme, die im
Kontrast steht zu seinem stämmigen Körper. In der Hand hält
er den Holzstecken des Anführers. Bis vor Kurzem lebten hier
31 Familien, jagten und fischten, hielten Vieh und bauten Gemüse an, betrieben regen Handel mit den umliegenden afrokolumbianischen Gemeinden. Doch die Bagger der Mine El
Cerrejón rückten Tamaquito immer näher. Zum Staub, der die
einst kristallklaren Bäche und die unzähligen Heilpflanzen verschmutzte, die Lungen der Alten strapazierte, die Yuccapalmen vermodern und das Vieh verenden liess, kamen weitere
Probleme: Das Militär, die Polizei und das Minen-Sicherheitspersonal waren auf einmal omnipräsent, sie bauten Zäune,
privatisierten Wege. Wegen der Sprengungen in der Mine versiegten Flüsse und Quellen. Jagdgründe wurden beschnitten,
die Fischbestände gingen zurück, Kinder erkrankten häufiger. Die Wayúu hatten sich nie um Landtitel gekümmert und
beanspruchten lediglich Gewohnheitsrecht. Jetzt standen ihnen plötzlich Minenmanager gegenüber, die von Eigentumsrechten redeten. Als 2001 das benachbarte Tabaco von den
Behörden dem Erdboden gleichgemacht wurde, wussten die
Wayúu, dass ihre Tage gezählt waren. Sie hatten nicht nur die
Mine zum Feind, sondern auch den Staat. «Die Steuern und
Abgaben der Konzerne landen seit Jahr und Tag in den Taschen
der Politiker», sagt Jairo. «Warum sollten die sich auf unsere
Seite schlagen?»
Immerhin: Die Indianer erreichten einiges. Gemeinsam
mit dem Ältestenrat ging Jairo in die Offensive, beschloss die
freiwillige Umsiedlung und stellte einen langen Katalog von
Forderungen zusammen: eigene Landtitel, Kompensationszahlungen, eine ihrem Lebensstil angepasste Bauart der neuen
Häuser, genügend Weideland und Vieh, ein Wasseranschluss,
das uneingeschränkte Besuchsrecht ihrer heiligen Nabelschnur-Stätte und pro Familie eine Ziege – zum Opfern an die
Mutter Erde beim Verlassen der alten Heimat. «Man wollte
uns wie einen Fisch austrocknen, doch ein Fisch hat auch die
Eigenschaft, dass er sich schwer packen lässt», erzählt Jairo.
Silvia Berger, kaufmännische Angestellte: Ich will mich nicht
für ein Unternehmen schämen, das in meinem Land ansässig ist. Gerade weil wir nur einfache Bürger sind, haben wir
gegenüber Glencore Gewicht. Die Liste der kleinen Dinge,
die ich als Mutter, Berufs- und Hausfrau mit angezettelt
habe, ist lang: Mittagstisch, Pfarrsekretariat, Betreuung einer Alterssiedlung, Aktivitäten für bosnische Flüchtlingsfrauen, Mitgestaltung eines Verkehrskonzepts. Die Denkmäler hier zeigen überall Simón Bolívar, den grossen südamerikanischen Befreiungskämpfer. Wäre doch toll, wenn
dereinst Glencore-CEO Ivan Glasenberg danebenstünde.
DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D: BA S T I A N N U S S BAU M E R
Auf dem Höhepunkt der dreiwöchigen Reise spricht der 74-jährige Heiner Stolz aus Obfelden, Kanton Zürich, pensionierter
Zierfisch- und Weinhändler, schlank und trotz Gehstock rüstig, den einen Satz aus, dem kein Manager dieser Welt gewachsen ist: «Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nichts
gesehen, was mich gleichzeitig so traurig und wütend gemacht
hat wie die Situation in den Dörfern rund um Ihre Mine.»
Heiner Stolz sagt diesen Satz zu Mark McManus, dem CEO
der Glencore-Steinkohlemine Prodeco in Kolumbien, Australier, 25 Jahre jünger als Stolz und mit allen Wassern gewaschener Minenmanager. McManus, stämmiger Nacken, bulliger
Körper, Sommersprossen und kleine Hände, zeigt äusserlich
keine Regung. Vor seiner Tätigkeit in Kolumbien hat er schon
Steinkohle in Australien, Südafrika und Kanada aus dem Boden
geholt und dabei, wie er mit angelsächsischer Ironie zu sagen
pflegt, «die Drecksarbeit erledigt für die, die zu Hause gedankenlos den Lichtschalter betätigen».
Wenige Augenblicke zuvor hat McManus die siebenköpfige Schweizer Delegation im 17 Grad kalten und neonbeleuchteten Konferenzraum begrüsst, während draussen auf dem
Minengelände schon morgens um acht über 30 Grad und Sonnenschein herrschen. Seinen höflichen Einstiegsfloskeln hat
er ein charmantes «I already heard, you are very inquisitive»
angehängt. Es hätte ein gemütlicher Arbeitstag mit der Schweizer Bürgerbewegung werden sollen, die überwiegend aus Rentnern und Lehrern besteht.
McManus übergibt das Wort seinem Pressesprecher, der
nun die ökonomische Erfolgsgeschichte von Glencores Kohlemine in Kolumbien mit Powerpoint-Folien präsentiert: jährlich eine Produktion von 14 Millionen Tonnen Steinkohle, 6500
Beschäftigte und damit einer der grössten Arbeitgeber Kolumbiens, Bau eines 550 Millionen Dollar teuren Hafens an
der Karibikküste, damit die Kohle noch effizienter verschifft
werden kann und schneller nach Europa gelangt, Millionen, die
in Bildung und Entwicklungsprogramme für die Bevölkerung
investiert wurden, denn «Kohle ist endlich, und Glencore will
auch dann, wenn wir hier wieder gehen, positiv in Erinnerung
bleiben». Mit verschränkten Armen und abwesendem Blick
folgt McManus der Präsentation. Gut möglich, dass er an den
Satz von Heiner Stolz denkt und seine Erwiderung an die unerwartet aufsässigen Schweizer vorbereitet.
Wenn es um Glencore geht, den Zuger Rohstoffkonzern
und eines der grössten Schweizer Unternehmen, das mit Handel, Logistik und eigenen Minen eine global einzigartige Position im Rohstoffgeschäft aufgebaut hat, geht es immer auch
um die Frage nach der Wahrheit. Empörte werfen Glencore Arbeiterausbeutung, Umweltverschmutzung und Korruption in
politisch schwachen Staaten vor. Der börsennotierte Konzern,
der seinen Aktionären und der Öffentlichkeit Rechenschaft
über sein Handeln ablegen muss, hält dagegen, verweist auf
sein soziales und wirtschaftsförderndes Handeln in von Armut
geprägten Abbauländern. Der Konzern hat eine wechselvolle
Vergangenheit, die bis zu Marc Rich und seiner Umgehung des
UNO-Embargos gegen das südafrikanische Apartheidregime
zurückreicht. 2008 gipfelte sie im Schmähpreis «Public Eye
Award» am World Economic Forum (WEF) in Davos für beson-
Ivan Glasenberg (Bildmitte), CEO von Glencore: «Lassen sie uns doch zusammenarbeiten.»
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richten aus der Schweiz vor. Ein paar von ihnen sorgen mit ihren Sprüchen für gute Stimmung. Ohne die Diskussionen über
Menschenrechte und Minen könnte man meinen, hier habe
sich eine Touristengruppe in der Destination geirrt.
Die Säuliämtler brennen darauf, den Managern der Minen endlich persönlich gegenüberzutreten und sie mit dem Gesehenen
und Gehörten zu konfrontieren. Eine erste Gelegenheit dazu erhalten sie in der zu einem Drittel Glencore gehörenden Mine El
Cerrejón. Der Tag wird zu einer Lektion in Sachen Konzern-PR:
Powerpoints, unterlegt mit bewegendem Soundtrack, nicht enden wollende Reden über das Gute, das die Mine dank dem florierenden Geschäft dem Land und seinen Menschen schenkt,
aufgesetzte Herzlichkeit bei jeder Gelegenheit. Der Kommunikationsdirektor, seine beiden Assistentinnen, ein Arzt, ein Umsiedlungsexperte, ein Biologe und ein Personalverantwortlicher parieren abwechselnd die Fragen und Bedenken der
Schweizer: «Rückenschäden der Camioneure? Das ist ein gesellschaftliches Problem! Schauen Sie sich nur die vielen Übergewichtigen in den Strassen an!» – «Staublungen? Atemwegserkrankungen? Krebs? Unsere Kohle ist von so guter Qualität,
dass die Staubentwicklung extrem niedrig ist. Das Problem sind
die nicht geteerten Strassen. Ausserdem hat das mit dem Brauch
zu tun, ständig mit Holzkohle zu grillieren!» – «Bedrohung von
Gewerkschaften durch Paramilitärs in unserem Auftrag? Damit
wollen sich bloss ein paar Leute aufspielen!» – «Wieso wir keine Menschen der umgesiedelten Dörfer anstellen? Das wäre
eine soziale Diskriminierung gegenüber allen anderen!» – «Wir
hätten ganze Dörfer plattgewalzt? Die Leute haben zu viel García Márquez’ ‹Hundert Jahre Einsamkeit› gelesen!
Pia Holenstein, Lehrerin: Ja, ich will etwas bewegen, deshalb bin ich hier. Als erste SP-Frau in der von der SVP dominierten Schulbehörde in Affoltern am Albis lernte ich zu
politisieren. Befriedigender, als verwöhnte Mittelstandsjugendliche durch die Schule zu bringen, sind meine politischen Reisen. Ich war als Volontärin in Vietnam und als
Menschenrechtsbeobachterin in Palästina. Was die Probleme rund um die Minen anbelangt, so ist von der kolumbianischen Regierung offenbar nichts zu erwarten. Aber
Glencore ist ein Schweizer Unternehmen, also hat es sich
auch so zu verhalten!
3000 tote Gewerkschafter
Im Schatten zweier Bäume an einem Strassenrand in Barrancas, einer kleinen Stadt in unmittelbarer Nähe zur Mine El
Cerrejón, erzählen zwei Gewerkschaftsmitglieder, was ihnen
im Laufe der letzten Jahre widerfahren ist. Fredy Lozano sagt:
«Rund 1000 Mitarbeiter von der 14 000 Mann starken Belegschaft von El Cerrejón sind derzeit krank. Atemprobleme,
Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, Magenkrebs lauten die
häufigsten Diagnosen – und sie haben gemäss Ärzten alle mit
der Tätigkeit in der Mine zu tun. Ein weiteres Problem ist die
Gewalt: 3000 tote Gewerkschafter hatte Kolumbien in den letzten zwanzig Jahren zu verzeichnen. Wir werden mit dem Tod
bedroht, sobald wir mit dem Minenmanagement verhandeln.»
Fredy zückt sein Smartphone und zeigt uns eine Mail von vergangener Woche. Absender: Águilas Negras, Volksallianz für
ein Guajira ohne Guerillas und Gewerkschafter. Betreff: Todesstrafe.
Höhepunkt der Empörung
Heiner Stolz und seine Mitstreiter bleiben hartnäckig und lassen sich nicht so schnell abspeisen. Als sie die Schlusspredigt
des Kommunikationsdirektors über sich ergehen lassen, erreicht ihre Empörung den ersten Höhepunkt. Bevor es zum
Showdown mit Mark McManus kommt, steht eine sechsstündige Rumpelfahrt im engen Kleinbus in die Nachbarprovinz
Cesar bevor – und dort ein Besuch der Gemeinde El Hatillo.
DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D: D OM I N IQU E RO T H EN
Von aussen betrachtet, ist das neue Tamaquito ein gelungenes
Beispiel für eine erfolgreiche Umsiedlung. Schöne, grosse
Häuser für jede Familie, gebaut auf einer grosszügigen Lichtung. Die Bewohner kochen immer noch lieber auf der offenen
Feuerstelle und nicht in den neuen, modernen Küchen, und
nachts spannen sie ihre Hängematten unter dem freien Himmel auf, um im Traum mit den Ahnen zu reden. Im Gespräch
mit der Bevölkerung dominieren trotzdem Frust und Unmut:
Die Mango- und Zitronenbäume verdorren, das Trinkwasser
ist salzig, die Kinder leiden neuerdings unter Hautkrankheiten, die von der Mine El Cerrejón zugesicherten landwirtschaftlichen Aufbauprojekte funktionieren nicht. Jairo droht: «Wenn
sich die Lage nicht bald bessert, werden wir die Schienen des
über hundert Güterwagen langen Kohletransports an die Küste
blockieren.»
Die Schweizer Delegation kauft den Frauen farbige, von
Hand gestrickte Umhängetaschen ab und verspricht Jairo
Fuentes, Glencore die Nachricht zu überbringen. Im Kleinbus
geht es anderntags weiter zu den umgesiedelten Gemeinden
Roche und Las Casitas. Beides afrokolumbianische Bauerndörfer, welche der Kohlestaubbelastung weichen mussten. Die
Bewohner sind wütend auf die Minenbetreiber und reden sich
im Schatten von ein paar Bäumen gegenüber den Schweizern
in Rage. Abends, unter dem kühlenden Ventilator und begleitet
von der stets präsenten und meist ohrenbetäubenden Musik
lokaler Salsa- oder Merengue-Grössen, reden sich die sieben
Säuliämtler die Köpfe heiss, reflektieren bei einem Bier oder
einem Cocktail ihre Eindrücke. Die Empörung über das gesehene Unrecht nimmt mit jedem neuen Tag zu. Frühmorgens
zwängen sie sich in den Kleinbus, um über staubige Strassen
zum nächsten Dorf, zur nächsten Mine, zum nächsten Gewerkschaftstreffen zu fahren. Man teilt Mückenspray und Wasserflaschen, um der Hitze einigermassen zu trotzen, tauscht auf
Facebook Bilder aus, liest sich gegenseitig die neusten Nach-
Die Mine von Calenturitas – im Besitz des Schweizer Unternehmens Glencore.
Heiner Stolz, der Rentner aus dem Säuliamt, sagt: «Ich habe in meinem langen Leben noch
nichts gesehen, was mich gleichzeitig so traurig und wütend gemacht hat.»
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Christian Moser, Rentner: Wenn es nach mir gegangen
wäre, hätte ich sämtliche steuerlichen Mehreinnahmen
von Ivan Glasenberg den Rohstoffländern zurückgegeben.
Allerdings bezweifle ich, dass wir mit unserer Anwesenheit vor Ort etwas bewirken werden. Was ich nicht verstehe: Mit ihrer Portokasse liessen sich die Probleme hier in
kürzester Zeit aus der Welt schaffen – und es käme sie am
Ende günstiger als der weltweite Reputationsschaden.
Mark McManus war mir trotzdem sympathisch. Mit dem
könnte ich locker abends ein Bier trinken.
Es ist Sonntagnachmittag, 15 Uhr, 33 Grad Celsius, die Kraft der
Sonne lässt langsam nach. Das Fussballteam von El Hatillo
spielt sich ein, gleich trifft es auf die Mannschaft eines Nachbardorfes. Der Rasen ist ein staubiges Rechteck. Aus der Dorfbar
erklingen karibische Klänge, Zuschauer säumen den Spielfeldrand, schon gehts los. Das Fussballspiel ist eine willkommene
Abwechslung für die 120 Familien grosse, krisengebeutelte
Gemeinde, die demnächst auf Geheiss des Umweltministeriums wegen zu starker Luftverschmutzung dem Erdboden
gleichgemacht werden soll. Sehen wie man
gut aussieht
Cornelia Kaufholz geht mit der Mode Hand in Hand, oft ist
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sie ihr sogar einen Schritt voraus. Die begeisterte Fashionista hat ihr Hobby zum Beruf gemacht – und verbindet
ihre Modepassion mit einer anderen Faszination, dem
guten Sehen. «Gutes Aussehen und gut Sehen ist nicht
dasselbe, aber lässt sich wunderbar in Einklang bringen.» Die leidenschaftliche Augenoptikerin hat das Auge
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Heiner Stolz, Rentner: Mir tut es weh zu sehen, wie die Bevölkerung unter den Minen leidet. Ein Dorf umzusiedeln
ist offensichtlich ein Job, der weit schwieriger zu bewältigen ist, als Kohle aus dem Erdreich zu befördern. Trotzdem
bin ich der Meinung, dass eine Firma, die derart gigantische Gewinne an ihre Aktionäre ausschüttet, sich dem Verdacht aussetzt, nicht nur Rohstoffe, sondern auch Menschen auszubeuten.
Auswendig gelernte PR-Sätze
Montagmorgen, neun Uhr, Mark McManus bittet die Schweizer Delegation in den 17 Grad kalten Raum. Helme, Schutzbrillen und Westen für die anschliessende Minenbesichtigung liegen bereit, CEO McManus verteilt die Schuhe in den
richtigen Grössen persönlich. Ein Dutzend Kolumbianer betreten den Raum. Es sind ehemalige Kleinbauern, die dank
der Start-up-Hilfe von Glencore kleine Betriebe aufbauen
konnten: Abfallentsorgung, traditionelle Brotherstellung,
Fischzucht, Schnitzerei aus Kohle. Die Mikro-Unternehmer
wirken nervös, sagen Sätze, die sie offensichtlich vorher auswendig gelernt haben, der Pressesprecher souffliert bei Bedarf. McManus spürt, dass die Schweizer das Spektakel als
peinlich empfinden und sie nicht zu unterschätzen sind. Rhetorisch versiert erwidert er ihre Empörung: «Eine dreiwöchige Reise ins Minengebiet ist viel zu kurz, um die Komplexität
der Probleme zu verstehen. Auch ich war schockiert, als ich
das erste Mal nach Kolumbien gekommen bin und gesehen
habe, was alles schiefläuft.» Rohstoffe lägen nun einmal in oft
schwierigen Ländern, und Glencore scheue sich nicht, dorthin zu gehen. Ausserdem bezahle man in keinem anderen
Land der Welt so viele Steuern wie in Kolumbien. Doch das
Geld gehe in die falschen Taschen.
Mit der nötigen Portion Understatement zitiert McManus
eine staatliche Studie, wonach der Grad der Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit der Umsiedlung von El Hatillo auf
die verschiedenen Minen der Provinz Cesar und die behördlichen Stellen umgerechnet worden ist. Der Teil von Glencore
liegt bei 8,65 Prozent. McManus findet, ganz im Gegensatz zu
den El-Cerrejón-Verantwortlichen eine Woche zuvor, den richtigen Ton. Zum Schluss sagt er: «Glauben Sie mir, ich würde
gern diese Gemeinden richtig umsiedeln und endlich vorwärtsmachen. Doch wir können nicht einfach so Regierung spielen.»
Als der Bus vom Firmengelände wegfährt, stehen McManus und sein Team in der Tür des Firmeneingangs und schauen den Schweizern nach. Konnten wir sie überzeugen?, scheinen ihre Blicke zu fragen. Zumindest hat ihnen dieser Besuchstag den Wind etwas aus den Segeln genommen. Auf der Fahrt
zurück in die nahe Stadt wird kaum gesprochen, jeder ist in
seine Gedanken versunken. Die Wahrheit im Rohstoff­abbau
ist ein komplexes Gefüge.
Bastian Nussbaumer, Rentner: Meine Hauptwut gilt dem
kolumbianischen Staat. Natürlich hat Glencore in dieser
Grässlichkeitskette der Rohstoffförderung seinen Anteil,
doch ich würde behaupten, die meisten Manager meinen
tatsächlich, was sie sagen. So schieben sich am Ende alle
Beteiligten die Schuld gegenseitig zu. Ein klassisches Beispiel von Arbeitsteilung auf moralischer Ebene. Wie soll
sich ein Rohstoffhändler, der im Takt mit dem Kohle-Weltmarktpreis lebt, mit einem indigenen Bauern verstehen,
der mit den Ahnen redet?
Zurück in der Schweiz verfasst die Gruppe einen kritischen
Bericht an Glencore. Der Rohstoffkonzern reagiert prompt und
lädt die sieben Unermüdlichen an den Hauptsitz in Baar ZG
ein. Kurz nach Sitzungsbeginn betritt Ivan Glasenberg das Büro:
der Milliardär, dessen Nachsteuern die Tatortreise überhaupt
in Gang setzten. Dunkle Krawatte zu dunklem Anzug, weisses
Hemd mit den gestickten Initialen I. G. auf dem Ärmel­rand.
Glasenberg hat am Vortag die Arbeitsgruppe Schweiz Kolumbien (ASK) empfangen und ist noch ganz aufgewühlt: NGOs
bräuchten «bad news», um überhaupt Spendengelder zu erhalten. Seine Einladungen, mit ihm persönlich und vor Ort die
Probleme gemeinsam anzugehen, seien stets auf Ablehnung
gestossen. Dann stellt Glasenberg Glencore als wirtschaftlichen Entwicklungshelfer dar: «Glencore hat allein im Kongo
und in Sambia über neun Milliarden Dollar investiert – und
unterm Strich noch keinen einzigen verdient.» Dann geht er
nahtlos zur Kritik im Bericht über. Er verteidigt sein Team in
Kolumbien, hört aufmerksam zu, schüttelt den Kopf, will es
genauer und detaillierter wissen, sucht in den Gesichtern seiner Leute nach Erklärungen, verspricht, der Sache nachzugehen. Doch die Delegation bleibt hartnäckig. Nach zweieinhalb
Stunden Glasenbergs Überraschungsangriff: «Let’s fix this. Ich
lade Sie ein, mit mir nach Kolumbien zu reisen.»
Ortsbegehung mit dem CEO
Drei Wochen später, Ende März, erneut in Tamaquito. Jairo
Fuentes sitzt in der Mitte eines grossen Kreises, trägt dasselbe
bestickte Hemd wie beim ersten Treffen, die Hände ruhen auf
seinem Stock. Flankiert wird er von den Dorfoberen und einem Dutzend in farbige Gewänder gehüllten Bewohnern. Jairo
hält einen langen Monolog, vergleicht das Verhalten der ausländischen Minengesellschaften mit jenem der spanischen
Kolonialherren und zählt die Verfehlungen von El Cerrejón
einzeln auf. Ihm gegenüber: Ivan Glasenberg, weisses Polo­
shirt und dunkle Hose, schwarze Sonnenbrille, Kopfhörer, mit
denen er den Worten Jairos auf Englisch folgt.
Glasenberg hat sein Versprechen gehalten und ist, begleitet von seinem Nachhaltigkeitsteam aus Baar und seinen Kohlemanagern aus Australien und den USA, nach Kolumbien gereist. Mit dabei: Der Schweizer Botschaftsdelegierte für friedensfördernde Massnahmen sowie die 56-jährige Silvia Berger
aus Hedingen und der 71-jährige Bastian Nussbaumer aus
Hausen am Albis. Die beiden Säuliämtler liessen sich Glasenbergs Angebot nicht entgehen, begrüssten vor dem Gespräch
herzlich Jairo, der sich über das unerwartet rasche Wiederse-
hen freute. «Dass sich der Konzernchef der Probleme persönlich annimmt, ist schon mal ein grosser Erfolg für unsere Ini­
tiative. Jetzt wollen wir sehen, ob Glasenberg den Worten auch
Taten folgen lässt», sagt Silvia Berger.
Und auch die Arbeitsgruppe Schweiz Kolumbien gab sich
erstmals einen Ruck und hat sich der Reise kurzfristig angeschlossen. Mit gutem Grund: Am 20. April stellt die ASK in
Bern ihren Schattenbericht der Öffentlichkeit vor, den sie in
Kooperation mit der kolumbianischen NGO Pensamiento y
Acción Social (PAS) über Glencores angebliches Fehlverhalten in Kolumbien erstellt hat. Der Bericht klagt die Finanztransaktionen Glencores in Kolumbien an, die Umsiedlungspraxis, den Umgang mit Gewerkschaften und Umweltverschmutzungen. Ergänzt wird er durch eine ausführliche Stellungnahme Glencores, die jeden einzelnen Vorwurf relativiert
oder widerlegt.
Glasenberg hat einen schlechten Start. Auf der Busfahrt
nach Tamaquito nennt er den alten Ort ein armseliges Loch,
die Bewohner könnten El Cerrejón dankbar sein, dass sie nun
bessere Häuser, urbane Nähe und die Möglichkeit zur Bildung
für die Jungen hätten. Auf Jairos Erläuterungen, wieso man bei
der Umsiedlung unter mehreren Optionen ausgerechnet diesen wasserarmen Landstrich gewählt habe, meint er: «Sie haben den falschen Ort ausgesucht! Wenn ich das getan hätte,
müsste ich als Manager die Konsequenzen tragen.» Glasenbergs Verhalten verweist auf ein Grundproblem in diesem
Konflikt. Die Glencore-Manager können sich offenbar nicht
vorstellen, dass die ursprüngliche Lebensform der indigenen
Bevölkerung wertvoll war, dass Fortschritt und Bildung nicht
zwangsläufig Segen bedeuten. Bastian Nussbaumer hat in seiner beruflichen Karriere als Sozialpädagoge solche Züge bei
Machtmenschen oft beobachtet, er nennt es «dickfelliges Unbeteiligtsein». Glasenberg ist ein erfahrener Händler, aber auch
ein ausgesprochener Instinktmensch, mit einem Gefühl für
DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D: BA S T I A N N U S S BAU M E R
Hier lebt Yolima, eine der aktivsten Kämpferinnen für eine
geordnete und durchdachte Umsiedlung. Ihr rosafarbenes Top
und die passenden Crocs harmonieren mit der Fassade ihres
Hauses. Die 37-Jährige ist nicht mehr ganz schlank, trägt ein
herzhaftes Lachen und keine einzige Falte im Gesicht. Yolima
ist Hausfrau und war die beste Lastwagenfahrerin weit und
breit. Wie die meisten Kolumbianerinnen in ländlichen Gegenden wurde sie früh Mutter und, auch das ist häufiger der
Fall, vom Vater des Kindes bald verlassen. Sie begann als Putzfrau für die Glencore-Mine Prodeco zu arbeiten – und verliebte
sich erneut. «Als ich das erste Mal dieses Ungetüm von einem
Lastwagen voller Kohle sah, dessen Räder allein doppelt so
gross sind wie ein erwachsener Mensch, wollte ich ihn augenblicklich fahren!» Sie liess sich zur LKW-Fahrerin ausbilden,
ignorierte über Monate die despektierlichen Kommentare der
Männer. Yolima wurde immer besser, fuhr Zwölf-StundenSchichten ohne Pause und wurde von ihren 380 Kollegen gar
zum «Mineur des Jahres» gewählt.
Während Yolima Kohle transportierte, ging El Hatillo die
Luft aus. Zäune von neuen Minenkonzessionären umzingelten das Dorf in drei Himmelsrichtungen, und in der vierten versperrte eine gigantische Abräumhalde die Sicht. Der Fluss
musste umgeleitet werden, und das verbleibende Rinnsal war
ebenso verschmutzt wie die Fruchtbäume und die wenigen
noch verbliebenen Weideflächen. Kohlestaub überall. 2013
führte ein giftiger Cocktail aus Dürre, ausfallenden Ernten, verschmutztem Wasser und hoher Arbeitslosigkeit zu einer Hungerkrise.
Dass Yolima für eine der Firmen, die dafür mitverantwortlich sind, arbeitete, bereitete ihr keine Bauchschmerzen. Als
jedoch ihr Bruder ins Gefängnis musste, baute sie in einem unkonzentrierten Moment einen Unfall mit ihrem Lastwagen, und
der Job war weg. Seither engagiert sich Yolima erst recht für eine
rasche Umsiedlung, «denn die Ungewissheit, wann es wohin
geht, verbunden mit der schlechten Luft und den fehlenden
Jobs, schlägt uns aufs Gemüt». Trotzdem bleibt ihr grösster
Wunsch, «bald wieder auf einer dieser gigantischen Maschinen
sitzen zu dürfen».
Jairo Fuentes, Anführer des Wayúu-Stammes in Tamaquito: «Der Staub der Minen hat unser
Wasser verschmutzt, die Fischbestände gingen zurück, unsere Kinder erkrankten.»
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pragmatische Lösungen. Er verspricht sofortige Trinkwasserlieferungen mit Containern und beauftragt den anwesenden
El-Cerrejón-Chef, Tamaquito langfristig die Wasserversorgung zu garantieren.
Beim Nachtessen liefert Glasenberg einen Einblick ins globale Rohstoffgeschäft und wieso er Glencore als Wirtschaftsmotor sieht, überall dort, wo der Konzern Minen besitzt: «Rohstoffvorkommen haben per se keinen Wert. Das wollen die
NGOs partout nicht verstehen. Nehmen Sie Guinea. Das Land
sitzt auf den grössten Eisenerzreserven der Welt. Um das Erz zu
bergen, braucht Guinea 20 Milliarden Dollar, doch kein Investor ist heute bereit, dieses Risiko einzugehen», sagt der Konzernchef.
Rohstoffförderung bedeute fast immer wirtschaftliche
Prosperität. In der Provinz La Guajira zeichne die Kohleförderung El Cerrejóns für 55 Prozent des Bruttosozialprodukts verantwortlich, in Cesar würden die 6500 Glencore-Angestellten gemäss einer staatlichen Studie durch Sekundäreffekte für
insgesamt 40 000 Stellen sorgen. «Auf den Philippinen haben wir uns soeben von unserem Gold- und Kupferminenprojekt Tampakan getrennt. Die NGOs hätten uns wegen der damit verbundenen Zwangsumsiedlung von 5000 Menschen sowieso nur die Hölle heiss gemacht. Jetzt erledigen kleine
Mineure und ihre Warlords den Job – sicher nicht zum Vorteil
der Bevölkerung.»
Glasenberg – King of Coal
Glasenberg hat sein ganzes Leben als Rohstoffhändler gearbeitet und ist seit Anfang der Neunzigerjahre für die heutige
Glencore tätig. War Marc Rich, mit dem er zwei Jahre in Baar
zusammengearbeitet hat, der «King of Oil» (so der Titel der
Biografie von Daniel Ammann), so ist Glasenberg zweifellos
der King of Coal. Mit seinem sicheren Gespür, bei einem tiefen
Kohlepreis um die Jahrhundertwende in Australien, Südafrika und Kolumbien Kohleminen zeitgleich mit dem einsetzenden chinesischen Wirtschaftsboom zu kaufen, hat er Glencores
Aufstieg zum 60-Milliarden-Konzern massgeblich gestaltet.
Dass er sich dabei mehr für die nächste Geschäftsmöglichkeit
als beispielsweise für die indigene Kultur Kolumbiens interessiert, liegt auf der Hand.
Anderntags in der Provinz Cesar, den Minen von Prodeco:
Gloria und Rafael von der kolumbianischen NGO PAS, zwei
knapp dreissigjährige feurige Kämpfer für das Gute, hören
eine kurze Zeit den Ausführungen der Manager zu. Dann fällt
Gloria Glasenberg ins Wort und widerspricht: «Durch fehlendes Deklarieren Ihrer Firmenstruktur haben Sie 100 Millionen Dollar staatliche Abgaben unterschlagen!» Glasenberg
kontert: «Falsch: Unsere Verträge mit Kolumbien sind eindeutig. Steuern und Royalties wurden klar festgelegt, sonst
wären wir als Investoren gar nicht erst eingestiegen.» Die beiden liefern sich ein Wortgefecht erster Güte, mit starken Argumenten auf beiden Seiten, bis Glasenberg zum zweiten Mal
in diesen Wochen mit einer für Glencore-Verhältnisse überraschenden, unwiderstehlichen Offensive aufwartet: «Lassen
Sie uns doch zusammenarbeiten und die Umsiedlung von El
Hatillo gemeinsam über die Bühne bringen!» Im Bus sitzen
Gloria, Rafael und Glasenberg nebeneinander, tauschen Visitenkarten, die Stimmung ist gelöst. «Setzen Sie Ihr investiga-
tives Talent doch einmal anderweitig ein», fordert Glasenberg Gloria lachend heraus. «Wir sind bereits daran», zwinkert Gloria zurück, denn zu viele Abgaben ausländischer Firmen
würden in Bogotá versickern.
Nussbaumer und Berger sehen der Verbrüderung zwischen
Rohstoffkonzern und NGO zufrieden zu. Es war das erklärte
Ziel ihrer zweiten Reise, die Fronten abzubauen, die beiden
gegensätzlichen Interessengruppen zum Wohle der betroffenen Kolumbianer rund um die Minen zusammenzuführen.
Zum Abschluss der Reise besucht der Glencore-Tross El
Hatillo. Bereits seit dem ersten Besuch der Säuliämtler hat sich
einiges bewegt: Glencore hat die UNO zu Hilfe geholt und ein
neues Umsiedlungsteam auf die Beine gestellt. Jetzt beten Glasenberg und seine globalen Kohlemanager zusammen mit
rund fünfzig Dorfbewohnern auf dem Dorfplatz. Auch hier
hört er sich geduldig die Sorgen von verschiedenen Rednern
an, verspricht, die Sache zu priorisieren und mit den Chefs der
anderen involvierten Minenfirmen umgehend zu reden.
Glencore ist es gelungen, echtes Bemühen zu zeigen. Reingewaschen ist Glencore deshalb noch nicht: Die Kolumbianerin Gloria wird Glasenberg weiterhin auf die Füsse treten,
sollte er seine Versprechen nicht halten. Und die Säuli­ämtler,
die bereits im Mittelalter die Schweine über den Albis nach
Zürich trieben, wollen auch nächstes Jahr rund um Glencores
Minen nach dem Rechten sehen. Denn dass sich die Konzernspitze überhaupt in Bewegung setzte, ist letztlich den sieben
Unermüdlichen zu verdanken. Magazin-Leserinnen und –Leser können unter:
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CHR ISTIAN SEILER
«DEN FLUSSKREBSEN SPRECHEN DIE SCHWEIZER REICHLICH ZU»
Bei Montaigne stiess ich auf eine überzeugende Schilderung der
Schweizer Ernährungsmethoden. Der französische Edelmann
(1533–1592), dessen «Essais» zu den herausragenden Werken
des Späthumanismus zählen, charakterisiert nach einer Reise
in die Schweiz, was er als Essgewohnheiten der Schweizer wahrnahm. Philosoph, der er war, beförderte er jede dieser Beobachtungen sofort in den Rang einer Eigenschaft.
«Dem Braten pflegt man häufig Meerrettich und gekochte Birnen beizumischen», so Montaigne. «Den Flusskrebsen
sprechen die Schweizer reichlich zu; sie werden auf einer Platte serviert, die als Ausdruck ihrer besonderen Wertschätzung
stets zugedeckt ist. Sie bieten sich die Krebse gegenseitig an,
was sie bei kaum einem anderen Gericht tun. Das ganze Land
ist voll davon, und obwohl man sie täglich isst, bleiben sie allen ein Hochgenuss.»
Bewundernd beschreibt Montaigne, der zeit seines Lebens
im Périgord lebte, auch die Sparsamkeit der Schweizer, die zu
allen Mahlzeiten Holzteller benutzen, «selbst hölzerne Töpfe
und Pisspötte; und all das ist denkbar sauber und blank» – endlich, nehme ich erleichtert wahr, ein Klischee, das die Jahrhunderte überdauert hat. Aber auch jenes des wohlhabenden
Schweizers ist in den «Essais» schon angelegt. Denn die Benutzung besagten Holzgeschirrs erfolgt nicht etwa aus Armut, sondern «rein aus Gewohnheit, denn selbst wo man die Speisen
darauf serviert, benutzt man zum Trinken Silberbecher, von denen es eine schier unendliche Menge gibt».
Mich faszinieren an Montaignes Prosa nicht nur ihre Eleganz und die sprachliche Zeitgenossenschaft (die freilich auch
der Neuübersetzung von Hans Stilett geschuldet ist). Mir imponiert, wie der Philosoph die teilnehmende Beobachtung mit
grösster Selbstverständlichkeit zur Wahrheit erklärt: «An Le-
bensmitteln herrscht grosser Überfluss, namentlich an Fisch
und Fleisch. Die Esstische können die Fülle kaum fassen, zumindest war es bei unserem so» – dies ist die maximale Konzession, die Montaigne macht: die Andeutung, dass es auch
noch andere Esstische geben könnte.
Mit dem grössten Vergnügen würde ich dem Beispiel Montaignes folgen und ein paar Verallgemeinerungen über die
Schweizer Küche in Umlauf bringen. Zum Beispiel:
– Die Schweizer essen vor jeder Mahlzeit zu sauren Salat,
was mit ihrem Verhältnis zum Genuss korrespondiert.
– Manchmal schmelzen die Schweizer Käse, bis er flüssig ist,
und tunken diesen mit Brot so lange auf, bis sie in der Leibesmitte starke Schmerzen verspüren.
– Nach dem Essen gibt es Kaffee, dessen Säure jener des Salats entspricht.
– Zum Frühstück essen die Schweizer Weissbrot, dessen Rinde so knusprig ist, dass man nach dem Verzehr eines Stückes
Brot die Kleider wechseln muss, weil diese aussehen, als habe
es geschneit.
Stimmt natürlich alles nicht. Kann man so nicht sagen. Gilt
nur im Einzelfall. Nehme alles zurück. Entschuldigung. Exgüsi.
Montaigne, ach, ist natürlich nicht so eine Memme wie ich.
Nachdem er die Schweizer abgefrühstückt hat, widmet er sich
den Deutschen und kommt zu der markanten Erkenntnis, dass
sie die erprobtesten Trunkenbolde sind, die ihm je unterkamen. «Die Deutschen trachten eher danach, [den Wein] durch
die Kehle zu jagen als ihn auf der Zunge zergehen zu lassen,
und hiermit fahren sie wesentlich besser: Ihre Lust wird so auf
viel üppigere und schnellre Weise befriedigt.»
Diese Deutschen. Darauf können wir uns einigen.
Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch
Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K
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DA S M AGA Z I N 16/201 5 Montaigne, die Schweizer Küche und ein paar (natürlich unzulässige, aber lustige) Verallgemeinerungen
DA S M AGA Z I N 16/201 5 — BI L D: J A M E S BR I DL E: DRON E S H A D OW 007, L ON D ON, 2014. F O T O: J A M E S BR I DL E / B O OK T WO.ORG
Enttarnt vom Künstler James Bridle: Überwachungsdrohne über London
HANS ULR ICH OBR IST
DROHENDE DROHNEN
Alle reden von Drohnen. Dabei kann man sie in
der Regel weder sehen noch hören, wenn sie über
einem kreisen. Die Drohnen selbst dagegen können uns sehr gut sehen, sie fotografieren und filmen uns. Natürlich ist dieser Umstand auch
Künstlern nicht entgangen, allen voran dem Briten James Bridle, der eine veritable Drohnenkunst
schuf. Um zu zeigen, wie präsent die unbemannten Flugkörper im Luftraum sind, zeichnete er in
London, Istanbul, Washington, D.C. und São Paulo mit weissen Linien die Schatten von Drohnen
auf Strassen und Plätze. Das Erstaunen der
Passanten war gross, denn kaum einer hätte gedacht, wie riesig die meist militärischen Überwachungsdrohnen sind, die aus sehr luftiger Höhe
gestochen scharfe Bilder schiessen können. In Abwandlung eines berühmten Satzes von Paul Klee
könnte man bei Bridle sagen, dass er das Unsichtbare sichtbar macht. Doch nicht nur die Schatten,
auch die Schattenseiten der Flugzeuge zeigt er.
Auf seiner Seite Dronestagram liefert er Luftbilder
strategischer Ziele, die Militär und Geheimdienste mit Drohnenangriffen zerstörten.
Ursprünglich wurde die Drohne für militärische Zwecke entwickelt, doch schnell hat sie sich
auch für zivile Anwendungen empfohlen. Längst
sind sie handelsüblich geworden, Landwirte prüfen mit Drohnen ihre Saat, Bergretter suchen mit
ihrer Hilfe nach Vermissten, und der Versandhändler Amazon hat bereits angekündigt, in Zukunft seine Pakete mittels Drohnen in entlegenere Gebiete zu befördern. Bei so viel Verkehr in der
Luft muss man sich nicht nur über neue Vorfahrtsregeln Gedanken machen, sondern auch über eine
Art Drohnenführerschein. In der Schweiz gibt es
immerhin einen Entwurf dafür, in Italien ist er
schon seit vergangenem Jahr Vorschrift. Die Universität Genua hat daher auf ihrem Campus in Savona zusammen mit dem Alpenverein und dem
Zivilschutz den ersten universitären Drohnenkurs ins Leben gerufen. Wie beim Autoführerschein gibt es einen theoretischen und einen praktischen Teil, die gelernt und bestanden werden
müssen; zu den 14 Teilnehmern gehören neben
Ingenieurs- und Robotikstudenten sogar einige
Mitglieder eines Artillerieregiments. Die Kunst
und den Führerschein gibt es schon zum unbemannten Flugobjekt, fehlt also noch die entsprechende Wissenschaft; vor 30 Jahren begründete
der Schweizer Lucius Burckhardt die Spaziergangswissenschaft, Promenadologie genannt.
Nun warten wir alle auf die Drohnologie.
dronestagram.tumblr.com
H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London.
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TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D
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Die Kinderkrippe hat mich angerufen.
Das Baby. Es habe 38,5 Grad Fieber. Sie
wollen wissen, wann ich das Mädchen
ab­holen komme. Warum sie denn grade
mich anriefen, will ich wissen, warum
nicht meine Frau. Die sei auf Arbeit –
stimmt. Ich gehe zur Kinderkrippe und
suche nach dem Baby. Es ist das, welches
am lautesten schreit.
Zu Hause angekommen, biete ich
ihr Medizin, also Schokolade, an. Baby
schreit noch lauter. Nuggi? Sie schreit
jetzt 140 Dezibel. Gut, dann stelle ich
halt keine Fragen mehr. Was jetzt?, studiere ich. Frau anrufen. Baby schreit,
was muss ich machen? Frau: Gib Baby
ein Zäpfchen. Dann weist sie mich an,
wo ich diese finden kann und wie man
das Zäpfchen aufmacht.
Ich gehe zum kreischenden Baby.
Guck mal, Papi hat ein Zäpfchen in der
Hand. Baby hält für drei Sekunden inne.
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FR ENKEL
WO IST DAS MANDELÖL?
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WAS GRATISBLATTLESER EINSCHALTEN:
Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.
Und jetzt, erkläre ich ihm, jetzt muss ich
kurz überlegen. Denn Papi weiss gerade
nicht, wie weiter. Mein grösstes Problem:
Wo muss man das Zäpfchen reintun?
Nochmals Frau anrufen. Frau antwortet:
hinten, anal.
Oh, verfluchter Mist, denke ich. Aber
heute wollen wir versuchen, ein guter
Papi zu sein. Ich ziehe dem Baby die Kleider aus. Dabei fällt mir auf, dass die
Windel voll ist und dass es auf den Boden tropft. Ich hole eine Küchenrolle und
mache sauber. Dann lege ich das Baby
so hin, dass ich das Zäpfchen eigentlich
nur noch reinschieben müsste. Neues
Problem: Ich entdecke beim Mädchen
drei Löcher! Ich bin immer von zwei Löchern ausgegangen. Wo ist jetzt der richtige Eingang?
Nochmals Frau anrufen? Nein. Bei
Youtube nachschauen? Nein. Ich renne
zur Nachbarin hoch, zweifache Mutter.
Ihr Mann macht die Türe auf. Er hält ein
schreiendes Kind im Arm. In welches
Loch kommt das Zäpfchen? Ins dritte!
Und: mit Mandelöl einschmieren, dann
Einschub, dann Beine zuklappen, dann
in Seitenlage bringen.
Ich renne runter und rezitiere laut:
drittes Loch, drittes Loch, drittes Loch.
Unten: Baby hat auf Teppich gemacht
und winkt mir zu. Drittes Loch, sage ich
und wedle mit dem Zäpfchen. Aber wo ist
Mandelöl? Ich öffne den Badeschrank
und stöbere in den tausend Salben und
Döschen herum. Kein Mandelöl, nur Badeschaum. Geht Badeschaum auch? Wo
ist eigentlich das Baby? Ich folge einer
braunen Spur und finde das Kind vor dem
Fernseher im Schlafzimmer.
Baby ist ruhig. Teletubbies?, frage
ich vorsichtig? Dada. Schoggi? Dada.
Kein Zäpfchen, oder? Dada.
BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich.
HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff
WA AGRECHT (J + Y = I): 6 In Sachen Temporäraufenthalter ist er vom Fach. 14 Nach der sozialen Umgebung sucht Mann in Stockholm vergeblich. 18 Ihr Drumherum verursacht als Litter Schlittern. 19 Schickte die gattenmörderische Mutti über den Styx. 20 Ob Fis oder dies: gleiche Taste. 21 Rai 1 ist
auch Wasserstrasse. 22 Sieht, hier auf gut Deutsch, den Gotthard aus der Insektenperspektive. 23 Ab- für Ein- und Ausfuhr. 25 Sie und ihr Bruder hinterliessen Vogelfutter. 27 Bietet grosses Kino, rein breitformal. 29 Ist auf der Dessertkarte mit einer Chanteuse gepaart. 31 Bei der Platte auf dem Teller –
Hennen tuns nicht! – ein Ärgernis. 32 Bei englischem Kies zentrale Zahl. 33 Verkürzt gegen Lösegeld den Denkprozess. 35 Farbtupfer in Anderschs
Œuvre. 36 Worauf Cinderella-Stepsister wegen Heiratsaussichten verzichtete. 37 Ist mengenmässig kaum messbar – im Kreativprozess fruchtbar.
38 Thüringer Stadt – würde halbwegs gewendet zur Emotion. 39 Kopflose Briten sind Kult. 40 Austriafluss und -stadt, die höheren Ortes Tätiger in sich
hat. 41 Schwächezeichen – wird zur Walliser Sippe samt Kind vom Rind. 42 Stichhaltiger Grund fürs Badelatschentragen. 43 Das Wappentier der
zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz).
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23 (Schiffs-)EIGNERIN. 26 LENZING (März). 28 INGE im Zw-inge-r. 29 ÁLVARO Bautista (Motorradrennfahrer). 30 FUNKY. 31 TIERGAERTEN.
35 TUMULT. 38 ASMARA (Hptst. von Eritrea). 39 aussen HUI, innen pfui. 40 SPUND. 41 NORD(-licht). 42 EIRE, Anagramm: Eier. 43 John BRACK
(Barack). 44 (eben-)ERDIG. 45 NULLEN (00 = WC). 46 NUER (Südsudan).
SENKRECHT (J + Y = I): 1 JOBAGENTUR. 2 WEGLEITUNG. 3 ANHAENGSEL. 4 METT (-wurst, Hackepeter). 5 ZIGI. 6 SCHALUPPE. 7 NAMENKUNDE. 8 FLAGGE (Fahne). 9 TRAGE. 10 RUBEL in T-rubel. 11 SINNREICH. 13 Matteo RENZI (Ministerpräsident Italiens, vorher Bürgermeister
von Florenz). 14 ENG(-herzig). 15 DREIRAD. 16 ORIGAMI. 17 den letzten NERV rauben. 24 NARREN. 25 JANUAR (Janus). 27 NYLON. 32 EARN
(engl. für verdienen). 33 TABU. 34 Feld der EHRE. 36 MDI (= 1501). 37 TRUE (engl. für wahr, [Trygve] Lie/lie = Lüge).
Rückgratzeigenverweigerer
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Komplettiert ihn, der im päpstlichen Auftrag an die Decke ging. 2 Auf seiner Protagonistenliste: ein Grautier, das des Öftern
den Schwanz verliert. 3 Lockruf für Nahrungsmittel spendende Paarhufer. 4 Noch nicht reformiertes Kraxeltier mit integriertem Krabbeltier. 5 Ergibt
hinterm Freudenhaus eine schmackhafte Waffel. 6 Genussmitteldose – lebensrettend für Friedrich den Grossen. 7 Bietet nicht nur sensibler Südfrucht
Zuflucht. 8 Wegen Schneewittchen musste jeder Wicht auf ein Stückchen hievon verzichten. 9 Von ungebetenen Gästen zweckentfremdetes Instrument.
10 Nachhallig irre, genau wie gaga. 11 Wird durch zwei mal sieben, repetiert, alarmiert. 12 Führt ins Haus – wo dieses Maison, zum finalen Aus. 13 Für
eine St. Galler Spezialität braucht es kein ... 15 Alte Massemasse, können was. 16 Von Puzo erfundene Familienbande. 17 Jüngerer Zugang im Berufsbilderbuch – gesucht. 24 Wurde, was sie ist, durch Dazutun. 26 Schallereignisse – lassen sich als Ukas an die Friseuse verstehen. 28 Die Sippe landete mit
Bligg den «Volksmusigg»-Hit. 30 Für einen Berliner Sportverein ist die Dame buchstäblich unterqualifiziert. 34 Das Fanggerät lässt sich andersrum an
«DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage
des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung»,
der «Berner Zeitung» und von «Der Bund».
HERAUSGEBERIN
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Verleger: Pietro Supino
zwei Hands abzählen.
WenN Tiere selber richten könNten,
würde Tierquälerei
härter bestraft werden.
Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) kämpft für tiergerechte Gesetze und ihren konsequenten Vollzug. Unterstützen auch Sie uns dabei mit Ihrer Spende: Postkonto
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DA S M AGA Z I N 16/201 5 Ruf Lanz
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Oberland Medien AG, Zürcher Regionalzeitungen AG
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Schauspieler MA X HUBACHER, 21, fand mit dreizehn sein Ziel.
Ich war dreizehn und stand zum ersten
Mal auf der Bühne, vor rund tausend Zuschauern. Ich erinnere mich noch gut an
die vielen Glatzen im Publikum im Schauspielhaus Zürich, sie reflektierten das
Scheinwerferlicht, und ich dachte: Das
sind sicher alles Kritiker. Die wenigsten
Zuschauer konnte ich erkennen, weil die
Lichtkegel so blendeten, aber man spürte
ihre Anwesenheit. Das ist ein geiles Gefühl, man steht da und muss was bieten.
Der «Liebestraum» von Robert Walser
war das erste Theaterstück, in dem ich
mitspielte. Ich war damals mitten in der
Pubertät, ein anstrengender Rotzlöffel.
Ich hasste die Schule, war unglücklich,
interessierte mich für kaum etwas und
wusste nicht, wohin mit der Energie. Als
ich zum Jugendclub des Schlachthaus
Theaters Bern stiess, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, am
richtigen Ort zu sein. Man durfte seiner
Fantasie freien Lauf lassen und die
schrägsten Vorstellungen und Ideen auf
die Bühne bringen: weg von der Intoleranz, weg von den Schranken des Alltags.
Ich spielte im «Liebestraum» Paul,
einen Jungen, dessen Bruder seinen
Selbstmord inszeniert, um die Aufmerksamkeit seiner Eltern für sich zu gewinnen.
Ich glaube, ich habe das Stück damals vielleicht nicht ganz verstanden,
aber ich wusste doch im Grossen und
Ganzen, worum es ging. Dreissig Minuten war ich insgesamt auf der Bühne.
In der Szene, in der ich meinen regungslosen Bruder im Teich finde, durfte
ich laut «Hilfe! Hilfe!» brüllen, und das
war ganz in meinem Sinne. Denn mit den
ruhigen Momenten hatte ich eher Mühe.
Nach der Generalprobe sprang ich vor
lauter Aufgedrehtheit – obwohl es Winter war – in den Zürichsee, danach hatte
ich eine Bronchitis. Heute wundere ich
mich, welche Geduld der Regisseur
Thomas Koerfer damals mit mir hatte.
Nach der Premiere sagte meine
Mutter, die sehr stolz auf mich war: «Du
bist echt selber schuld, dass du die ganze
Zeit gehustet hast.» Sogar mein bester
Freund Thomas sah sich das ganze Stück
an, zweieinhalb Stunden, und am Ende
sagte er: «Oah, das isch huere laeng gsi.»
Sonst nichts.
Als ich den Applaus hörte, wusste
ich, dass ich Schauspieler werden will.
Aber ich musste wieder zurück in die
Schule und fand sie noch schlimmer als
zuvor. Die Aufführungen gingen weiter.
An einem Tag stand ich auf der Bühne
und liess mich bewundern, am nächsten
hockte ich im Klassenzimmer und dachte: Was mache ich hier eigentlich? Doch
immerhin hatte ich jetzt ein Ziel. Ich trat
dann dem Schlachthaus Theater Bern bei
und nahm in der neunten Klasse am Casting für «Stationspiraten» teil. Nach dem
Schulabschluss entschied ich mich für
die Fachmittelschule Bern – die unterstützten mich sehr, und ich konnte während der drei Jahre dort die Filme «Stationspiraten» und «Verdingbub» drehen.
Letzten Sommer habe ich die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule
in Leipzig gemacht. Als die sieben Dozenten mich so streng anschauten, dachte ich kurz: Damals auf der Bühne des
Schauspielhauses hat es funktioniert –
warum nicht auch jetzt? Und tatsächlich
bin ich angenommen worden.
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